07 January 2012

Die Schande Ungarns ist auch unsere eigene

Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte. Das sind laut EU-Vertrag die Werte, auf die sich die Europäische Union stützt und die jedes Land achten muss, das Mitglied werden oder bleiben will. Sind das mehr als hohle Worte? Das stellt sich jetzt gerade heraus, da die EU-Kommission prüft, ob die neue Verfassung des Mitgliedsstaates Ungarn mit europäischem Recht noch vereinbar ist oder nicht.

Fangen wir mal bei der Demokratie an. Wie immer man sie genau definiert, eins gehört ja wohl auf jeden Fall dazu: die Möglichkeit, die Regierung loszuwerden, wenn die Bevölkerung mehrheitlich mit ihr unzufrieden ist. Die zum Jahreswechsel in Kraft getretene Verfassung Ungarns und die folgenden Ausführungsgesetze tun aber alles, um diese Möglichkeit auszuschließen. Das neue Wahlrecht optimiert den Zuschnitt der Wahlkreise zugunsten der Regierungspartei FIDESz. Es gibt keine unabhängige Wahlleitungskommission mehr. Und falls FIDESz trotzdem abgewählt werden sollte, ist dafür gesorgt, dass trotzdem ohne sie nichts geht: Für grundlegende Reformen ist im Regelfall eine Zweidrittelmehrheit notwendig, ebenso um Schlüsselpositionen wie den Generalstaatsanwalt oder den Chef der Medienaufsicht, im Moment alles treue FIDESz-Gefolgsleute, neu zu besetzen.

Der nächste Punkt: Rechtsstaatlichkeit. Mehr als 200 meist hochrangige Richter mussten zum Jahreswechsel ihre Positionen räumen, darunter der Präsident des Obersten Gerichtshofs. Ihre Posten vergibt künftig der Chef der Nationalen Justizbehörde, auch er ein treuer Anhänger der Regierungspartei, der außerdem jeden Richter an ein anderes Gericht versetzen kann, wenn er mit ihm unzufrieden ist. Damit nicht genug: Eine in letzter Minute beschlossene Verfassungsänderung sorgt dafür, dass der Chef der Nationalen Justizbehörde und der Generalstaatsanwalt die einzelnen Fälle Gerichten ihrer Wahl zuweisen dürfen. Das Verfassungsgericht ist weitgehend entmachtet und obendrein mit Gefolgsleuten vollgepackt. Recht wird in Ungarn künftig so gesprochen, wie es der FIDESz-Regierung gefällt.

Von der Pressefreiheit haben wir noch gar nicht gesprochen. Aber auch so wird klar: Hier hat sich ein EU-Mitgliedsstaat entschlossen, der gemeinsamen Wertebasis der europäischen Union die Gefolgschaft aufzukündigen. Niemand kann sich darauf herausreden, das sei eine innere Angelegenheit Ungarns, die niemand anderen etwas angehe. Auf diese Werte haben sich die Mitgliedsstaaten wechselseitig verpflichtet. Alle tragen die Verantwortung, die Einhaltung dieser Verpflichtung auch einzufordern.

Wie das geht, steht in Artikel 7 des EU-Vertrages: Demnach können die anderen Mitgliedsstaaten beschließen, dass der Sünderstaatseine Rechte zeitweilig nicht mehr ausüben kann, insbesondere seine Stimmrechte im Rat. Das hat seine Logik: Ein Staat, der nicht Gewähr bietet, dass seine Entscheidungen legitim zustande kommen, darf die Entscheidungen der EU nicht mit gestalten.

Bisher zumindest redet aber keiner in Europa davon, diesen Weg zu beschreiten. Die Kommission prüft punktuell, ob die ungarische Verfassung EU-Recht verletzt, etwa in der Frage der Unabhängigkeit der Notenbank. Das ist löblich, aber wird dem Problem nicht gerecht. Dazu kommt, dass Ungarns Regierung vorgesorgt hat: Sollte Ungarn zu Strafzahlungen verurteilt werden, dann können diese laut Verfassung durch eine Sondersteuer finanziert werden. Nicht die Regierung müsste den Preis zahlen, sondern die Bevölkerung, mit entsprechendem Volkszorn gegen Brüssel als Folge.

Einen Hebel bekommt die Kommission dadurch in die Hand, dass das tief verschuldete Ungarn dringend Finanzhilfen braucht. Sie kann diese Hilfen von verfassungspolitischen Zugeständnissen abhängig machen. Aber mit der Finanznot haben die zumeist gar nichts unmittelbar zu tun. Das ist ein zweifelhafter Weg, zumal so die ungarische Regierung zusätzlich reichlich Munition bekommt, gegen die EU Stimmung zu machen.

Warum redet niemand von Artikel 7? Weil er Einstimmigkeit erfordert. Alle  Mitgliedsstaaten müssen mitziehen, um die Sanktion zu verhängen. Die Kommission befürchtet mit gewissem Recht, dass sie sich darauf nicht verlassen kann. Mit der Pressefreiheit hat von Italien bis Frankreich schließlich auch manch anderer Staat seine Probleme. Was nicht viel mehr beweist als dies: Die Schande Ungarns ist auch unsere eigene.

Dieser Kommentar lief heute im Deutschlandfunk in der Sendung Themen der Woche.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Die Schande Ungarns ist auch unsere eigene, VerfBlog, 2012/1/07, https://verfassungsblog.de/die-schande-ungarns-ist-auch-unsere-eigene/, DOI: 10.17176/20170810-094716.

15 Comments

  1. Jens Sat 7 Jan 2012 at 22:27 - Reply

    Wieso wird eigentlich jetzt erst so viel über Ungarn berichtet?

    Das ist ebenfalls eine Schande!

  2. Coccodrillo Sat 7 Jan 2012 at 22:50 - Reply

    Meine volle Zustimmung. Wenn die Sanktionen in Artikel 7 Abs. 3 EUV überhaupt irgendeinen Sinn haben soll, dann müsste er jetzt zur Anwendung kommen. Und dass sich die Kommission es anscheinend nicht wagt, das vorzuschlagen, ist in meinen Augen ein ziemlich klares Indiz dafür, dass die Einstimmigkeit im Europäischen Rat eine viel zu hohe Hürde dafür ist.

    Angesichts dessen sehe ich im Moment die größten Chancen für ein institutionelles Vorgehen gegen die ungarische Regierung in dem Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV. Anders als das Verfahren nach Abs. 2-3 ermöglicht das zwar keine Sanktionen, dafür benötigt es aber auch keinen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates, sondern nur eine Vierfünftelmehrheit im Rat. Und es ist die einzige in Art. 7 vorgesehene Maßnahme, für die nicht nur Kommission und Mitgliedstaaten, sondern auch das Europaparlament ein Initiativrecht hat.

    Deshalb macht es mir im Moment die größte Hoffnung, dass die Grünen im Europäischen Parlament anscheinend den Plan haben, genau so ein Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 einzuleiten. Nun müssen sie dafür natürlich erst noch eine Zweidrittelmehrheit im Parlament gewinnen, was nur möglich sein wird, wenn die Fraktion der Europäischen Volkspartei endlich aufhört, der Fidesz Flankenschutz zu gewähren. Und ob sich danach im Rat die Vierfünftelmehrheit findet, ist auch fraglich. Immerhin aber könnte das Thema dadurch auf die Agenda kommen und der ein oder andere außerungarische Regierungspolitiker sich gezwungen sehen, endlich dazu Stellung zu nehmen.

  3. Coccodrillo Sat 7 Jan 2012 at 22:57 - Reply

    @Jens: Wieso erst jetzt? Als vor einem Jahr das ungarische Mediengesetz und im vergangenen Mai die neue Verfassung verabschiedet wurde, haben die Medien das doch auch schon aufgegriffen. Nur fällt so etwas eben immer in das Ressort Europapolitik, das niemand liest… und auch jetzt denken die meisten Deutschen bei dem Wort “Pressefreiheit” wohl eher an Christian Wulff als an Viktor Orbán. Alles eine Frage des Nachrichtenwerts.

  4. Max Steinbeis Sat 7 Jan 2012 at 23:22 - Reply

    @Jens: Also, den Schuh brauche ich mir ja wohl nicht anzuziehen, glaub ich…

    @Coccodrillo: Weiß nicht. Art. 7 I heißt Name and Shame. Wenn da nicht glaubwürdig die Aussicht dahintersteht, dass als nächste Eskalationsstufe Art. 7 II kommt, dann wird das den Orbán nicht groß kratzen, vermute ich. Und ehrlich, ich wäre nicht sicher, ob Sarkozy da mitmacht, wenn man sich anschaut, wie der selber mit der Pressefreiheit umspringt:
    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/pressefreiheit-in-frankreich-die-handschrift-der-geheimdienste-1508.html
    Und ob die Regierungen von Bulgarien und Rumänien das so super finden, einen Präzedenzfall für die Anwendung von Art. 7 in Gang zu setzen? Wer weiß, wer in Griechenland nach der Wahl regiert? Und was wäre das für ein Signal, wenn man das probiert und dann kommt die Mehrheit dafür nicht zustande, da könnte ja der Orbàn sein Glück gar nicht fassen.

  5. Rolf Schälike Sun 8 Jan 2012 at 06:44 - Reply

    Die Reaktion auf die Ereignisse in Ungarn ist nichts Besonderes. In jedem EU-Land kann können ähnliche Ereignisse beobachtet werden.

    Auch in Deutschland entscheiden täglich viele Richter gegen das GG. Anwälte missbrauchen täglich in erschreckender Vielzahl ihre Rechte als Organ der Rechtspflege. Polizisten … ist ja bekannt. Die deutschen Gesetze erlauben das Wegschauen.

    Würde man jeden Richter, jeden Anwälte, und alle Polizisten … , die gegen das GG verstoßen, bestrafen, hätten wir bald keine Richter, keine Anwälte und keine Polizisten mehr.

    Würde für jede Verletzung des Gesetzes Knastzeit ausgesprochen, wäre Deutschland nur noch Knast. Es gibt niemanden, der nicht gegen Gesetze verstößt.

    Das mit Ungarn ist Politik, genauso wie in Deutschland die Zulässigkeit des täglichen Verstoßes gegen das GG.

  6. Coccodrillo Sun 8 Jan 2012 at 12:11 - Reply

    @Max Steinbeis: Ich denke auch nicht, dass sich Orbán von einem 7-I-Verfahren besonders beeindrucken lässt – wenigstens nicht in dem Sinn, dass er die bereits durchgeführten antidemokratischen Reformen wieder rückgängig macht; bestenfalls wird er sich etwas zurückhalten bei den nächsten Schritten, die er im Kopf haben mag. Aber wenn die Schande Ungarns “unsere eigene” ist, dann ist die Frage doch, welche Handlungsoptionen “wir”, die nicht-ungarischen Unionsbürger, die Orbán weder gewählt haben noch abwählen können, überhaupt haben.

    Letztlich beschränkt sich unser Einfluss auf die Politiker, die wir auch selbst gewählt haben und bei den nächsten Wahlen zur Verantwortung ziehen können, also die Europaparlamentarier und unsere jeweilige nationale Regierung. Dafür müssen wir aber erst einmal wissen, wie genau diese jetzt eigentlich zu Orbán stehen. Im Moment können wir nur spekulieren, wie sich Joseph Daul, Nicolas Sarkozy oder Angela Merkel wohl verhalten würden, wenn es hart auf hart kommt; bislang verstecken sie sich alle hinter ausweichenden Floskeln. Wenn aber die Grünen ihre Initiative im Europaparlament einbringen, müsste zumindest die EVP-Fraktion Position beziehen. Wenn die Fidesz dann isoliert wird, wäre schon manches erreicht; wenn nicht, könnten wir Bürger bei der nächsten Europawahl die Konsequenzen ziehen.

    Mir wäre es natürlich auch lieber, wenn Artikel 7 nicht ganz so zahnlos wäre. Man könnte sich zum Beispiel eine Regelung vorstellen, nach der der EuGH die Kompetenz erhält, einen Verstoß nationaler Parlamente gegen die Werte aus Artikel 2 festzustellen, und dann eine normale qualifizierte Mehrheit im Rat für den Beschluss von Sanktionen genügt. Außerdem müssten natürlich die Abstimmungen im Rat auch über solche Fragen künftig öffentlich sein, damit man weiß, welche Regierungen denn nun wirklich dafür verantwortlich sind, wenn der Beschluss scheitert.

    Aber für all das bräuchte es eine Vertragsreform, die für Ungarn natürlich zu spät käme. Und in der Zwischenzeit sollte sich die Politik nicht damit herausreden können, dass ein Verfahren nach Art. 7 II ohnehin keine Aussicht auf Erfolg hat.

  7. Max Steinbeis Sun 8 Jan 2012 at 12:26 - Reply

    @Coccodrillo: Stimmt, das leuchtet mir ein.

    Auf einem anderen Blatt steht, was der EuGH machen kann. Da brüte ich grad was aus, nächste Woche dazu mehr.

  8. Christian Boulanger Sun 8 Jan 2012 at 12:57