Keine Schutzpflicht vor zukünftigen Freiheitsbeschränkungen – warum eigentlich?
Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Klimaschutz-Beschluss vom 24.03.2021 die Verpflichtung für den Gesetzgeber auf, auch für nach 2030 Emissionsziele festzuschreiben. Insoweit das Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) dieses nicht schon heute tut, ist es verfassungswidrig. Dass Karlsruhe hierfür nicht die dogmatische Figur der Schutzpflicht heranzieht, hängt auch mit selbstauferlegten Zwängen des Gerichts zusammen. Dabei äußert sich im Klimabeschluss zugleich ein tieferliegendes Problem der Maßstabsbildung durch das Bundesverfassungsgericht. Denn das Gericht gerät in Konflikt mit seinen eigenen Maßstäben.
In seinem Beschluss zum Klimaschutz vom 24.03.2021 stellt das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit von § 3 Abs. 1 S. 2 KSG und § 4 Abs. 1 S. 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 fest. Es begründet sein Ergebnis damit, dass die betreffenden Normen keine „den grundrechtlichen Anforderungen genügende Regelung über die Fortschreibung der Minderungsziele für den Zeitraum ab 2031 bis zum Zeitpunkt der durch Art. 20a GG geforderten Klimaneutralität“ (Rn. 266) statuiert. Der Beschluss rief unmittelbar eine Vielzahl an Reaktionen hervor (exemplarisch auf dem Verfassungsblog hier, hier und hier).
Dogmatische Irrwege?
So begrüßenswert der Beschluss im Ergebnis ist, so unergründlich scheinen indes die dogmatischen Wege des Gerichts. So weist schon Buser in seinem Beitrag darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht jenseits „dogmatischer Gewissheiten“ implizit zwischen verschiedenen bekannten Kontrollmaßstäben wechselt. Letztlich entscheidet es sich für die Annahme einer „eingriffsähnlichen Vorwirkung“, die einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedürfe – und praktisch alle Grundrechte betreffe. Diese Vorwirkung verpflichte zur „verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitsrechten über die Generationen“ (Rn. 183). Darauf stützt es sodann auch die Pflicht des Gesetzgebers, die Minderungsziele für den Zeitraum nach 2030 festzuschreiben (Rn. 251 ff.). Der erste Senat nimmt hier also eine aus den Grundrechten folgende Verpflichtung zur Freiheitssicherung durch positives Handeln an. Die an dieser Stelle vielleicht zu erwartenden Maßstäbe zu verfassungsrechtlichen Schutzpflichten legt er in der Folge aber nicht an. Warum nicht?
Einen Erklärungsansatz liefert die Beobachtung, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidungsfindung regelmäßig mit seiner eigenen Maßstabsfindung in Konflikt gerät. Wie Lepsius schon 2011 festgestellt hat, führt die Maßstabsbildung des Bundesverfassungsgerichts zu einer wachsenden Selbstbindung (vgl. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Möllers et al., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 247 ff.). Durch die Vielzahl der selbstgesetzten Maßstäbe sieht sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidungsfindung entflexibilisiert und inhaltlich gebunden. So kann es sich mit der Situation konfrontiert sehen, dass die aus früheren Entscheidungen abstrahierten Maßstäbe den Weg zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben versperren, die es in einer Entscheidung treffen will.
Der Weg ist versperrt
Hinsichtlich der grundrechtlichen Schutzpflichten hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen eine Vielzahl von Maßstäben entwickelt. Aus diesem Kanon bedient sich der erste Senat im Klimaschutz-Beschluss jedoch nur, um zu begründen, warum die Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG nicht verletzt seien. Dabei macht der Senat deutlich, dass der Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf Schutzpflichten nach diesen Maßstäben limitiert ist. So wird in dem Beschluss unter anderem ausgeführt, dass „die Entscheidung, in welcher Weise Gefahren entgegengewirkt werden soll, die Aufstellung eines Schutzkonzepts und dessen normative Umsetzung […] Sache des Gesetzgebers“ seien (Rn. 152, st. Rspr.). Eine Verletzung der Schutzpflicht stelle das Bundesverfassungsgericht nur dann fest, „wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben“ (Rn. 152, st. Rspr.).
Genau in diesen Maßstäben liegt auch das Begründungsproblem des Bundesverfassungsgerichts im Klimaschutz-Beschluss. Denn gemessen an dem dargelegten Kontrollmaßstab erschiene eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Festlegung von Reduzierungszielen über das Jahr 2030 hinaus keineswegs so zwingend, wie es das Bundesverfassungsgericht schließlich postuliert. Mit § 4 Abs. 6 KSG enthält das Klimaschutzgesetz eine Regelung für die Fortschreibung der Reduzierungsziele. Eine Schutzpflichtverletzung durch völlige Untätigkeit scheidet insofern aus. Aufgrund der großen Prognoseunsicherheiten bezüglich des zur Verfügung stehenden Restbudgets sowie der Anpassungsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft, auf die das Bundesverfassungsgericht vielfach selbst verweist (z.B. Rn. 224 ff., 247 f.), ließe sich wohl auch keine offensichtliche Ungeeignetheit oder völlige Unzulänglichkeit feststellen. Ebenso wäre die Annahme eines erheblichen Verfehlens des Schutzzieles vor diesem Hintergrund fernliegend.
Der verfassungsrechtliche Gehalt des einfachen Rechts
So steht das (gewünschte) Ergebnis des Bundesverfassungsgerichts in Konflikt mit einem von ihm selbst gebildeten Maßstab. Als Ausweg aus diesem Konflikt hat das Bundesverfassungsgericht bisher verschiedene Ansätze erprobt. Lepsius beschreibt zum einen das Ausweichen auf „Folgerichtigkeit und andere methodische Maßstabsversuche“ (Lepsius, S. 247 ff.), zum anderen den „sachbereichsspezifischen Ausnahmemaßstab“ (Lepsius, S. 252 ff.). Gerade hinsichtlich der ersten Fallgruppe verweist Lepsius darauf, dass im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Steuergesetzgebung einfachrechtliche Normen zu verfassungsrechtlichen Maßstäben erhoben werden. Das eröffne dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit, die innere Systemgerechtigkeit des einfachen Rechts zu überprüfen. Einzelne Wertungen des einfachen Rechts werden also mit Verfassungsrang versehen, um sie anschließend als Kontrollmaßstab für andere einfachrechtliche Vorschriften heranziehen zu können. Eine vergleichbare Konstellation konstruiert das Gericht nun auch im Klimaschutz-Beschluss. Indem es die einfachgesetzlich (und völkervertraglich) festgelegten Temperaturziele aus § 1 S. 3 KSG zum Maßstab des Art. 20a GG erhebt, schafft es sich seinen verfassungsrechtlichen Prüfungsrahmen erst selbst (Rn. 208 ff., insb. Rn. 210). Dies gelingt durch eine Unterscheidung des verfassungskonkretisierenden Gehalts von § 1 S. 3 KSG von dem daran zu messenden einfachgesetzlichen Gehalt von § 3 Abs. 1 S. 2 KSG und § 4 Abs. 1 S. 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 (Rn. 213).
Erst diese Erhebung der Temperaturziele zum verfassungsrechtlichen Maßstab erlaubt die spätere Konstruktion, nach der die Umsetzung der Temperaturziele in Emissionsziele nur bei einer ausgewogenen Fortschreibung der Emissionsziele auch über das Jahr 2030 hinaus gerechtfertigt wäre. Das Bundesverfassungsgericht erschafft sich einen Maßstab, an dem es die Maßnahmen im Rahmen einer abwehrrechtlichen Kontrolle und darin am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit überprüfen kann. Diese Rechtfertigungsprüfung wird dann durch die „eingriffsähnliche Vorwirkung“ eröffnet. So schafft es sich die Möglichkeit, den starren Maßstäben der Schutzpflichtdogmatik und deren Einschränkungen bezüglich des eigenen Prüfungsmaßstabs zu entkommen. Stattdessen kann das Bundesverfassungsgericht den Verfassungsverstoß nun im Rahmen einer Prüfung der Verletzung „sämtliche[r] menschliche[r] Freiheitsbetätigungen“ (Rn. 184) und als Verpflichtung aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Rn. 243) feststellen.
Im Zwielicht zwischen Verfassung und Gesetz
Ein solches Vorgehen wirft Folgefragen auf, die hier abschließend unter Rückgriff auf Lepsius’ Gedanken zur Maßstabsbildung nur skizziert seien. Einerseits stellt sich die Frage, ob ein solches Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts im institutionellen Kontext begrüßenswert ist. Mit Blick auf die Steuergesetzgebung stellt Lepsius dabei infrage, ob der Zugriff auf die jeweilige Materie lieber dem politischen Prozess und nicht der Verfassungsgerichtsbarkeit überlassen sein soll. Dabei stellt er bezüglich der Steuergesetzgebung darauf ab, dass der politische Prozess hier besonders gut dafür geeignet sei, die widerstreitenden Interessen abzubilden und auszugleichen (Lepsius, S. 250 f.). Das kann man hinsichtlich des Klimaschutzes mit Fug und Recht anders sehen. So betont etwa auch das Bundesverfassungsgericht die mangelnde Repräsentation zukünftiger Interessen im vergleichsweise kurzlebigen politischen Prozess (vgl. Rn. 206). Indem das Bundesverfassungsgericht demokratische Mehrheitsentscheidungen an – im politischen Prozess nicht adäquat abgebildeten – zukünftigen individuellen Freiheiten misst, entsteht ein Konflikt zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht, der sich als ein Fall sog. counter-majoritarian difficulty beschreiben lässt. Zugleich versucht das Gericht, diesem Konflikt dadurch auszuweichen, dass es sich mit den Temperaturzielen Wertungen des Gesetzgebers zu eigen macht.
Noch problematischer erscheint in verfassungstheoretischer Perspektive, dass es hier zu einer Vermischung unterschiedlicher Normenkategorien (Verfassungsrecht, Gesetz, völkerrechtliche Norm) kommt, die in Konflikt mit der Normenhierarchie tritt (vgl. zu diesem Problem Lepsius, S. 249 f.). Auf diesem Wege werden einfachrechtliche Wertungen verfassungsrechtlich aufgeladen und normenhierarchisch auf eine Stufe oberhalb des übrigen einfachen Rechts gehoben. Gleichzeitig erhalten jene Wertungen jedoch keinen Verfassungsrang und werden nicht etwa dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers entzogen. Es entsteht eine Zwischenkategorie, die sich weder theoretisch verorten lässt noch im Grundgesetz angelegt ist.
Zwar wählt Karlsruhe im Klimaschutz-Beschluss eine Sprache, die im institutionellen Dialog mit dem Gesetzgeber ausgleichend wirkt. Die Grundprobleme der eigenen Maßstabsbildung und des Verhältnisses zum demokratischen Mehrheitswillen werden das Gericht aber auch in Zukunft weiterhin begleiten.
Gleich vorweg – ich habe das Urteil nicht gelesen. Aber mich überrascht der Begriff “counter-majoritarian” etwas vor dem Hintergrund des Wortlauts des GG. Da steht ja im Art. 20a GG “Verantwortung für die künftigen Generationen” und nicht “Verantwortung für die jungen Menschen, die noch nicht wahlberechtigt sind”. Daraus ergibt sich ja jetzt nicht unbedingt eine bestimmte zahlenmäßige Verteilung. Bzw. grundsätzlich könnte man ja sogar sagen, dass – bei einer 4-dimensionalen Betrachtung – die aktuelle Wählerschaft in ihrer Gesamtheit schon mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Minderheit