Die transnationale wehrhafte Demokratie
Dürfen wir in Deutschland und Österreich die türkische Demokratie verteidigen? Schließlich bedrohen die Verfassungsreformpläne Erdogans zunächst einmal die türkische demokratische Grundordnung, nicht „unsere“. Können wir trotzdem Auftritte türkischer Politiker in Deutschland und Österreich verbieten, wenn sie für eine Staatsordnung werben, die wir mit „unserer“ für unvereinbar halten? Oder muss uns das Schicksal der liberalen Demokratie in der Türkei egal sein? Das ist die Frage nach der transnationalen wehrhaften Demokratie. Die EMRK könnte die Antwort darauf haben, denn sie ist der Türkei, Deutschland und Österreich gemein.
Nicht nur in Deutschland wird gerade darüber diskutiert, auch in Österreich. Innenminister Sobotka, nie darum verlegen, mit seinen Ideen vorzupreschen, hat auch schon den passenden Gesetzesvorschlag parat, den er unter dem Titel „wehrhafte Demokratie“ präsentierte. Künftig soll der Innenminister Versammlungen untersagen können, an denen Politiker eines Drittstaates teilnehmen, wenn „Meinungen erörtert und kundgetan werden sollen, die mit den demokratischen Grundwerten oder den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Republik Österreich unvereinbar sind“.
Unter den demokratischen Grundwerten kann man sich vielleicht noch etwas vorstellen. Aber warum soll eine Versammlung, bei der ein türkischer Politiker für ein Referendum in der Türkei wirbt, mit menschenrechtlichen Verpflichtungen Österreichs unvereinbar sein? Sicher gibt es grundrechtliche Schutzpflichten, die manchmal die Untersagung von Versammlungen notwendig machen. Aber welche sollten das hier sein? Die Schutzpflicht, Demokratie und Menschenrechte in ganz Europa zu erhalten? Außerdem: Warum macht erst die Teilnahme ausländischer Politiker eine derartige Versammlung verbotswürdig? Wenn Österreicher „unter sich“ eine Versammlung gleichen Inhalts abhalten, greift kein Untersagungstatbestand. Und wenn Türken eine solche Versammlung mit Bezug auf die Türkei veranstalten, ohne jedoch einen türkischen Politiker einzuladen, ist das ebenfalls unproblematisch.
Von seiner Idee her ist dieser Gesetzesvorschlag allerdings nicht so abwegig, vergegenwärtigt man sich den historischen Zweck der EMRK. Wie Moravcsik beschrieben hat, waren es vor allem die jungen, neu erstandenen Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich für eine internationale Menschenrechtskontrolle stark gemacht haben. Durch die Verzahnung mit den anderen Vertragsstaaten der EMRK und die gerichtliche Aufsicht durch den EGMR hofften sie, die liberale Demokratie so festschreiben zu können, dass sie auch krassen Regimewechseln standhalten würde. Nicht Militärinterventionen, sondern die Rückbindung der nationalen Innenpolitik an ein ständiges europäisches peer review sollte die liberale Demokratie vor Umstürzen bewahren, insbesondere faschistischen oder kommunistischen. Wichtigstes Mittel hierzu ist die Individualbeschwerde, die es jedem Einzelnen ermöglicht, ein nationales Menschenrechtsproblem auf die europäische Bühne zu bringen. Mit der Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK) gaben sich die Vertragsstaaten außerdem gegenseitig das Recht, sich in ihre jeweiligen internen Belange einzumischen. Dazu kommt der Europarat mit seinen diplomatischen Einflussmöglichkeiten. Die liberale Demokratie in Europa zu schützen ist demnach die Aufgabe aller Vertragsstaaten, daraus folgt, dass der Zustand der liberalen Demokratie keine rein nationale Angelegenheit mehr ist.
Jetzt ist die Frage: Geht diese Verantwortung soweit, nicht nur für die Bewahrung der Demokratie „im eigenen Land“ verpflichtet zu sein, sondern auch für die Aufrechterhaltung der Demokratie in den anderen Vertragsstaaten? Kommen wir dafür zurück auf die individualrechtliche Ebene: Wie soll man mit den Menschen umgehen, die im Rahmen ihrer Versammlungs- und Meinungsäußerungsfreiheit für eine Abkehr von der liberalen Demokratie in einem Vertragsstaat werben, also für einen fortgesetzten und großangelegten Bruch der EMRK und der Satzung des Europarats? In Art. 17 hält die Konvention dafür ein Instrument bereit: Das Verbot, ihre Grundrechte zu missbrauchen.
Er besagt, dass die Grundrechte der EMRK nicht so ausgelegt werden dürfen, als ob sie Tätigkeiten oder Handlungen erlaubten, die darauf abzielen, die Grundrechte der EMRK zu schmälern oder abzuschaffen. Kurz: Art. 17 verbietet, die Grundrechte der EMRK zu missbrauchen, sie also für grundrechtsfeindliche Zwecke einzusetzen. Die Stoßrichtung dieser Bestimmung erinnert frappant an die Grundrechtsverwirkung gemäß Art. 18 GG, im Gegensatz zu diesem sieht sie aber noch nicht einmal ein Verfahren zu deren Feststellung vor. Vielmehr hat der EGMR einen allfälligen Grundrechtsmissbrauch inzident zu prüfen. Zwar ist man sich nicht einig, ob das Missbrauchsverbot auf Schutzbereichs- oder auf Schrankenebene zum Zug kommen soll, sein Zweck aber ist klar: Es soll die EMRK als wehrhafte Demokratie gestalten, als Demokratie, deren Grundrechte nicht gegen sie selbst gewendet werden dürfen. Die Frage ist nun, ob das Missbrauchsverbot eine Lösung für das Problem bereithält, wie mit dem Auftritt türkischer Politiker in Deutschland oder Österreich zu verfahren ist, die für die Abkehr von der liberalen Demokratie in der Türkei eintreten.
Die Fälle, die der EGMR mit Art. 17 behandelt, sind vielfältig. Berühmt (und mittlerweile berüchtigt) ist sein Einsatz gegen die KPD in den 50er-Jahren. In den 80er- und 90er-Jahren wurde er dann vermehrt gegen verurteilte Neonazis aus Deutschland und Österreich angewendet. Parallel dazu entwickelte sich eine Rechtsprechungslinie, die Holocaustleugnung und hate speech mit Art. 17 behandelt und sie aus der freien Meinungsäußerung ausscheidet. Inhaltlich lässt sich auch das Verbot der türkischen Wohlfahrtspartei (eine Vorfahrin von Erdogans AKP) mit dem Missbrauchsverbot erklären. In diesem Fall verfuhr der EGMR zwar ohne darauf zurückzugreifen, seine Argumentation kann aber wunderbar auf Art. 17 übertragen werden, was wenig später auch geschah: Im Fall Kasymakhunov, Rn. 102ff.
Der EGMR führte aus: „The Court considers that a political party may promote a change in the law or the legal and constitutional structures of the State on two conditions: firstly, the means used to that end must be legal and democratic; secondly, the change proposed must itself be compatible with fundamental democratic principles. It necessarily follows that a political party whose leaders incite to violence or put forward a policy which fails to respect democracy or which is aimed at the destruction of democracy and the flouting of the rights and freedoms recognised in a democracy cannot lay claim to the Convention’s protection against penalties imposed on those grounds“ (Refah Partisi, Rn. 98).
Es gilt also: Wenn eine Partei sich auf die Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 EMRK berufen will, muss sie nach Mittel und Zweck demokratisch sein. Das bedeutet: Sie darf sich zum einen in ihrer Parteiarbeit nur solcher Instrumente bedienen, die legal und demokratisch sind, also vor allem keine Gewalt anwenden. Zum anderen, und viel wichtiger: Auch ihr Parteiprogramm muss den Werten einer liberalen Demokratie entsprechen, wie sie in der EMRK ihren Niederschlag gefunden haben. Eine Partei, die am liberal-demokratischen Prozess teilnehmen will, darf diesen nicht stürzen; umgekehrt kann eine Partei, die zum Ziel hat, die liberale Demokratie zu verlassen, gerechtfertigterweise von diesem Prozess ausgeschlossen werden.
Was hat nun die Vereinigungsfreiheit von Parteien mit der Versammlungsfreiheit türkischer Politiker im Ausland und der ihrer Anhänger zu tun? Meines Erachtens müssen die Erwägungen zur Vereinigungs- dieselben wie zur Versammlungsfreiheit sein. Klar, Vereinigungen und Versammlungen gefährden potenziell verschiedene Rechtsgüter. Eine antidemokratische Partei bedroht eher die Verfassungsordnung, eine Versammlung eher die öffentliche Ordnung, Ruhe und Sicherheit. Gleichwohl sind diese Freiheiten „Schwestern“: Beide sind in Art 11 EMRK genannt und unterliegen damit denselben Einschränkungen. Beide sind im Hinblick auf ein demokratisches Staatswesen auch von ähnlicher Bedeutung, dienen sie doch beide der Artikulation politischer Standpunkte und der politischen Partizipation. Oft werden Versammlungen von Parteien organisiert, oft sind Versammlungen Ausgangspunkte für weitere, organisierte politische Tätigkeit. Was für die Vereinigungsfreiheit gilt, muss daher wohl auch für die Versammlungsfreiheit gelten: Es wäre eigenartig, eine antidemokratische Partei vom Schutz des Art. 11 auszunehmen, aber ihn Versammlungen ihrer Anhänger weiter zu gewähren. Eine Tatsachenfrage ist es nun, ob Erdogan, die AKP und deren Anhänger derartige Ziele wirklich verfolgen. Folgt man der öffentlichen Meinung in dieser Frage, die Erdogan als Despot, Diktator, Potentat und ähnliches bezeichnet, dann unterstellen wir – nur um des Arguments willen –, dass ja. Denn tatsächlich lässt sich die Stimmung gegenüber dem türkischen Präsidenten in etwa so zusammenfassen: Die Demokratie muss sich nicht von Antidemokraten ausnützen lassen; jemand, der „zuhause“ die Grundrechte mit Füßen tritt, soll sich nicht erdreisten, sich „hier bei uns“ auf die Grundrechte zu berufen; keine Versammlungsfreiheit für die Feinde der Versammlungsfreiheit.
Wenn diese Stimmung der Wahrheit entspricht, dann ist die Antwort der EMRK meines Erachtens ziemlich eindeutig: Wie der EGMR oft hervorhebt, sind die Mitgliedstaaten der EMRK einem gemeinsamen Wertefundament verpflichtet, wie es sich insbesondere aus der Präambel der Konvention ergibt: Die EMRK ist europäischer ordre public. In diesem Lichte wäre es schwer begründbar, warum ein Staat, gestützt auf Art. 17, zwar gegen die Feinde der Demokratie im eigenen Land vorgehen dürfte, aber tatenlos zuschauen soll, wenn er als Mobilisierungsbasis für ausländische Demokratiefeinde herhalten muss; umso mehr, wenn in besagtem Ausland die EMRK ebenso gilt. Die Vertragsstaaten der EMRK müssen einander nicht egal sein, ja sie dürfen sich sogar einmischen, wie das Instrument der Staatenbeschwerde zeigt. Wenn aber mit Staatenbeschwerde Konventionsverletzungen im Ausland geltend gemacht werden können, dann muss es ebenso zulässig sein, den Befürwortern dieser Konventionsverletzungen im Inland die Bühne zu entziehen. Art. 17 richtet sich gegen Angriffe auf die EMRK, egal, woher sie kommen – er kann daher auch gegen solche Proponenten eingesetzt werden, die den Abbau der liberalen Demokratie nicht im Inland, sondern im Ausland vorantreiben. Denn er bezweckt den Schutz der europäischen Grundrechteordnung, nicht nur den Staatsschutz eines bestimmten Vertragsstaates.
Die wehrhafte Demokratie der EMRK ist transnational, weil sie die Vertragsstaaten zur gegenseitigen Bewahrung der Demokratie verpflichtet und daher auch demokratiefeindlicher Propaganda, die sich nicht auf das Land bezieht, in dem sie stattfindet, einen Riegel vorschiebt. Sie ist transnational, weil diese Pflicht nicht nur die völkerrechtliche, diplomatische Ebene betrifft, sondern mit Art. 17 auch auf die individualrechtliche, die der einzelnen Grundrechtsträger durchschlägt. Sie ist transnational, weil die europäischen Länder im selben, großen demokratischen Boot sitzen. Dass einer der Passagiere Löcher in den Rumpf bohrt, müssen die anderen nicht hinnehmen. Die Demokratie der Türkei ist auch unsere Demokratie.
Freilich kann Art. 17 die gesetzliche Grundlage für behördliches Handeln nicht ersetzen. Er ist auch kein Freibrief, der eine Loslösung von jeder grundrechtlichen Bindung ermöglicht. Es ist oft schon gesagt worden: Die Mittel der wehrhaften Demokratie sind ein zweischneidiges Schwert. Die Tendenz, sie überbordend einzusetzen, existiert. Diese Warnung sollte aber nicht den Blick auf sie verstellen, sondern zu einer umso intensiveren Auseinandersetzung mit ihnen führen. Nur so kann die Gefahr gebannt werden, das Missbrauchsverbot seinerseits zu missbrauchen.
Sie sprechen von “demokratiefeindlicher Propaganda” – sind das fake news? Ob die geplante Verfassungsänderung in der Türkei gegen die EMRK verstößt, wird der EGMR wohl erst noch entscheiden müssen. Oder habe ich da etwas übersehen?