Die Frage nach dem Vertrauen
Warum das Taktieren mit der Vertrauensfrage zum verfassungsrechtlichen Problem werden könnte
Schon kurz nach Ende der Koalition stand für Bundeskanzler Olaf Scholz und für alle im Bundestag vertretenen Parteien fest, dass es Neuwahlen über den Weg der Vertrauensfrage bedarf; nur der Zeitpunkt war lange umstritten – nun einigte man sich auf den 16.12.2024. Dieses einmütige und scheinbar alternativlose Vorgehen ist jedenfalls bemerkenswert. Denn hinter der knappen Norm des Art. 68 GG stehen einige Fragen grundsätzlicher Natur, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Geschichte bereits zweimal beschäftigt haben. Dass Scholz mit der Vertrauensfrage politisch taktiert, dürfte die Grenzen der bisherigen Rechtsprechung sichtbar machen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es auch im kommenden Jahr zu einer weiteren Entscheidung des BVerfG in dieser Sache („Vertrauensfrage III“) kommen wird, zumal die Hürden für ein Organstreitverfahren sehr niedrig sind.
Zur Geschichte der Vertrauensfrage
Das Grundgesetz kennt kein Selbstauflösungsrecht des Bundestags, sondern legt die Möglichkeit der Auflösung in die Hände von mehreren Verfassungsorganen. So kann der Bundeskanzler zur Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten die sog. Vertrauensfrage stellen und diese verlieren (Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG). Die echte Vertrauensfrage ist neben dem konstruktiven Misstrauensvotum in Art. 67 GG das bedeutendste Sicherungsmittel zur Herstellung bzw. Aufrechterhaltung handlungsfähiger Regierungen (vgl. dazu auch den Gesetzgebungsnotstand gem. Art. 81 GG). Sie wurde von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes nach den Erfahrungen mit instabilen Regierungen während der Zeit der Weimarer Reichsverfassung eingeführt, um das Parlament disziplinieren zu können. In der Geschichte der Bundesrepublik kam es bislang zu fünf Vertrauensfragen (Brandt 1972, Schmidt 1982, Kohl 1982, Schröder [zweimal: 2001 und 2005]), von denen zwei positiv beantworten wurden (Schmidt und Schröder 2001); in den anderen Fällen folgten Neuwahlen. Da letztere Anträge bewusst darauf gerichtet waren, Neuwahlen herbeizuführen, spricht man in diesen Fällen von einer unechten, auflösungsgerichteten Vertrauensfrage.
Die unechte Vertrauensfrage ist dem Grundgesetz zunächst fremd, weil Art. 68 Abs. 1 S. 1 selbst von dem Antrag des Bundeskanzlers ausgeht, ihm das Vertrauen positiv auszusprechen (vgl. so die Formulierung in BT-Drs. 15/5825, S. 1). Der Wortlaut der Regelung sieht nicht vor, dass der Bundeskanzler den Antrag stellt, ihm das Misstrauen auszusprechen. Dies ist auch mit dem Regelungskonzept des Grundgesetzes vereinbar (und führt nicht etwa zur Lähmung des Parlamentsbetriebs), weil dem Bundeskanzler, dem offenkundig und nachhaltig die Mehrheit weggebrochen ist, der Rücktritt offensteht; Neuwahlen wären dann nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG herbeizuführen, wenn die Wahlgänge offenbart haben, dass kein Kandidiere/r die Mehrheit i.S.d. Art. 63 Abs. 2 S. 1 GG auf sich zu vereinen vermag (diese Vorgehensweise hatte Schröder 2005 abgelehnt, weil es „der Würde des Hohen Hauses nicht angemessen sei“ [Plenarprotokoll 15/185, S. 17466]). Die Vertrauensfragen von Kohl 1982 und Schröder 2005 haben dabei das BVerfG beschäftigt (Vertrauensfrage I, Vertrauensfrage II), das sichtlich um klare Maßstäbe ringen musste.
1983: Vertrauensfrage I
Das BVerfG musste sich nach einer Organklage von vier Abgeordneten des Bundestags 1983 erstmals mit der Vertrauensfrage auseinandersetzen. Geltend gemacht wurde eine Verkürzung der Legislaturperiode gem. Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG und eine damit einhergehende Verletzung des Rechts aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Die Entscheidung erging im Ergebnis mit 6:2 und in den maßstabsbildenden Gründen zur Begründetheit1) mit 7:1 Stimmen; drei Richter gaben umfangreiche Sondervoten ab. Die Senatsmehrheit setzte sich maßgeblich mit der umstrittenen Frage auseinander, ob dem Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG über seinen Wortlaut hinaus noch weitere Tatbestandsmerkmale zu entnehmen sind (BVerfG 1983, Rn. 104 ff.). Das BVerfG argumentiert, dass es sich bei Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG um eine „offene Vorschrift“ handele (Rn. 109), deren Sinn sich erst aus „ihrer Stellung und ihrem Stellenwert im gesamten Verfassungsgefüge“ ergebe (Rn. 109). Aus der normativen Zusammenschau der grundgesetzlichen Regelungen im VI. Abschnitt folge daher, dass Art. 68 GG „stets eine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag voraussetzt und als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal erfordert, daß der Bundeskanzler der stetigen parlamentarischen Unterstützung durch die Mehrheit des Bundestages nicht sicher sein kann“ (Rn. 118, vgl. auch Rn. 122 f.). Dem Bundeskanzler sei es daher verwehrt, über das Instrument der Vertrauensfrage nach freiem Belieben über die Auflösung des Bundestages zu verfügen (Rn. 119). Für dieses Ergebnis spreche auch die Entstehungsgeschichte des Art. 68 GG (dazu Rn. 124 ff.). Ob das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal im Einzelfall vorliege, obliege der Prüfung des Bundeskanzlers, des Bundestages und des Bundespräsidenten. Letzterer trifft die „politische Leitentscheidung“ darüber, ob die Auflösung des Bundestages „sinnvoll ist und von ihm politisch vertreten werden kann“ (Rn. 136). Mit den damit einhergehenden „Gestaltungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielräumen“ (Rn. 139, ähnlich Rn. 141) korrespondiert eine zurückhaltende Kontrolle des BVerfG, weil das Grundgesetz auf das in Art. 68 GG „selbst angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten politischen Verfassungsorganen“ vertraue (Rn. 141). Nach diesen Maßstäben seien die Anträge unbegründet gewesen, weil die Verfassungsorgane ohne Verfassungsverletzungen zu der Entscheidung gelangt seien, dass der Bundeskanzler „eine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik künftig nicht mehr sinnvoll verfolgen“ könne (Rn. 143).
2005: Vertrauensfrage II
Nach der zweiten Vertrauensfrage in der Amtszeit von Schröder musste sich das BVerfG abermals mit der Vertrauensfrage auseinandersetzen und erhielt die Gelegenheit, die 1983 gebildeten Maßstäbe zu konkretisieren (Vertrauensfrage II). Dabei hielt es vollständig an seiner Rechtsprechung fest. Die Entscheidung erging im maßstabsbildenden Teil C.II. mit 5:3, im Ergebnis mit 7:1 Stimmen. Zwei Sondervoten unterstreichen, dass auch 20 Jahre später die Maßstäbe nicht unumstritten waren. Die Senatsmehrheit bekräftigte zunächst den Ausgangspunkt der Rechtsprechung, wonach eine „berechtigte Einschätzung des Bundeskanzlers, die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung im Hinblick auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sei beeinträchtigt“ erforderlich, aber auch ausreichend sei (BVerfG 2005, Rn. 138). Eine politische Lage der Instabilität sei „zweifellos“ dann gegeben, „wenn der Kanzler seine bisherige Mehrheit im Deutschen Bundestag durch Fraktionswechsel einzelner Abgeordneter“ verloren habe (Rn. 145). Das BVerfG konkretisiert im Folgenden seinen eingeschränkten Prüfungsmaßstab und konstatiert zunächst, dass die den Verfassungsorganen obliegenden Einschätzungen „Prognosecharakter [haben und] an höchstpersönliche Wahrnehmungen und abwägende Lagebeurteilungen gebunden [sind]“ (Rn. 149). Eine verfassungsgerichtliche Prüfung in klaren Fällen sei nicht notwendig, etwa dann, wenn eine Mehrheit „sich offen und andauernd obstruktiv verhält und deutlich erklärt, zum Bundeskanzler kein Vertrauen mehr zu haben“ (Rn. 150) oder in der bereits soeben beschriebenen Konstellation, dass die Mehrheit durch Veränderungen in der Koalitionsstruktur verloren geht. Problematisch sei nur der Fall, wenn der Bundeskanzler die fehlende Mehrheit bereits annehme, bevor diese in Abstimmungsniederlagen offenkundig geworden sei (Rn. 152). Die Senatsmehrheit spricht in diesen Fällen von einer „verdeckte[n] Minderheitssituation“ (Rn. 153). Hier stoße die gerichtliche Kontrolle an ihre Grenzen. Es prüft in diesen Fällen, „ob die Grenzen seines Einschätzungsspielraums eingehalten sind“ (Rn. 161). Dabei sind die politische Gesamtlage und auf Tatsachen gestützte Anhaltspunkte dafür, dass der Bundeskanzler die Mehrheit für seine politische Gestaltungsmacht verloren hat, in den Blick zu nehmen, wobei die Schlüsse des Bundeskanzlers nicht zwingend, sondern nur plausibel erscheinen müssen (Rn. 161). Der Einschätzungsspielraum sei jedoch dann überschritten, wenn „eine andere Einschätzung der politischen Lage auf Grund von Tatsachen eindeutig vorzuziehen ist“ (Rn. 161). Der gegenteilige Schluss muss zwingend sein (Rn. 161). Das BVerfG schreibt sich selbst eine beschränkte Amtsermittlungspflicht zu (Rn. 162). Schließlich betont das BVerfG, dass der Bundeskanzler eine Prognoseentscheidung trifft und tatsächliche Entwicklungen nach der Ankündigung, die Vertrauensfrage zu stellen, „möglicherweise“ keinen Einfluss auf die Plausibilität der Einschätzung hat (Rn. 163).
2025: Vertrauensfrage III?
Es ist nicht ausgeschlossen, dass das BVerfG im kommenden Jahr wieder mit der Verfassungsmäßigkeit der Anordnung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, beschäftigt sein wird. Denn dafür reicht der Antrag eines bzw. einer einzigen Abgeordneten aus (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG). Die in den bislang fünf Sondervoten zutage getretenen Auffassungen zeigen anschaulich, dass die Maßstäbe alles andere als unumstößlich sind.
Es lohnt sich daher, die Sondervoten in den Blick zu nehmen. Sie können unterschiedlichen Lagern zugewiesen werden: Rinck (1983), Rottmann (1983) und Jentsch (2005) hielten die Anträge für begründet und sahen das Recht der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG durch den jeweiligen Antragsgegner als verletzt an. Sie nahmen an, dass das notwendig zu prüfende, ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der materiellen Auflösungslage nicht gegeben war, weil der Bundeskanzler in den zu entscheidenden Fällen jeweils über die Mehrheit im Bundestag verfügte. Jentsch führte prägnant aus, dass das Grundgesetz lediglich ein konstruktives Misstrauensvotum, nicht aber ein ‚„konstruiertes Misstrauen“‘ gegenüber dem Parlament (Rn. 189) kenne. Zeidler (1983) erkannte das zusätzliche Tatbestandsmerkmal zwar ebenfalls an, hielt die Anträge aber dennoch für unbegründet, weil die Entscheidung des Bundespräsidenten einer Überprüfung durch das BVerfG nicht zugänglich sei (Rn. 205). Lübbe-Wolff (2005) schließlich hielt die Anträge bereits deshalb für unbegründet, weil dem Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG über seinen Wortlaut hinaus kein Tatbestandsmerkmal zu entnehmen sei.
Besonderes Augenmerk verdient das Sondervotum von Lübbe-Wolff (Rn. 213 ff.), die dafür plädiert, auf ein zusätzliches, materielles Tatbestandsmerkmal gänzlich zu verzichten. Sie argumentiert damit, dass die Vertrauensfrage „wie die Frage vor dem Traualtar, keine Wissensfrage [sei], auf die ebensogut wie der Gefragte oder besser ein Anderer antworten könnte“ (Rn. 213). Vielmehr frage auch der Bundeskanzler „nicht nach einem Wissen, sondern nach dem Willen des Parlaments und der Abgeordneten“ (Rn. 213). Die Vertrauensfrage könne daher nur vom Parlament selbst beantwortet werden.
Taktieren mit der Vertrauensfrage als verfassungsrechtliche Problem?
Das BVerfG müsste im Fall einer erneuten Befassung zunächst prüfen, ob es an den bisherigen – entscheidungstragenden – Maßstäben festhält. Sollte dies der Fall sein, muss der Zweite Senat unter Anerkennung des eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstabs prüfen, ob eine politische Instabilität bzw. Auflösungslage als zusätzliche, materielle Voraussetzung des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG gegeben ist.
Soweit er sich nicht auf die formale Betrachtung zurückzieht2), die Regierung habe rechnerisch ihre Mehrheit im Bundestag verloren, müsste er sich die politische Gesamtlage genau anschauen. Diese unterscheidet sich von den bisher zu entscheidenden Fällen dadurch, dass die von dem Bundeskanzler nunmehr angeführte Koalition die Mehrheit zwar verloren hat, andere Möglichkeiten der Herstellung einer stabilen Regierungsmehrheit jedoch nicht in Erwägung gezogen worden sind. Es fehlt insoweit (bislang) auch an Abstimmungsniederlagen. Es ist durchaus diskussionswürdig, ob allein die Stellung als „Minderheitenkanzler“ ausreichend ist, um eine politische Instabilität zu bejahen. Dagegen spricht etwa, dass nach der Bundestagswahl 2021 auch die Option einer rot-grün geführten Minderheitsregierung ernstlich diskutiert wurde (zur Minderheitsregierung instruktiv Fisahn). Überdies hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 13.11.2024 die Handlungsfähigkeit des Parlaments bekräftigt (vgl. 1:30).
Bereits unmittelbar nach Zusammenbruch der Ampel hat der Bundeskanzler signalisiert, dass er den Zeitpunkt, wann er die Vertrauensfrage stellen werde, davon abhängig machen möchte, ob er für Gesetzesentwürfe, die „keinerlei Aufschub“ duldeten (siehe dazu hier) noch die Mehrheit im Parlament erhalte. Der Bundeskanzler nutzte und nutzt das Instrument der Vertrauensfrage daher auch, um politisch zu taktieren. Verfassungsrechtlich problematisch ist dies, weil er das Instrument der Vertrauensfrage, das zur Disziplinierung des Parlaments konzipiert wurde, damit ad absurdum zu führen droht. „Disziplinieren“ in der Vorstellung der Verfassungsgesetzgebers heißt nämlich, dass der Bundeskanzler mithilfe der Vertrauensfrage die Reihen hinter sich schließt, um stabil weiter zu regieren. Vorliegend geht es aber gar nicht um ein „Weiterregieren“, weil die Herbeiführung von Neuwahlen bereits beschlossene Sache ist. Das führt zu einem Widerspruch: Geht die politische Taktik des Bundeskanzlers nämlich auf, erhält er für aus seiner Sicht wichtige Gesetzesvorhaben die Parlamentsmehrheit und kann sich nicht per se auf eine politische Instabilität berufen. Bei objektivierter Betrachtung kann sich die (Minderheits-)Regierung dann noch auf eine sie tragende Mehrheit stützen, zumal die FDP, aber auch die Union signalisierte, bei einigen Gesetzesvorhaben ihre Zustimmung zu erteilen; letztere aber macht dies davon abhängig, dass die Vertrauensfrage tatsächlich gestellt wird.
Der Bundespräsident (und ggf. das BVerfG) müsste dann entscheiden, welchen Stellenwert er dem materiellen Kriterium der Auflösungslage dann überhaupt beimisst. Bei der „Festlegung“ der Neuwahl am 23.2.2025 wird allzu oft vergessen, dass dem Bundespräsidenten bei der Entscheidung, ob er den Bundestag auflöst, ein Ermessensspielraum zukommt; insoweit hat er eine „echte politische Reservekompetenz[]“ (siehe dazu Thiele).
Schluss
Unabhängig davon, ob das BVerfG eine Entscheidung treffen muss oder nicht: Der sofort gefasste Entschluss über das Stellen der Vertrauensfrage und die Herbeiführung von Neuwahlen, ohne überhaupt andere Sicherungsmechanismen zur Herstellung einer handlungsfähigen Regierung ernstlich in Betracht zu ziehen, schwächt die Stellung des Parlaments und der Abgeordneten, deren Wahlperiode damit verkürzt wird. Die Auflösung des Parlaments sollte gerade in Zeiten schwankender Mehrheiten das bleiben, was die Mütter und Väter des Grundgesetzes vor Augen hatten: ultima ratio.