Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht – eine rechtliche Beurteilung
Die Nationale Strategie der Bundesregierung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben (NASAS) und ein Entschließungsantrag der Ampelkoalition im Bundestag sehen eine weitreichende rechtliche Implementation der sogenannten IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus als Regulierungsinstrument vor; Landtagsfraktionen planen offenbar ähnliches. Aus juristischer Sicht ist eine Implementierung der IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument aus folgenden Gründen problematisch, die unten ausgeführt werden:
- Die IHRA-Arbeitsdefinition ist ausdrücklich als nicht rechtsverbindlicher Text von der IHRA verabschiedet worden und auch nicht wie ein solcher formuliert. Sie dient dem Monitoring. Sie zum faktisch bindenden Text zu machen, geht gegen ihre Rechtsnatur. Sie ist viel zu unpräzise, um Rechtssicherheit zu erzeugen oder Behördenpraxis zu etablieren. Zudem ist der Status der elf Anwendungsbeispiele, die nicht zur Definition gehören, aber oft mit hinzugezogen werden, völlig unklar.
- Die Annahme der IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument würde teilweise weitreichende verfassungsrechtliche Verwerfungen erzeugen, die nicht überblickt werden können. Insbesondere ist eine darauf gestützte Behördenpraxis ganz unvorhersehbar. Erfahrungen aus Kontexten, in denen die IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument diente, zeigen, dass sie für erhebliche Einschränkungen von Grundrechten genutzt wird – sehr häufig auch gegen Juden, die die Politik der jeweiligen Regierung Israels kritisieren.
- Eine Annahme der IHRA-Arbeitsdefinition würde Verstöße gegen höherrangiges Recht, insbesondere das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention, nach sich ziehen oder zumindest wahrscheinlich machen. Das betrifft insbesondere das Recht der freien Meinungsäußerung und seine Anwendungen etwa im Versammlungsrecht und im politischen Strafrecht. Es betrifft auch die Kunstfreiheit, für die die IHRA-Arbeitsdefinition nicht passt, sowie die Freiheit von Forschung und Lehre.
- Die IHRA-Arbeitsdefinition zur prinzipiellen Grundlage von Förderungsrichtlinien zu machen, ist rechtlich problematisch. Offensichtlich ist das für die Forschungsförderung. Denn die Definition des Antisemitismus ist selbst Gegenstand der Wissenschaft; ihr kann eine bestimmte Definition nicht vorgeschrieben werden. Aber auch bei der Kunstfreiheit fragt sich, ab wann die Kunst nicht mehr „frei“ ist (wie das Grundgesetz fordert), weil eine zu extensive Nutzung der IHRA-Arbeitsdefinition und eine Selbstzensur auch dort eingreifen, wo es die Bekämpfung von Antisemitismus nicht mehr erfordert. Schließlich kann die Meinungsfreiheit betroffen sein, wenn früher in anderem Kontext gemachte Aussagen in die Beurteilung der Förderwürdigkeit mit einbezogen werden.
- Die IHRA-Definition ist für eine antidiskriminierungsrechtliche Bekämpfung von Antisemitismus nicht erforderlich; sie ist teilweise hinderlich für die wirksame Bekämpfung der Diskriminierung von Jüd:innen. Das Antidiskriminierungsrecht kennt keine vergleichbare staatliche Definition von Rassismus, Sexismus oder Homo- und Transphobie.
- Im Aufenthalts- und Asylrecht würde die Implementierung der IHRA-Definition erhebliche Probleme schaffen und kann zu Konflikten mit der Genfer Flüchtlingskonvention führen, die enge Voraussetzungen stellt.
Diese kurze vorläufige Handreichung beschränkt sich auf diese juristischen Fragen; eine inhaltliche Bewertung der IHRA-Arbeitsdefinition nimmt sie nicht vor. Die notwendige ausführliche juristische Beurteilung einer Implementation scheint in Deutschland noch nicht vorgenommen worden zu sein. Anders ist das in der Schweiz, wo zwei Wissenschaftlerinnen im Auftrag der Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Eidgenössischen Departements des Innern 2020 eine ausführliche Juristische Analyse der von der IHRA angenommenen Arbeitsdefinition von Antisemitismus erstellt und mehrere Problempunkte identifiziert haben.
1. Die IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument
Der Kampf gegen Antisemitismus ist wichtig. Die IHRA-Arbeitsdefinition, zu der sich der Bundestag 2019 in einer Resolution bekannt hat und die auch zentral für die NASAS ist, ist eines von mehreren Hilfsmitteln für das Monitoring von Antisemitismus. Nun soll sie nicht nur als Erkenntnis-, sondern auch als Regulierungsinstrument herangezogen werden. Dafür ist sie ungeeignet.
Was Antisemitismus ist, ist eine umstrittene Frage; die IHRA-Arbeitsdefinition liefert nur eine von mehreren diskutierten Antworten. Viele Antisemitismusforschende lehnen sie ab. Es gibt wenigstens zwei wissenschaftlich fundierte und unterstützte Alternativvorschläge: die Jerusalem Declaration on Antisemitism, die von mehr als zweihundert einschlägigen Wissenschaftler*innen aus Israel, den USA, Deutschland und anderen Ländern unterzeichnet wurde, sowie das Nexus Document, das vor allem von US-Wissenschaftler*innen entworfen wurde. Aus solchen Gründen verzichtet etwa die US National Strategy to Counter Antisemitism auf eine Festlegung auf eine bestimmte Definition.
Der Deutsche Bundestag kann sich selbst politisch zu einem bestimmten Verständnis von Antisemitismus bekennen. Er kann damit aber nicht amtlich vorschreiben, was in Wirklichkeit Antisemitismus ist. Wird von den Bürgerinnen und Bürgern verlangt, ihr Verhalten an dieses Verständnis anzupassen, so wird die IHRA-Arbeitsdefinition zum Regulierungsinstrument. Denn eine vom Staat vorgeschriebene Definition wird selbst zur Vorschrift: Sie beschreibt nicht mehr, was Antisemitismus ist, sondern schreibt vor, was unter Antisemitismus in einschlägigen Tatbeständen zu verstehen ist. Als Vorschrift muss sie grundrechtskonform sein.
Daran ändert nichts, dass die Implementierung in einer formal nicht bindenden Bundestagsresolution gefordert oder vorgenommen wird. Denn der Bundestag ist auch in schlichten Parlamentsbeschlüssen an Recht und Gesetz gebunden. Zudem zeigt die Erfahrung mit der BDS-Resolution 2019, dass auch nichtbindende Resolutionen faktisch von Behörden als Entscheidungsgrundlagen herangezogen werden. Damit besteht zum einen die Gefahr, dass Behörden sich auf die Resolution berufen und Entscheidungen treffen, die dann vor Gerichten keinen Bestand haben. Darüber hinaus kann eine solche Resolution einen “chilling effect” erzeugen und damit Rechtsunterworfene zur Selbstzensur, eventuell über das für die Antisemitismusbekämpfung angemessene Maß hinaus, bewegen.
Die IHRA-Arbeitsdefinition war indes bewusst nicht als bindendes Regulierungsinstrument gedacht. Sie wurde 2016 von der International Holocaust Remembrance Association ausdrücklich als “non-legally binding”, nicht rechtsverbindlich, angenommen. Ihr nun rechtliche Bindungswirkung beizumessen, liefe ihrem Selbstverständnis und der Einigung der IHRA-Mitgliedstaaten zuwider.
Die Arbeitsdefinition eignet sich auch in ihrer Formulierung nicht als Regulierungsinstrument. Sie ist dafür viel zu unpräzise. Antisemitismus definiert sie als “bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann”. Was diese “bestimmte Wahrnehmung” sein soll, was ihr Bezugspunkt ist, lässt der Text unklar. Zudem ist das bloße “kann” für die Rechtsanwendung untauglich, weil es keine Festlegung zulässt, wann dies zutrifft und wann nicht. Diese vage Formulierung eignet sich womöglich für Monitoring, aber nicht für Regulierung. Sie kann Rechtsunterworfenen wie Rechtsanwendern keine Rechtssicherheit bieten.
Der Umfang der Arbeitsdefinition ist unklar. Die IHRA selbst liefert elf konkrete Anwendungsbeispiele als “Illustration” der Definition. Diese sind nicht Teil der Definition, werden aber trotzdem oft so behandelt. Zudem macht die IHRA mit einer einleitenden Formulierung deutlich, dass nicht jedes Verhalten, das unter ein Beispiel fällt, deswegen schon antisemitisch ist: Die Beispiele “können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf beschränkt zu sein”. In der Debatte werden die Beispiele schon jetzt häufig so verwendet, als sei jeder darunter fallende Tatbestand automatisch antisemitisch. Die Unklarheit wird noch dadurch vergrößert, dass Bundesregierung und Bundestag bei ihrer Annahme der IHRA-Arbeitsdefinition eines dieser Beispiele mit aufgenommen haben, das Kritik an Israel betrifft, dabei aber den einschränkenden zweiten Satz dieses Beispiels weggelassen und dadurch den Inhalt verändert haben (näher Zechlin, Bl. Dtsch. Int. Polit. 2020, 103).
Der Fokus der Arbeitsdefinition und insbesondere der meisten Anwendungsbeispiele liegt auf der Frage, was sogenannter israelbezogener Antisemitismus ist, und vernachlässigt damit andere weit verbreitete Fälle des Antisemitismus. Für die Monitoringfunktion ist das vertretbar, weil es sich hier um die umstrittensten Fälle handelt. Wird sie aber als Regulierungsinstrument eingesetzt, so droht damit eine einseitige Behördenpraxis, die wichtige Bereiche der Antisemitismusbeämpfung vernachlässigt und damit jüdisches Leben nicht umfassend wirksam schützt.
Erfahrungen mit der Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition in anderen Zusammenhängen zeigen, dass sie oft sehr extensiv eingesetzt wird, und zwar sehr häufig auch gegen jüdische Gruppen. Ein Bericht des European Legal Support Center vom Juni 2023 listet zahlreiche solcher Fälle auf.
2. Meinungsfreiheit
Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist “schlechthin konstituierend” für die freiheitlich-demokratische Grundordnung (BVerfGE 7, 198, 208 – Lüth). Sein Schutzbereich ist entsprechend weit. Nur erwiesenermaßen unwahre Tatsachenbehauptungen – wie etwa die Holocaustleugnung – fallen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus. Daher berührt die IHRA-Definition auch grundrechtlich geschützte Meinungsäußerungen. Welche genau, ist aber angesichts ihrer Unschärfe schwer zu bestimmen. Das wird vor allem dann zu einem verfassungsrechtlichen Problem, wenn diese Definition zum Anknüpfungspunkt der Arbeit von Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden gemacht wird. Denn Grundrechtsbeschränkungen müssen das Bestimmtheitsgebot beachten, um verfassungsmäßig zu sein.
Im Lichte der Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit muss zunächst stets geprüft werden, ob die umstrittene Aussage auch in einem Sinn ausgelegt werden kann, der nicht strafbar oder anderweitig unzulässig ist. Solche Auslegungen können nur dann ausgeschieden werden, wenn sie sich nach hinreichender Würdigung im konkreten Fall als unplausibel erweisen. Das bedeutet, dass Verhaltensweisen, die unter Beispiele zur IHRA-Definition fallen und danach “unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts” als antisemitisch gelten “können”, nicht schon an sich als antisemitisch angesehen werden dürfen, sondern es grundrechtlich geboten ist, mögliche weitere Aussagegehalte zu ermitteln. Die rechtliche Einschätzung von Äußerungen muss somit nach Maßgabe der Meinungsfreiheit deutlich vorsichtiger ausfallen als ihre politische Einordnung. Das gilt auch für auslegungsfähige Slogans wie “From the river to the sea”; dessen mögliche Auslegung als bloße Forderung nach Demokratie und Gleichberechtigung muss rechtlich zugrunde gelegt werden, wenn sie nicht im konkreten Fall völlig unplausibel ist. Diese Maßstäbe sind auch bei der Anwendung des Begriffs “antisemitisch” im Gesetz zu beachten (§ 46 Abs. 2 Satz 2 StGB; geplant in § 10 StAG durch das StARModG, Drs. 20/9044).
Beschränkungen der Meinungsfreiheit sind nach Art. 5 Abs. 2 GG in Form “allgemeiner Gesetze” möglich. Ausgeschlossen sind damit Beschränkungen, die sich gegen eine bestimmte politische Auffassung richten. Die einzig anerkannten Ausnahmen betreffen die Holocaust-Leugnung (§ 130 Abs. 3 StGB; dort bereits Schutzbereichsausschluss, s.o.) und die öffentliche Billigung von Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus (§ 130 Abs. 4 StGB). Mit dem Erfordernis eines “all