04 January 2019

Unitäres Volk oder Parität? Für eine materiale Perspektive auf die Demokratie

Im Deutschen Bundestag liegt der Frauenanteil nach der letzten Wahl bei nur noch 30 Prozent. Bei den Fraktionen der AfD, CDU/CSU und FDP, also den Parteien ohne eine parteiinterne Quote, beträgt er gar nur 10 bis 20 Prozent. Bundesjustizministerin Barley fordert daher eine Wahlrechtsreform, um das „Meer von grauen Anzügen“ zugunsten von mehr Frauen im Parlament zu pluralisieren. Dafür wird es einer Regelung bedürfen, die die Parteien verpflichtet, eine gleiche Anzahl von Frauen und Männern bei Wahlen aufzustellen. Von Staatsrechtlern werden jedoch verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet, jüngst etwa von Udo Di Fabio in einem Interview im Spiegel. Eine solche Reform verstoße gegen die Parteifreiheit und die Wahlrechtsgleichheit. Und: Demokratie kenne nur ein Volk, kein geteiltes. Dies überrascht wenig, denn im gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Diskurs wird die fehlende Repräsentation von Frauen schlicht nicht als demokratisches Problem verstanden. Wirft man einen Blick in die verfassungsrechtliche Literatur zum Demokratieprinzip und zum Wahlrecht, dann werden dort allerhand aktuelle Probleme und Herausforderungen der deutschen Demokratie diskutiert – vom Einfluss der sozialen Medien über die Krise der Parteiendemokratie bis hin zum negativen Stimmengewicht. Dass nach über 70 Jahren Grundgesetz in keinem deutschen Parlament Frauen nur annähernd hälftig vertreten sind, auf kommunaler Ebene Frauen oftmals sogar nur einen Anteil von 15 bis 25 Prozent erreichen, scheint dagegen niemand für ein aktuelles demokratisches Defizit zu halten – und dies obwohl Art. 3 Abs. 2 GG die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie deren tatsächliche Durchsetzung ausdrücklich fordert. 

Formale Gleichheit kennt keine tatsächliche Ungleichheit

Woran aber liegt es, dass die fehlende Geschlechtergerechtigkeit in den Parlamenten nicht als demokratisches Problem erkannt und thematisiert wird? Ich meine: an einem unitär-abstrakten Verständnis von Volkssouveränität. Dieses wurzelt in einem liberalen Repräsentationsmodell, das sich gegen die Unfreiheit des Feudalismus richtete und daher eine formale Perspektive der abstrakt Freien und Gleichen verfolgt, bei der es auf die konkrete soziale Verortung der Rechtssubjekte bzw. der Mandatsträger nicht ankommt. Vor dem historischen Hintergrund des Zensus- und Pluralwahlrechts wird die staatsbürgerliche Gleichheit vor allem im formal gleichen aktiven und passiven Wahlrecht, insbesondere im numerischen Prinzip der Stimmgleichheit, verortet. Diese Gleichheit der Staatsbürger als Stimmgleichheit gilt als Grundlage der demokratischen Ordnung (z. B. BVerfG 131, 316 (334)). Folglich wird die Wahlrechtsgleichheit als striktes Differenzierungsverbot verstanden: »Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet, dass alle Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können. Er ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (…).« (BVerfGE 121, 266 (295)).

Diese formale staatsbürgerliche Gleichheit sichert nicht nur den einzelnen Bürger*innen ihr Wahlrecht, sondern konstituiert darüber hinaus die staatliche Sphäre als eine der Gleichheit, in der Ungleichheitsverhältnisse, die in der gesellschaftlichen Sphäre existieren – z. B. die Ungleichheit der Geschlechter –, in den Hintergrund treten. Dementsprechend genügen „neutrale“ Wahlrechtsgesetze, um der Gleichheit der Staatsbürger*innen bei der unmittelbaren Teilhabe an der Staatsgewalt gerecht zu werden. Auf ein gerechtes Wahlergebniskommt es nicht an. 

Darüber hinaus ist das unitäre Verständnis von Volkssouveränität wesentlich durch das freie Mandat geprägt. Danach sind Abgeordnete Vertreter des gesamten Volkes und nur ihrem Gewissen unterworfen (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Abgeordnete sollen also weder Repräsentanten bestimmter Gruppen noch in imperativer Art und Weise an die Interessen bestimmter Kollektive gebunden sein. In der Rechtsprechung des BVerfG wird mit dem freien Mandat daher die Vorstellung verbunden, dass die Gesamtheit der Abgeordneten eine Gesamtrepräsentation des demokratischen Volkes erreicht (z. B. BVerfGE 130, 318 (342)). Wenn die Gesamtheit der Abgeordneten die Gesamtheit des Volkes repräsentiert, dann kann es auch zu keinen Repräsentationsdefiziten kommen. Der Demos wird also als ein unitärer konstruiert, als eine homogene Einheit, die nicht wesentlich durch Ungleichheitsverhältnisse geprägt ist. 

Es fehlt ein Maßstab für gerechte Staatlichkeit

Dieses unitäre Verständnis von Volkssouveränität führt dazu, dass Demokratie unabhängig vom konkreten gesellschaftlichen Kontext und insbesondere unabhängig von den ungleichen Geschlechterbeziehungen existiert. Ein Maßstab für gerechte Staatlichkeit fehlt ebenso wie eine verfassungsrechtliche Sprache für die Thematisierung von geschlechtergerechter Demokratie. Auch gab es bisher keinen Rechtsfall vor dem BVerfG, der Anlass gegeben hätte, eine solche zu entwickeln. Aus diesem Grund sind auch die gängigen Einwände wenig verwunderlich (siehe auch VerfGH RhPf v. 13.6.2014, VGH N 14/14; BayVerfGH 26.3.2018, Vf. 15-VII-16 zu Aktionsbündnis Parité in den Parlamenten). Sie übersehen aber, dass die formale Gleichheit eine historische ist, die als Maßstab für die Gleichberechtigung der Geschlechter unzureichend ist. Für die Gleichberechtigung bedarf es einer materialen Perspektive, die genau hinschaut und die strukturellen Ursachen für die anhaltende Ungleichheit untersucht. Eine materiale Gleichheitsperspektive legt das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Gleichberechtigung der Geschlechter gemäß Art. 3 Abs. 2 und 3 GG regelmäßig zugrunde. Diese kann daher für die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit einer paritätischen Wahlrechtsreform nicht einfach ignoriert werden. Das Schweigen von Di Fabio im Spiegel-Interview zur Dogmatik von Art. 3 Abs. 2 und 3 GG scheint für den gegenwärtigen Verfassungsdiskurs jedoch symptomatisch zu sein.

Eine materiale Perspektive auf Demokratie und Repräsentation 

Wie kann also eine materiale Perspektive auf Demokratie und Repräsentation aussehen? Historisch sind die staatliche Ordnung, die Öffentlichkeit und das Wahlrecht konstitutiv mit dem Ausschluss von Frauen verbunden. Die Frauenbewegung musste sich die politische Inklusion erst erkämpfen. Ein materiales Verständnis von Demokratie, das den historischen Ausschluss von Frauen aus den staatlichen Institutionen reflektiert, muss daher auf die Transformation exklusiver staatlicher Strukturen gerichtet sein. Die „Gruppe der Frauen“ muss dabei nicht als eine homogene verstanden werden, die über einen vermeintlich authentischen Willen verfügt. Vielmehr ist von einem schwachen Gruppenbegriff auszugehen, der sich über ein potentiell geteiltes Erfahrungswissen und einen historisch umkämpften Ausschluss definiert. In diesem Sinne geht es in einer materialen Perspektive nicht darum, ein Spiegelbild der Gesellschaft oder eine vormoderne ständische Repräsentation in den Parlamenten zu erreichen, sondern darum, historisch exklusive Strukturen in inklusive zu transformieren. Dabei ist die Gewährleistung einer gleichberechtigten Präsenz zuvor ausgeschlossener Subjekte selbst ein demokratisches Prinzip, sie bringt als symbolische Repräsentation die Anerkennung zuvor Ungleicher als Gleiche zum Ausdruck (dazu Phillips, The Politics of Presence, 1995).

Eine materiale Perspektive kann an die BVerfG-Rechtsprechung zum Wahlrecht unmittelbar anschließen (dazu Laskowski, djbZ 2014). Volkssouveränität bedeutet nach dieser die Rückbindung der Staatsgewalt an den demokratischen Volkswillen. Sie garantiert den Bürger*innen das »Recht auf freie und gleiche Teilhabe an der demokratischen Selbstbestimmung« (z. B. BVerfGE 131, 316 (336)). Für die gleichberechtigte Teilhabe an der Herrschaftsausübung bedarf es einer gleichberechtigten Präsenz von Frauen in den Parlamenten. Dass sich diese nicht notwendigerweise in eine Politik für Frauen übersetzen muss, ist dabei nicht erheblich, da schon die gleichberechtigte Teilhabe ein demokratisches Prinzip ist.

Eine materiale Perspektive kann sich dogmatisch auf drei Gründe stützen: 

(1.) Der Gleichstellungsauftrag gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG beschränkt sich nicht auf den gesellschaftlichen, sondern erstreckt sich auch auf den staatlichen Bereich und erfordert daher, dass die Gleichstellung in den Parlamenten Wirklichkeit wird. Der Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG ist also ernst zu nehmen: der Staat wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. 

(2.) Bei Rechtsfällen zu geschlechtergerechter Demokratie geht die Wahlrechtsgleichheit entsprechend der Dogmatik von Art. 3 Abs. 2 und 3 GG von einer asymmetrischen Realität aus, also nicht von abstrakten Gleichen, sondern von anhaltenden ungleichen Geschlechterbeziehungen, die sich in „neutralen“ politischen Prozessen in eine (mittelbare) Diskriminierung von Frauen übersetzten.

(3.) Das Demokratieprinzip ist auch darauf gerichtet, den historischen Ausschluss von Frauen aus den staatlichen Institutionen zu überwinden und eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an der Herrschaftsgewalt in Gestalt einer gleichberechtigten Präsenz zu gewährleisten. Parallel zur grundrechtlichen Dogmatik ist das Demokratieprinzip also dahingehend weiterzuentwickeln, dass es eine gewährleistende Dimension aufweist, die die gleiche demokratische Teilhabe an der Staatsgewalt für die bisher unzureichend repräsentierte Gruppe der Frauen sicherstellt. 

Von den gängigen Einwänden gegen eine Wahlrechtsreform, die Parität in den Parlamenten ernst nimmt, bleibt damit wenig übrig. Die Wahlrechtsgleichheit steht einer solchen nicht entgegen. Denn auch nach einer Wahlrechtsreform, die verlangt, dass Frauen und Männer in gleicher Anzahl gewählt werden müssen, liegt aus streng formaler Perspektive keine Benachteiligung einer Genusgruppe vor. Aber selbst wenn man darin eine die Wahlrechtsgleichheit beeinträchtigende Differenzierung sähe, kann diese durch Gründe gerechtfertigt werden, die von der Verfassung legitimiert und von solchem Gewicht sind, dass sie der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten können (z. B. BVerfGE 121, 266 (297)). Die Durchsetzung der Geschlechtergleichheit stellt einen solchen Grund dar. 

Die Beschränkung der Freiheit der Parteien, frei über die Aufstellung von Kandidat*innen zu entscheiden, ist ebenso durch eine materiale Perspektive gerechtfertigt. Die Parteien haben die Aufgabe, als Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft das politische Personal zu rekrutieren und politischen Nachwuchs zu fördern. Sie hatten nun über 70 Jahre Zeit, Frauen dabei „freiwillig“ angemessen zu berücksichtigen. Dies ist ihnen unzureichend gelungen. Es ist daher an der Zeit, sie dazu gesetzlich zu verpflichten. Andere Länder haben gezeigt, dass die Einführung eines auf Parität gerichteten Wahlrechts erfolgreich zu einer gerechten Repräsentation führen kann (zu Frankreich z. B. Laskowski, S. 101 und EU-Kommission, S. 27). Der Gleichstellungsauftrag, eine materiale Wahlrechtsgleichheit und ein gewährleistendes Demokratieprinzip liefern dafür eine ausreichende verfassungsrechtliche Begründung. Eine Ausnahmeregelung wäre für solche Parteien denkbar, die programmatisch nur die Interessen einer Genusgruppe vertreten. In einer gesetzlichen Verpflichtung auf Parität liegt schließlich keine Bevormundung der Wählerschaft, wie dies etwa von Klaus F. Gärditz vertreten wird. Die Parteien suchen weiterhin ihr politisches Personal aus – wenn auch in den Grenzen der vorgegebenen Parität. Den Wähler*innen steht es also weiterhin frei, die Partei zu wählen, deren politisches Programm und deren Personal sie am meisten überzeugt.

Ein erster Schritt 

Damit sollte deutlich geworden sein: verfassungsrechtlich ist der Weg für eine Wahlrechtsreform frei. Sie kann aber nur der Anfang und nicht das Ende einer Debatte über geschlechtergerechte (und minderheitengerechte) Repräsentation sein. Zum einen adressiert sie allein eine binär gedachte Geschlechterdifferenz und erstreckt sich nicht auf die Repräsentation vielfältiger Subjektivtäten. Zum anderen besteht auch für die anderen zwei Staatsgewalten Handlungsbedarf. Dass in der Exekutive Leitungsfunktionen fast ausschließlich an Männer vergeben werden, hat DIE ZEIT erst kürzlich daran gezeigt, dass es in der Vergangenheit mehr beamtete Staatssekretäre mit dem Vornamen Hans gab als Frauen (Die Hans-Bremse, mit weiteren Daten zu den Bundesministerien und Bundesbehörden). Auch hier zeigen die Zahlen, dass eine weitergehende gesetzliche Regelung dringend notwendig ist.


SUGGESTED CITATION  Röhner, Cara: Unitäres Volk oder Parität? Für eine materiale Perspektive auf die Demokratie, VerfBlog, 2019/1/04, https://verfassungsblog.de/unitaeres-volk-oder-paritaet-fuer-eine-materiale-perspektive-auf-die-demokratie/, DOI: 10.17176/20190211-223822-0.

27 Comments

  1. Ronald Fein Fri 4 Jan 2019 at 15:49 - Reply

    Wie dämlich die Argumentation von angeblicher Diskriminierung nur aufgrund unterschiedlicher Verteilung ist, zeigt sich schon allein daran, dass niemand die Kriminalstatistik und den Frauenanteil bei Gefängnisinsassen mit einer Diskriminierung beklagt. Und das, obwohl es dabei allein um Folgen staatlichen Handeln geht.

    Wenn Männer und Frauen statistisch unterschiedlich verteilt Interessen und Fähigkeiten haben, dann kann sich das auch statistisch in unterschiedlichen Gebieten wie Bundestagsmandate und Gefängnisinsassen auswirken. Wenn man allerdings diesen statistischen Unterschied verneint, dann kann man nicht einerseits die eine unterschiedliche Verteilung nur bei Bundestagsmandaten beklagen ohne dabei die viel stärkere Abweichung bei Gefängnisinsassen, welche allein durch direktes staatliches Handeln entsteht, nicht auch zu beklagen. Alles andere sind einfach verlogene Doppelstandards.