Die Freiheit der Anderen
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz ist ein rechtspolitisch wichtiges Signal, auf das die Politik umgehend reagiert hat. Doch so wünschenswert es aus rechtspolitischer Sicht auch sein mag, so unklar sind die grundrechtsdogmatischen Implikationen. Hierzu einige – eher skizzenhafte – Überlegungen.
Im Ausgangspunkt sei daran erinnert, dass das Grundgesetz eine betont freiheitliche Verfassung ist. Das zeigt sich allein schon daran, dass es nicht wie die Weimarer Reichsverfassung von den „Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen“ spricht, sondern allein von den „Grundrechten“, welche zudem programmatisch an den Beginn der Verfassung gestellt wurden, anders als zu Weimarer Zeiten, wo die Grundrechte erst im „Zweiten Hauptteil“ auftauchten.
Verfassungsimmanente Schranken
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben die Grundrechte mit einem ausdifferenzierten System von Grundrechtsschranken versehen. Damit mag man seinerzeit die Erwartung verbunden haben, dass über das Ausmaß an grundrechtlicher Freiheitsgewährleistung bereits verfassungskräftig entschieden worden sei: Grundrechte mit einfachem Gesetzesvorbehalt seien eher Einschränkungen zugänglich als solche mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt oder gar vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte. Wir alle wissen, dass sich diese Erwartung nicht erfüllt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Rechtsfigur der verfassungsimmanenten Schranken ein Instrument gefunden, mit dem das vermeintlich austarierte System an Grundrechtsschranken überspielt wurde.
Diese Rechtsprechung ist uns heutzutage so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir sie nicht in Frage stellen. Immerhin mag man aber darauf hinweisen, dass andere Gerichte wie z.B. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) diese Rechtsfigur bis heute nicht übernommen haben. Abwägungen zwischen betroffenen Grundrechtsgütern finden hier nach wie vor allein im Rahmen der jeweiligen Schrankenklausel (wie etwa Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 EMRK usw.) statt, nicht im Wege direkter Abwägung Menschenrecht gegen Menschenrecht. Das hat den EGMR in Einzelfällen zu gewissen interpretatorischen Klimmzügen veranlasst, was aber schlicht dem Umstand geschuldet war, dass eine freihändige Abwägung Grundrecht gegen Grundrecht (bzw. gegen sonstiges Rechtsgut von Verfassungsrang) wie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht unbekannt ist1).
Im Ergebnis hat die Anerkennung verfassungsimmanenter Schranken durch das Bundesverfassungsgericht zu einer Verkürzung der Freiheitssphären geführt: Statt eine Einschränkung von Freiheit nur unter dem Normprogramm der jeweiligen Schrankenklausel zuzulassen, ist sie in wesentlich größerem Umfang und unter Berufung auf Grundrechte Dritter oder sonstige Rechtsgüter von Verfassungsrang relativ leicht möglich. Ich will das hier nicht kritisieren, da sich diese über viele Jahrzehnte gewachsene Rechtsprechung ganz gewiss bewährt hat. Vom grundrechtsdogmatischen Ausgangspunkt her sollten wir uns aber über die freiheitsbeschränkende Wirkung der verfassungsimmanenten Schranken im Klaren sein.
Umgang mit intertemporalen Grundrechtseingriffen
In seinem Klimaschutzbeschluss ist das Bundesverfassungsgericht einen bedeutenden Schritt weiter gegangen. Es hat gewissermaßen eine neue Grundrechtsdimension anerkannt: Neben die bisherigen Dimensionen der Freiheitsgrundrechte wie namentlich Abwehrrechten oder Schutzpflichten tritt nun, als weitere Dimension, die „intertemporale Freiheitssicherung“ (Leitsatz 4). Das erscheint mir als etwas qualitativ Neues. Angesichts der bei Entscheidungen aus Karlsruhe sonst üblichen Begründungstiefe muss vor allem überraschen, was das Bundesverfassungsgericht rechtsdogmatisch nicht begründet. Insofern kann man nur mutmaßen, dass die Einstimmigkeit der Entscheidung möglicherweise allein um den Preis von Auslassungen möglich war. Zwei Aspekte möchte ich besonders hervorheben:
Sperrwirkung der Schutzpflichtendimension?
Als erstes springt der Umstand ins Auge, dass das Bundesverfassungsgericht eine Schutzpflichtverletzung unter Berufung auf die weiten gesetzgeberischen Spielräume explizit verneint (Rn. 165, 168, 172), eine Verletzung der Grundrechte in ihrer Funktion als „intertemporale Freiheitssicherung“ hingegen bejaht (Rn. 182 ff.). Diese „Vorwirkung auf künftige Freiheit“ (Rn. 116) wird damit begründet, dass bei heute unzureichenden Maßnahmen die Beschwerdeführer „nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sein können“ (Rn. 117). Hier und an anderen Stellen betont das Bundesverfassungsgericht jeweils sehr stark die abwehrrechtliche Komponente der Grundrechte in dem Sinne, dass künftige Freiheitsverkürzungen bei heute unzureichenden Maßnahmen in Zukunft unumgänglich sein werden. Mein Eindruck ist, dass diese Konstruktion gezielt gewählt worden ist. Sie soll zum einen vermeiden, sich zur Verneinung der Schutzpflichtverletzung in Widerspruch zu setzen (inwiefern das gelingt – dazu gleich). Zum anderen führt sie zu einem strengeren Prüfungsmaßstab, weil bei den Abwehrrechten das Übermaß- und nicht wie bei den Schutzpflichten das bloße Untermaßverbot gilt.
Doch geht es hier wirklich um die Abwehrdimension gegen (zukünftige) Grundrechtseingriffe? Die Grundrechtsgefährdungen, die der Klimawandel verursacht, sind ja nicht solche des Staates (der Staat hat gewiss in der Vergangenheit mit zum Klimawandel beigetragen, die Gefährdungen als solche gehen aber von den Umweltveränderungen aus). Der Staat reagiert zwar möglicherweise mit Freiheitsbeschränkungen, tut das dann aber letztlich zur Erfüllung seiner Schutzpflicht für die Grundrechte. Das taucht in dem Beschluss an eher versteckter Stelle auf, wenn es heißt, das Maß an zumutbaren Einschränkungen würde durch das verfassungsrechtliche Klimaschutzgebot aus Art. 20a GG, „verstärkt durch gleichgelagerte Schutzgebote aus den Grundrechten“, bestimmt (Rn. 117; siehe auch Rn. 185). Wenn es hier also letztlich um die Schutzpflichtendimension der Grundrechte geht, muss dann nicht die Verneinung der Schutzpflichtverletzung hic et nunc eine Art Sperrwirkung hinsichtlich der Verletzung in der Zukunft entfalten?
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts lässt sich freilich noch in einem anderen Sinne deuten. Nach dieser alternativen Lesart geht es weniger um den Schutz gegen künftige Freiheitseingriffe seitens des Staates, sondern eher um das Unterlassen ausreichender gesetzlicher Regelungen hier und jetzt, wodurch die Reduktionslast in unzumutbarer Art und Weise in die Zukunft verschoben wird. In diese Richtung könnten die Ausführungen in Rn. 186 zu verstehen sein, wonach die bisherigen Vorschriften über die Zulassung von CO2-Emissionen „eine unumkehrbar angelegte rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit [begründen], weil sich mit jeder CO2-Emissionsmenge, die heute zugelassen wird, das verfassungsrechtlich vorgezeichnete Restbudget irreversibel verkleinert und CO2-relevanter Freiheitsgebrauch stärkeren, verfassungsrechtlich gebotenen Restriktionen ausgesetzt sein wird“. Im Vordergrund stünde danach die unzureichende Reduzierung von Treibhausgasen durch den Gesetzgeber, also ein Eingriff durch Unterlassen. Jenseits aller Diskussionen um echte oder unechte Normerlassklagen könnte vorliegend ein Eingriff durch Unterlassen gesetzlicher Regelung wiederum nur bei Bestehen einer entsprechenden verfassungsrechtlichen Verpflichtung bejaht werden – womit wir wieder bei den Schutzpflichten, ggf. in Verbindung mit Art. 20a GG, angekommen wären.
Die Diffusion des Grundrechtsschutzes
Eine zweite Besonderheit sticht hervor. Während das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflichtverletzung an konkrete Grundrechte (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 GG) rückbindet, erfolgt die Prüfung der „intertemporale Freiheitssicherung“ pauschal im Hinblick auf sämtliche Freiheitsrechte. Denn: „Potenziell betroffen ist praktisch jegliche Freiheit, weil heute nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden sind“ (Rn. 117). Oder, gleichsinnig, in der Begründetheit: „Der Gesetzgeber hat […] Grundrechte verletzt, weil er keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen hat, die ‒ wegen der gesetzlich bis 2030 zugelassenen Emissionen in späteren Zeiträumen möglicherweise sehr hohen ‒ Emissionsminderungspflichten grundrechtsschonend zu bewältigen.“ Insoweit seien die einzeln aufgeführten Beschwerdeführer „schon jetzt in ihren Grundrechten“ verletzt (Rn. 182). Welche Grundrechte das im Einzelnen sind, erfährt man nicht (und kann man wegen des spekulativen Charakters wohl auch nicht erfahren).
Auch das erscheint mir als etwas qualitativ Neues. Während wir bisher gewöhnt waren, im Rahmen der verfassungsimmanenten Schranken jeweils konkret betroffene Grundrechtsgüter gegeneinander abzuwägen, erfolgt hier die Abwägung pauschal mit – in der Zukunft möglicherweise verletzten – Freiheitsrechten. Welche Implikationen das für die Grundrechtsprüfung allgemein hat, ist derzeit noch nicht abschätzbar. Müssen wir künftig im Rahmen der grundrechtlichen Abwägung auch alle potenziellen Auswirkungen in der Zeit mitberücksichtigen? Natürlich hat das Bundesverfassungsgericht ausreichend Kautelen eingebaut, indem es betont, das Grundgesetz verpflichte „unter bestimmten Voraussetzungen“ zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit (Leitsatz 4). Und natürlich haben wir mit Art. 20a GG eine zusätzliche verfassungsrechtliche Verankerung, die zugleich eine unkontrollierbare Ausweitung auf andere Bereiche verhindern mag. Die dahinter liegende allgemeine grundrechtsdogmatische Frage bleibt aber, und so ist auch schon zu Recht gefragt worden, welche Konsequenzen der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts z.B. für die generationenübergreifende Gerechtigkeit im Bereich der sozialen Sicherungssysteme oder der Staatsverschuldung hat (hier und hier).
Nun ist der Gedanke, dass bei bestimmten irreversiblen Entscheidungen künftiger verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz zu spät kommen könnte und dieser daher vorverlagert werden muss, keineswegs neu. Er begegnet uns beispielsweise beim Institut der enteignungsrechtlichen Vorwirkung – auch ohne aktuellen Entzug des Eigentums wird doch „für das weitere Verfahren verbindlich über die Verwirklichung [eines] Vorhabens unter Inanspruchnahme fremden Eigentums“ entschieden2) mit der Konsequenz, dass die Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf Art. 14 Abs. 1 GG schon zum früheren Zeitpunkt zulässig ist. Allerdings geht es hier um ein konkret benennbares Grundrecht, und auch die Auswirkungen hierauf sind eindeutig beschreibbar. Das unterscheidet die Situation der enteignungsrechtlichen Vorwirkung von der „intertemporale Freiheitssicherung“ im Sinne des Klimaschutzbeschlusses, die mit vielen Eventualitäten arbeitet („weil danach ab dem Jahr 2031 möglicherweise sehr große Treibhausgasminderungslasten auf sie zukommen“, Rn. 116).
Jedenfalls führt die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Erstreckung des Grundrechtsschutzes in die Zukunft zu einer weiteren Einschränkung des Freiheitsraums der Grundrechte. Diese können heute nicht mehr nur durch konkret benannte und aktuell betroffene Grundrechte Dritter eingeschränkt werden, sondern zugunsten des zukünftigen Freiheitsgebrauchs durch Dritte. Die besondere Tragweite dieser Entscheidung wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es nicht darum geht, ob der Gesetzgeber schon heute weitergehende Klimaschutzmaßnahmen ergreifen darf – das ist eine Frage, die am Maßstab der Schutzpflichtendimension der Grundrechte zu beantworten wäre –, sondern darum, ob der Gesetzgeber solche Maßnahmen ergreifen muss.3) Die grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre wird auf diese Weise verfassungsunmittelbar beschränkt.
Natürlich mag man all das mit den Besonderheiten des Klimaschutzes rechtfertigen. Und doch beunruhigt die gewisse Diffusität, die sich aus der Kombination von potentieller Freiheitsbeschränkung – deren Umfang ja heute noch keineswegs feststeht! – und pauschalem Grundrechtsbezug – potentiell betroffen sind sämtliche Freiheitsrechte – ergibt. Das mag im klimaschutzrechtlichen Kontext angemessen sein, birgt aber zugleich ein hohes Missbrauchsrisiko, wenn die dogmatische Konstruktion unbesehen auf andere Rechtsbereiche übertragen wird. In gewisser Weise werden die Grundrechte durch die Anerkennung der „eingriffsähnlichen Vorwirkung“ (Rn. 183) ein Stück weit zu Grundpflichten umfunktioniert, indem man beim Gebrauch der Grund- und Freiheitsrechte heute stets auch die Auswirkungen für den künftigen Freiheitsgebrauch anderer mitzuberücksichtigen hat. Dass all das in einem politischen Sinne sinnvoll und sogar wünschenswert ist, steht außer Frage. Ob das Verfassungsrecht der richtige Ort ist, hierüber zu entscheiden – daran habe ich nach der Lektüre der Entscheidung nach wie vor meine Zweifel.
References
↑1 | auf breite Kritik ist diesbezüglich die Rechtfertigung des französischen Verschleierungsverbots mit der Konstruktion des „living together“/„vivre ensemble“ als Recht Dritter i.S.d. Art. 8 Abs. 2 EMRK gestoßen, EGMR (GK), S.A.S. ./. Frankreich, Urteil vom 01.07.2014, Nr. 43835/11, Rn. 121 |
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↑2 | BVerfGE 74, 264 [282] |
↑3 | zu der auch aus meiner Sicht problematischen „Hochzonung“ des einfachrechtlichen Reduktionsziels auf die Ebene des Art. 20a GG siehe hier |