04 February 2019

Die Versprechen der modernen Demokratie: zur Debatte parla­men­tarischer Parität

Es gibt Debatten, die in so schwierigen Problemen wurzeln, dass man am liebsten einen Bogen um sie machen würde. Etwa diese um das Prinzip der Repräsentation. Kein Buch scheint mehr Siegel zu haben als dieses Phänomen, das fast 500 Seiten benötigt, um allein die historische Verwendung von Wort und Begriff bis ins 19. Jahrhundert zu klären.

Warum also doch? Seit ein paar Wochen wird intensiv über Quoten für Bewerber_Innen zu Parlamentswahlen diskutiert. Der bleibend niedrige Anteil von Frauen in deutschen Parlamenten soll nicht länger hingenommen und die Parteien sollen verpflichtet werden, für eine parlamentarische Geschlechterparität zu sorgen. Während nun etwa der Brandenburgische Landtag ernst macht, verständigt sich die Verfassungsrechtsöffentlichkeit bereits auf die Verfassungswidrigkeit von derartigen Quotenregelungen (etwa hier, hier und hier). Die dabei verwendeten Argumentationsstrukturen sind aus anderen Quotendebatten, etwa in Bezug auf Aufsichtsräte, bekannt. Sie scheinen mir aber für eine Debatte über Demokratie noch weniger angebracht als dort. Ein Widerspruch also, trotzdem.

Auf der Suche nach Maßstäben

Für die Verfassungswidrigkeit der Paritätsquoten – unabhängig von der konkreten Ausgestaltung – werden die schwereren Geschütze unserer Verfassung aufgefahren: etwa die Parteienfreiheit, die Wahlrechtsgleichheit und auch das Prinzip der Repräsentation. Diese wolle, das wird gebetsmühlenartig wiederholt, im Zeitalter der Demokratie nicht mehr für eine proportionale Abbildung der Bevölkerung im Parlament sorgen. Heutzutage könne der männliche Abgeordnete mit der Sonne des Gemeinwohls im Rücken ebenso gut für Frauenthemen einstehen. Auch wenn dies richtig sein mag, bleibt doch ein Unbehagen. Man denke etwa an die Bilder von der Bundestagsdebatte zur Straffreiheit der Vergewaltigung in der Ehe, in der es sich männliche Abgeordnete nicht nehmen ließen, ihre Position mit ganzer Inbrunst vorzutragen und dann auch noch zu lachen. Dass solche Vorgänge nichts mit demokratischer Repräsentation und ihren Defiziten zu tun haben, soll hier in Zweifel gezogen werden. 

Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Forderung von Geschlechterparität in Zeiten des Pluralismus einem gewissen Begründungsdruck ausgesetzt ist. Soll es etwa einem Arbeiterkind abgesprochen werden, sich im Parlament authentisch für die Belange der Arbeiter_Innen einsetzen zu können, allein weil es eine Universität besuchen konnte? Die Antwort ist natürlich nein. Es wird jedoch klar, dass sich das normative Leitbild demokratischer Repräsentation nicht ohne weiteres und nicht eindimensional füllen lässt. Sie kann angesichts gesellschaftlicher Vielfalt, die das Lebenswerte unserer Gesellschaft ausmacht, keine Spiegelbildlichkeit fordern. Das muss aber nicht bedeuten, dass sie gänzlich darauf verzichten kann. Der Wandel, den das Prinzip im Laufe der Zeit durchlaufen hat, hat dessen Inhalt aber anscheinend undeutlich werden lassen. Dem wird nachzugehen sein.  

Freiheit zur Dysfunktion? 

Neben dem Repräsentationsprinzip werden noch die Wahlrechtsgleichheit und die Parteienfreiheit in Stellung gebracht. Erstere wird nicht die entscheidende Rolle spielen: Der Wähler hatte noch nie einen Einfluss darauf, wer ihm zur Wahl gestellt wird. Ein Eingriff in dieses Recht müsste über Ecken konstruiert werden, dem soll hier aber nicht nachgegangen werden. Dies gilt wohl auch für die Rechte der Kandidat_Innen in den Parteien. 

Es bleibt also das Recht der Parteien auf die autonome Zielfestlegung und Mittelwahl. Dieses Recht ist in einer wettbewerbsförmig ausgestalteten Demokratie nicht zu unterschätzen. Die Parteien sollen möglichst frei von staatlichem Einfluss um die Erringung der Macht ringen. Sie haben das Recht auf „Tendenzfreiheit“ (Morlok), die Möglichkeit ihre interne Willensbildung und ihre Programmatik auf ihre ideologischen Grundlagen zu münzen. 

Es ist jedoch wie immer: Auch der Parteienfreiheit als verfassungsmäßiges Recht ist die Absolutheit fremd. Die Parteien dürfen nicht darauf aus sein, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen und sie müssen sich bei ihrer Organisation demokratischen Regeln unterwerfen, Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG. Dies hindert sie etwa daran, den parteiinternen Pluralismus im Keim zu ersticken oder ihre Parteitage geheim abzuhalten.

Für die Parteien ist darauf zu verweisen, dass deren doch beträchtlicher Einfluss, ihre Rolle, keinen Selbstzweck darstellt. Die Freiheit der Parteien ist auch funktional zu verstehen, das unterscheidet sie von Kleingärtnervereinen oder Unternehmen. Ihre Aufgabe ist es, die Idee der Volkssouveränität zu verwirklichen. Diese macht die Beeinflussbarkeit staatlicher Entscheidungen durch das Volk zur Maßgabe, die realisiert wird durch Wahlen aber eben auch durch das Parteiwesen, das dem Volk die Möglichkeit bieten soll, auch zwischen den Wahlen auf verbindliche Entscheidungen des Staates Einfluss nehmen zu können. 

Kommen sie diesem Auftrag nicht oder nicht in Gänze nach, kann der Gesetzgeber Maßnahmen ergreifen. Er hat dies auf Bundesebene getan, etwa indem er die Mittel der staatlichen Parteienfinanzierung erhöht hat. Warum dann nicht auch Paritätsgesetze, fordert die Verfassung nicht an prominenter Stelle die faktische Chancengleichheit von Mann und Frau? 

Das Versprechen der Moderne

Dies würde eine strukturelle Benachteiligung von Frauen im politischen Prozess erfordern. Eine solche könnte man dadurch erwiesen sehen, dass trotz des über hundertjährigen Frauenwahlrechts noch immer deutlich weniger Frauen als Männer in deutschen Parlamenten vertreten sind. An diesem Zusammenhang wird nun gezweifelt. Etwa dann, wenn behauptet wird, Frauen seien in Parlamenten gar überrepräsentiert. Immerhin übersteige der Anteil weiblicher Parlamentarierinnen diesen der Frauen in den Parteien! Sehet da, wird also gesagt, ihr könnt es schaffen, wenn ihr denn nur wollt. 

Nun ist die Erzählung von den Frauen, die ihn nicht wollen, den gleichen Lohn, den Posten im Aufsichtsrat und nun den Parlamentssitz, schon alt. Wahrer wird sie dadurch nicht. Abgesehen davon, dass der Befund der Überrepräsentation begrifflich unscharf ist – ist doch die vom Bundestag zu repräsentierende Größe das Volk, nicht die politischen Parteien –, rückt uns das Argument näher an das eigentliche Problem: Das Verständnis von Chancengleichheit im politischen Prozess. Denn zum einen muss man sich fragen, ob nicht die geringe(re)n Karrierechancen in den Parteien bereits abschreckend für potentielle Mandatsträgerinnen wirken. Zum anderen scheint es doch unfair, diese Frauen, die den Widerständen zum Trotz den Sprung ins Parlament geschafft haben, zum Beleg für die Nichtexistenz des Problems zu machen. Diese Logik entspricht dieser der „Quotenfrauen“, vor denen Paritätsgegner immer warnen, was diese Warnung umso widersprüchlicher erscheinen lässt. 

Was sind nun diese Widrigkeiten für Frauen in deutschen Parteien? Sie könnten in der politischen Handlungslogik liegen, die unter anderem von stark zugespitzten Rivalitätsverhältnissen gezeichnet ist, welche Verhaltensweisen erfordert, die traditionell-männlichen Rollenbildern zugeschrieben und entsprechend tradiert werden. Oder auch nur in den organisatorischen Bedingungen von Politik mit ihren abendlichen Sitzungen in Kneipen, informalen Strukturen und Pakten. Darüber müsste gesprochen werden. 

Stattdessen aber der Verweis auf den mangelnden Willen der Frauen. Bereits bei den Aufsichtsräten scheint diese Behauptung leichtfertig: Das Motto „from rags to riches“ ist die Leitidee des Kapitalismus. Die Erzählung davon, dass in diesem System jeder es schaffen kann, unabhängig von Herkunft und Geschlecht. Für die Wirtschaft hat sich diese in punkto Geschlecht als ein Trugbild erwiesen, das Korrekturen erforderte. Die Demokratie soll nun, darauf hat uns Joseph Alois Schumpeter hingewiesen, Wesenheiten mit dem Kapitalismus teilen. Hier ist es die politische Chancengleichheit, die jeder/jedem Bürger_In die gleiche Chance auf Teilhabe verspricht. Dieses Versprechen der Demokratie ist nun ein nicht unerhebliches: Die Möglichkeit, verbindliche Entscheidungen zu akzeptieren, hängt maßgeblich von der gleichen Chance ab, sie beeinflussen zu können. Darin scheint mir der zentrale Punkt des Paritäts- und auch des Repräsentationsproblems zu liegen. Das traditionell männlich dominierte Parlament führt Frauen immerzu vor Augen, dass ihre Chance, ein Mandat zu erringen, unter schlechten Vorzeichen stehen, jedenfalls gegenüber Männern gesteigerte Anstrengungen erfordert. Diese Wirkungen würde es auch dann entfalten, sollten strukturelle Benachteiligungen tatsächlich nur eingebildet sein.  

Dass die Beeinflussbarkeit demokratischer Strukturen – auch unter Gleichheitsgesichtspunkten – von allen als real wahrgenommen wird, ist in der Demokratie ein wichtiger Baustein für die Herstellung von Legitimation. Ich meine nun, dass sich aus der Bedeutung dieses Prinzips Rückschlüsse auf das Verständnis dieser Gleichheit ziehen lassen, in der Art nämlich, dass die politische Chancengleichheit materiell verstanden wird. Sie hat also nicht allein die formale Gleichheit der Parteien und ihrer Mitglieder im Blick, sondern auch die tatsächlichen Umstände des Wettbewerbs. Von dieser Warte ist es einfach nicht hinreichend, Frauen auf die Möglichkeiten einer Kandidatur hinzuweisen, ohne auch bestehende Strukturen zu hinterfragen. 

Zuletzt könnte der Aspekt der Beeinflussbarkeit auch Hinweise auf Facetten des Repräsentationsprinzips liefern. Vielleicht bleibt es Teil auch moderner Repräsentation, dass gesellschaftliche Gruppen sich im Parlament „wiederfinden“. Dieser theoretische Gedanke kann unter der Geltung von Art. 3 Abs. 2 GG zu einem rechtlichen werden. Diese Norm ermöglicht es auch, dem Dilemma der Folgerichtigkeit in Bezug auf andere Differenzierungskriterien, wie Bildungsabschluss und Migrationshintergrund, zu begegnen. Die Verfassung räumt der auch tatsächlichen Gleichberechtigung von Mann und Frau eine herausgehobene Bedeutung zu. Daraus lässt sich vielleicht keine Rechtspflicht zur Herstellung von Parität in den Parlamenten herleiten, wohl aber die Möglichkeit. Zumindest sollte sie uns dazu anhalten, mit einer gewissen Überlegtheit an die rechtliche Bewertung derartiger Vorhaben heranzutreten. 


SUGGESTED CITATION  Jürgensen, Sven: Die Versprechen der modernen Demokratie: zur Debatte parla­men­tarischer Parität, VerfBlog, 2019/2/04, https://verfassungsblog.de/die-versprechen-der-modernen-demokratie-zur-debatte-parlamentarischer-paritaet/, DOI: 10.17176/20190211-213949-0.

16 Comments

  1. aloa5 Mon 4 Feb 2019 at 19:38 - Reply

    Beeinflussbarkeit als legitimationserzeugendes Demokratieprinzip? Ernsthaft?

  2. aloa5 Mon 4 Feb 2019 at 21:02 - Reply

    Ich sehe hier einen inhaltlichen Bruch:

    -“Der Wähler hatte noch nie einen Einfluss darauf, wer ihm zur Wahl gestellt wird.”

    vs

    “Diese macht die Beeinflussbarkeit staatlicher Entscheidungen durch das Volk zur Maßgabe, die realisiert wird …eben auch durch das Parteiwesen…”

    • Sven Jürgensen Mon 4 Feb 2019 at 21:15 - Reply

      Der Wähler hat in seiner Rolle als Wähler keine Auswahl, da die Aufstellung der Wahlbewerber vor allem den Parteien obliegt. Er kann natürlich selbst in diese Rolle schlüpfen und die entsprechenden Strukturen nutzen.

  3. Michael Schneider Mon 4 Feb 2019 at 23:24 - Reply

    Der Beitrag greift schon deshalb vielzu kurz, weil er übersieht, dass nicht nur die Parteifreiheit betroffen ist. Anders als vom Autor suggeriert, stellt eine Zwangsquote einen massiven Eingriff in die Freiheit und Gleichheit der Wahl dar. Diese gelten nämlich für den gesamten Wahlvorgang, mithin auch für das Wahlvorschlagsrecht (BVerfGE 60, 162, 167). Eine Rechtfertigung bedarf hierbei eines zwingenden Grundes (BVerfGE 95, 408, 418). Die von einigen Feministen herbeiphantasierte gefühlte Benachteiligung von Frauen (die sich empirisch eindeutig widerlegen lässt, siehe Morlok) stellt einen solchen gewiss nicht dar. Ohnehin erscheint es überaus zweifelhaft, die Wahlrechtsgrundsätze auf dem Altar irgendwelcher gesellschaftspolitischer Zielsetzungen zu opfern. Richtigerweise kann daher ein Eingriff in die Wahlrechtsgrundsätze nur durch Zwecke gerechtfertigt sein, die mit der Wahl selbst untrennbar verbunden sind (zB Funktionsfähigkeit des Parlaments). Alles andere ist gelenkte Demokratie.