19 October 2022

Die Unfähigkeit zu überzeugen

Zum Bestimmen der Richtlinien durch Bundeskanzler Scholz

Der Bundeskanzler hat nach allseitig als quälend wahrgenommenen Diskussionen unter Verweis auf § 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung mehreren Bundesministern politische Handlungsvorgaben zur deutschen Energieversorgung gemacht. Diese Norm nimmt die Zuweisung aus Art. 65 S. 1 GG an den Bundeskanzler auf, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Der Vorgang lässt ganz verschiedene Deutungen zu: Ist die Regierung in der Krise und spielt der Kanzler nach langem Zaudern sein letztes Blatt? Oder hat die Ampel in der Atomfrage für sich eine gute Lösung gefunden? Der Chef nimmt es auf seine Kappe, leistet Rollenerfüllung hinsichtlich vielleicht nicht bestellter, aber trotzdem versprochener Führung und deckt die personale Spitze des Koalitionspartners gegenüber deren Basis. Die Kompetenzausübung des Kanzlers entlastet sie von Verantwortung gegenüber ihren erbosten Anhängern: Habeck vor Trittin schützen, im grünen Generationenkonflikt decken. Ist es nur eine “scheinbare Richtlinie”? Welche Deutung auch zutreffen mag – so oder so zeigt sich eine Unfähigkeit zu überzeugen: des Kanzlers hinsichtlich seiner Minister und der Minister hinsichtlich ihrer Partei und Fraktion.

Scholz’ Stil, die Mischung aus langem Schweigen und hervorschnappendem Bestimmen, unterscheidet sich von Merkels stiller wie von Schröders jovialer Autorität: Merkel führte aus der Deckung und Schröder mit einem natürlichen Anspruch, der ihm das Recht als Beiwerk erschienen ließ. Je nach politischer Neigung zeigt Scholz nun besonnene Autorität oder eine Kombination von Merkels Langsamkeit mit Schröders Flurschäden: Ein Basta in Slow Motion. Das Handeln des Bundeskanzlers hat, unabhängig davon, ob man es gut findet, einen festen Grund im Grundgesetz. Zugleich markiert es aber den Boden, nicht die Spitze bundesrepublikanischer Regierenskunst: Sie stützt sich nicht auf Kompetenzen, sondern auf Vertrauen.

Im Kabinett: Das Recht, zu bestimmen

Das Bestimmen der Richtlinien ist eine Bonner Übernahme aus der Weimarer Reichsverfassung. Hugo Preuß hatte es der Rolle des britischen Premierministers abgeschaut. Die Fixierung in der Verfassung sollte die Rolle eines Regierungschefs und parlamentarischen Anführers für den Reichskanzler festschreiben. In der Weimarer Verfassungspraxis kam es anders. Im Grundgesetz wird die Formulierung fast wortgleich für den institutionell nun besser ausgestatteten Bundeskanzler übernommen. Die Formulierung “Richtlinienkompetenz” wird erst später üblich.

Das Bestimmen der Richtlinien weist den Bundeskanzler als die zentrale Gestalt im parlamentarischen Regierungssystem aus, in welchem er durch das Vertrauen der Abgeordneten in sein Amt kommt und dann kraft diesem regiert: indem die Mehrheit der Abgeordneten Gesetze so gibt, wie es der Kanzler und seine Minister im steten Austausch mit den Spitzen der Mehrheitsfraktionen wollen.

Deutschen Verfassungsrechtlern ist bis heute nicht gelungen, eine überzeugende Definition des Bestimmens der Richtlinien zu finden, die deren Reichweite begrenzt. Richter haben sich daran nicht versucht: Die Organisation der Regierung und des Regierens bleibt einer der Bereiche, in denen das Verfassungsrecht noch ganz weitgehend in Berlin und nicht in Karlsruhe gemacht wird. Eine Begrenzung des Bestimmens würde auch an der Anlage der Norm wie dem Charakter ihres Gegenstandes vorbeigehen: Die Richtlinien betreffen, was für den Kanzler politisch wichtig ist – und was wichtig ist, bestimmt er selbst. Dies entspricht dem Verständnis im Parlamentarischen Rat. Wichtig können Einzelakte genau wie Gesetze sein. Zugleich weist der Bundeskanzler als einziges Regierungsmitglied eine unmittelbare Legitimation durch den Bundestag vor. Seine Kompetenz korrespondiert voll mit seiner aus dem Vertrauen der Abgeordneten erwachsenden Legitimität.

Die einzige juristische Beschränkung der Reichweite des Bestimmens der Richtlinien in der Regierung liegt im Adressatenkreis: Die Minister mediatisieren den Bundeskanzler gegenüber den Beamten in den Ressorts. Der Kanzler kann diese nicht über die Köpfe der Minister hinweg anweisen. Sperrt sich ein Minister, kann er ihn durch den Bundespräsidenten entlassen und das Amt anschließend neu besetzen lassen, das Ressort einem anderen Minister zuweisen oder sich jedenfalls bei manchen Ressorts selbst zum entsprechenden Minister ernennen lassen.  Denn dem Kanzler kommt auch die Organisationsgewalt über die Bundesregierung zu, welche er durch Organisationserlasse ausübt. So bestimmt er umfassend das Personal und den sachlichen Zuschnitt der Bundesregierung.

Der Kanzler kann bei rechtlicher Betrachtung in der Regierung also weitgehend schalten und walten, wie es ihm gefällt. Wirft uns das zurück ins Staatssekretärsmodell des Kaiserreiches? Wer nur in Kompetenzen denkt, blendet die vom Grundgesetz mitgedachten politischen Interessen und Grenzen des Kanzlers aus. Der Normalfall der Regierungsarbeit ist nicht umsonst die Aufgabenwahrnehmung durch Ressorts oder eine einstimmige Kabinettsentscheidung. Ressort- und Kollegialprinzip einerseits, das Kanzlerprinzip andererseits stehen in einem Verhältnis von Regel und Ausnahme: Die Regierung von der bestimmenden Richtlinie her zu beschreiben, macht genauso wenig Sinn, wie den deutschen Föderalismus vom Bundeszwang her zu denken. Kein Kanzler hat ein Interesse, sich in Einzelfragen zu erschöpfen, die den Großteil der Regierungsarbeit selbst im Bereich der Gesetzgebung ausmachen. Ihre Erledigung durch die Minister und Legionen von Beamten ist gerade eine Vorbedingung für die Konzentration auf die große Politik. Zu den Privilegien hoher Ämter gehört nicht zuletzt die Freiheit von der Befassung mit jedem technischen Detail. So wird sich der Kanzler für einen erheblichen Teil der Regierungsarbeit gar nicht interessieren. Er führt die Minister in einem kollegialen Verbund mit starker Eigenständigkeit der Mitglieder, die als politische Amtsträger eigene politische Verantwortung aufweisen und eigene Verbindungen in das Parlament unterhalten.

Die eigentliche Beschränkung des Kanzlers liegt nicht in der natürlichen Grenze der Aktenfresserei, sondern im parlamentarischen Vertrauen: Koalitionsverträge beschränken die ohne parlamentarischen Vertrauensverlust mögliche Ausübung der Organisationsgewalt, Koalitionsausschüsse einen allzu freien Gebrauch des Bestimmens durch Richtlinien. Das Vertrauen der Abgeordneten (und der Bürger hinten ihnen) beschränkt ihn in der Ausübung seiner Kompetenzen, gibt ihm aber andererseits eine Autorität, mit der er jenseits der Regierung wirken kann.   

Im Parlament: Führen durch Vertrauen

Weil die Bundesrepublik durch Gesetze regiert wird, führen die Richtlinien des Kanzlers in den Bundestag: Die zuständigen Minister sollen Gesetzentwürfe erarbeiten, die nicht nur durch das Kabinett, sondern vor allem durch den Bundestag müssen. Hier findet die Kompetenz des Kanzlers insofern eine Grenze, als dass er die Abgeordneten nicht auf seine Richtlinien verpflichten oder ihnen qua Amt ihr Mandat nehmen kann. Aber gerade weil das Gesetz in der Bundesrepublik eine zentrale Rolle bei der Transformation von politischem Willen in Recht spielt, begrenzt sich die Rolle des Kanzlers und seiner Richtlinien nicht auf die Bundesregierung. Der Bundeskanzler ist nach der Anlage des Grundgesetzes und 70 Jahren gelungener republikanischer Praxis der politische Anführer der parlamentarischen Mehrheit.

Das Verhältnis von Parlament und Regierung ist nicht nur eines von Verantwortung und Kontrolle, sondern auch von Führen und Vertrauen, bei dem die Abgeordneten der Mehrheit am Regieren teilhaben. Diese Teilhabe, wie sie mit Ernst Friesenhahns Formulierung von der “Staatsleitung zur gesamten Hand” kanonisch wurde, wird durch das Miteinander von Mehrheit und Regierungschef geprägt: Es ist kein Nebeneinander zweier Verfassungsorgane, sondern eine politische Vertikale von Ämtern in Regierung und Mehrheit. Die parlamentarische Basis ist durch die hierarchisierte Organisation von Partei und Fraktion und das gewährte Vertrauen ihren Anführern verpflichtet. Die Beschreibung des Regierens leidet zuweilen darunter, dass die parlamentarische Abhängigkeit der Regierung nicht hinreichend mit ihrer politischen Führung der parlamentarischen Mehrheit balanciert wird. Die Regierung ist dem Parlament gerade durch dessen Vertrauen politisch übergeordnet. Es ist naiv, den Wähler über den Gewählten zu stellen. Dies gilt für das Verhältnis von Regierung und Parlament genau wie für das Verhältnis von Parteiführung und Basis, Vereinsvorstand und -mitglied, Aufsichtsrat und Aktionär. Vertrauen ist das Gegenüber demokratischer Führung. Nicht zuletzt die parlamentarische Praxis macht diesen Umstand eigentlich hinreichend deutlich: Historisch haben sich Kanzler um das Vertrauen der Abgeordneten nicht viel Sorgen machen müssen – jedenfalls wenn sie aus der CDU kamen. Aber auch unabhängig von Parteien sind die deutschen Abgeordneten erstaunlich brav. Ihre Kollegen in Westminster haben viel weniger Rechte, jagen ihre Premierminister aber viel öfter zum Teufel. Politische Kultur ist am Ende nicht weniger wichtig als Verfassungsrecht.

Vertrauen hängt nicht nur an der Interaktion mit den Abgeordneten, sondern auch an der Zustimmung der Bürger: Das Parlament ist kein verschlossenes Gehäuse, das sich nur alle vier Jahre öffnet. Auch während der Legislatur partizipieren die Bürger als Zuschauer am Regieren, dessen Subjekte sich an ihren Reaktionen orientieren. Diese demokratische Responsivität gegenüber den Bürgern zwischen Wahlen wird dabei gerade durch die politische Hierarchie zwischen Regierung und Parlament gesichert. Nur weil einige wenige den potentiellen Vielklang der Stimmen bündeln, lässt sich Verantwortung durch die Bürger einfach attribuieren: “Auf den Kanzler kommt es an.”

Durch eine sachgebundene Vertrauensfrage schließlich hat der Kanzler ein juristisches Druckmittel auch gegenüber dem Bundestag. Unter Mitwirkung des Bundespräsidenten kann er, wird ihm die Gefolgschaft verweigert, die Auflösung des Bundestages erreichen, solange die Abgeordnete vorher nicht seinen Nachfolger wählen. Dem Kanzler nicht zu folgen, heißt also das eigene Amt/Mandat riskieren: als Minister, aber auch als Abgeordneter. Zugleich muss der Kanzler das eigene Amt in die Waagschale werfen. Eine damit erzwungene Gefolgschaft impliziert freilich eine Form von Führung, welche die eigene Mehrheit mitschleift statt überzeugt.

Verfassungsrecht zwischen Instrument und Pose

Dass ein Regierungschef die Mittel nutzt, die ihm die Verfassung gibt, wird man ihm nicht zum Nachteil auslegen können. Schröder etwa musste vor dem Hintergrund knapper Mehrheitsverhältnisse und wichtiger Entscheidungen anders als Merkel früh hoch pokern. Dafür hat seine Regierung unabhängig von der Bewertung der Richtung außenpolitisch, wirtschaftspolitisch, gesellschaftspolitisch mehr bewegt als ihre. Eine Politik, die ins Risiko geht und ein Regierungschef, der seinen Anhängern etwas abverlangt, ist nichts Schlechtes. Dergleichen kann einer politischen Kultur, in der schon jeder Pennäler lernt, dass es heute feiner ist, “Diskurs” statt “Diskussion” zu sagen, nur gut tun.

Übel aber wäre der Kompromiss in Gestalt eines Befehls: Denn was am Handeln des Kanzlers auffällt und ihn von der Amtsführung Gerhard Schröders wie Angela Merkels unterscheidet, ist seine Formalität, das Auftrumpfen mit der Kompetenz: Merkel hat Seehofer keinen veröffentlichten Brief mit Richtlinien übersandt. In der misstrauischen Deutung steht Scholz für einen Jargon der Entschlossenheit, der einen Mangel an politischer Gestaltungskraft ästhetisch zu überdecken sucht. Wie lange kommt man damit durch?


SUGGESTED CITATION  Lennartz, Jannis: Die Unfähigkeit zu überzeugen: Zum Bestimmen der Richtlinien durch Bundeskanzler Scholz, VerfBlog, 2022/10/19, https://verfassungsblog.de/die-unfahigkeit-zu-uberzeugen/, DOI: 10.17176/20221019-194314-0.

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