12 July 2024

Die verwundbare Demokratie

Am Montag in einer Woche wird das Buch erscheinen, an dem ich mit Unterstützung unseres Thüringen-Teams über die letzten Monate gearbeitet habe. “Die verwundbare Demokratie” ist sein Titel, Hanser heißt der Verlag, und die ersten gedruckten Exemplare haben wir diese Woche geliefert bekommen. Wer je ein Buch geschrieben hat, wird meine Freude verstehen. Wer nicht, vielleicht auch.

In diesem Buch unternehme ich den Versuch, auf den autoritären Populismus als Strategie scharf zu stellen: Es geht nicht um “Inhalte”, über die man sich mit den Populisten auseinandersetzen könnte und müsste. Es geht nicht um die Interessen, Wünsche und Präferenzen von “Abgehängten” oder “besorgten Bürgern” oder sonst irgendwem. Es geht um eine Strategie, die darauf abzielt, ein autoritäres Regime zu errichten. Wer heutzutage nach autoritärer, weder durch demokratischen Wettbewerb noch durch rechtsstaatliche Kontrolle noch durch eine kritische Öffentlichkeit mehr kontestierbarer Herrschaft strebt, braucht keinen Militärputsch und keinen Staatsstreich mehr zu riskieren. Viel effektiver und weniger riskant ist es, die Institutionen der liberalen Demokratie selbst für dieses Ziel einzuspannen. Das ist es, was die autoritären Populisten tun, überall auf der Welt und längst und mit bestürzendem Erfolg auch in Deutschland.

Den Schlüssel dazu liefert der identitäre, essenzialisierende Begriff, den die autoritären Populisten sich und ihren Anhängern von dem Volk machen, von dem in der bundesdeutschen Demokratie bekanntlich alle Staatsgewalt ausgeht. Wenn dieses Volk nicht als offener, rechtlich gestaltbarer und in demokratischen Verfahren immer neu reproduzierter Vorgang verstanden wird, sondern als ein Faktum, das allem Recht und aller Politik voraus liegt und naturhaft und homogen und mit sich selbst identisch in der Geschichte herumsteht – dann werden die Institutionen nicht mehr benötigt, um den Demos zu reproduzieren, sondern lassen sich zu Instrumenten des eigenen Machtgewinns bzw. -erhalts und der Ausgrenzung und Entrechtung aller möglichen vulnerablen Minderheiten umfunktionieren.

Dieses Umfunktionieren erfordert erhebliches juristisches Geschick. Das besitzt der autoritäre Populismus in wachsendem Umfang, wie man längst nicht mehr nur in Ungarn sehen kann. Diejenigen, die sich dieser Strategie entgegenstellen sollen und wollen, als Funktions- und Entscheidungsträger*innen innerhalb der Institutionen, aber auch als Teile der breiten demokratischen Öffentlichkeit generell, sind da vielfach im Rückstand, allein schon deshalb, weil sie diesen instrumentellen Blick auf die Institutionen schon in the first place gar nicht teilen und sich entsprechend schwer damit tun, sich diese Szenarien überhaupt vorzustellen. Und umso anfälliger sind sie dafür, sich überrumpeln und auf dem falschen Fuß erwischen und vor vollendete Tatsachen stellen zu lassen. Wenn sie erst einmal erfahren haben, was hier gespielt wird, womöglich am eigenen Leib, dann ist es für Gegenwehr oft viel zu spät.

Diesen Rückstand auszugleichen oder zumindest zu verringern, ist das Ziel des Thüringen-Projekts. Wir haben über das letzte Jahr untersucht, wie diese Strategie funktionieren könnte, wenn sie auf die Institutionen des Freistaats Thüringen trifft. Wir haben zu diesem Zweck zahllose Gespräche geführt, um Wissen darüber zu generieren, was jetzt schon oder in naher Zukunft auf Thüringen und uns alle zukommen kann. Wir haben uns angesehen, was die autoritären Populisten schon aus der Opposition heraus für Gebrauch von ihren Minderheits- und Teilhaberechten machen könnten, um ihre Strategie voranzutreiben. Wir haben uns angesehen, wie sie die Kommunalverwaltung, die Ministerialbürokratie, den Sicherheitsapparat und die Justiz für ihre Zwecke einspannen können. Wir haben uns angesehen, wie sie die Medien, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, die Bildungs- und Kulturlandschaft dem Ziel unterwerfen könnten, ihr identitäres Volks-Spiegelbild zu reproduzieren. Wir haben uns auch angesehen, wer dagegen aktiv werden könnte, insbesondere auf Bundesebene, und wie man sich eine Intervention des Bundes gegenüber einem Land, das in den Autoritarismus kippt, vorzustellen hätte.

Was wir da herausgefunden haben, steht in diesem Buch. Wenn Sie es hier gleich vorbestellen, haben Sie es pünktlich zum Erscheinungstermin im Briefkasten.

Damit verabschiedet sich dieses Editorial in die Sommerpause. Ihnen alles Gute und eine erholsame Zeit, und lassen Sie den Mut nicht sinken!

Ihr Max Steinbeis

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Die Woche auf dem Verfassungsblog

Ist dieses Urteil der Anfang vom Ende der Alternative für Deutschland (AfD)? Am 25. Februar 2021 stufte das Bundesamt für Verfassungsschutz die AfD als „Verdachtsfall“ ein. Es gebe hinreichend verdichtete tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Partei gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolge. Die AfD wehrte sich gegen diese Einstufung. Am 13. Mai 2024 unterlag sie vor dem Oberverwaltungsgericht Münster erneut.  Das schlug hohe Wellen. Die Veröffentlichung der Urteilsgründe sechs Wochen später jedoch nicht – dabei haben sie ein Verbotsverfahren gegen die AfD und dessen Erfolg wahrscheinlicher gemacht, meint BIJAN MOINI.

Das Oberverwaltungsgericht NRW hat in einem vor der Europawahl ergangenen Eilbeschluss den WDR dazu verpflichtet, die Partei Bündnis Sahra Wagenknecht („BSW“) zu der WDR-Sendung „Wahlarena 2024 Europa“ mit verschiedenen Spitzenkandidaten einzuladen. Das OVG änderte damit die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln ab, welches den Eilantrag des BSW zuvor noch abgelehnt hatte. Warum die Entscheidungen Anlass bieten, die verfassungsrechtliche Struktur und die Kriterien des Zugangs von Parteien zu öffentlich-rechtlichen Wahlkampfsendungen näher zu beleuchten, zeigt ALEXANDER HOBUSCH.

NICOLA BIER kritisiert die Auslieferung von Maja T. nach Ungarn. Das Vorgehen der Generalstaatsanwaltschaft Berlin und des Landeskriminalamts Sachsen sei mit Blick auf die Rolle und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Auslieferungsverfahren rechtsstaatswidrig, weil es gegen das Prinzip der Gewaltenteilung verstoße. Das Bundesverfassungsgericht müsse nun dafür sorgen, dass dieses Vorgehen keine Schule mache.

Die Innenministerkonferenz hat kürzlich wieder einmal die Einführung eines eigenen Cybermobbing-Straftatbestandes gefordert. KAI CORNELIUS befürwortet das Vorhaben. Trotz inzwischen vorgenommener Gesetzesanpassungen sei ein spezieller Straftatbestand notwendig, unter anderem wegen der teils gravierenden Folgen für die Opfer.

Nach dem tödlichen Angriff auf den Polizisten Rouven L. in Mannheim plant das Bundesjustizministerium eine Strafrechtsreform. THOMAS FELTES kritisiert den Entwurf, der mehr und härtere Strafen vorsieht. Das Vorhaben erschöpfe sich in Symbolpolitik. An der Gewalt gegen Polizist:innen und Rettungskräfte ändere der Entwurf nichts. Vielmehr widerspreche er der umfassenden kriminologischen Forschung zu dem Thema.

Frankreich hat gewählt – und mit dem Sieg des Linksbündnisses für eine große Überraschung gesorgt. Auch wenn der Aufstieg des autoritär-populistischen Rassemblement National damit einen Dämpfer bekommen hat, so bleiben die politischen Verhältnisse instabil, wie GIOVANNI CAPOCCIA im letzten Teil seiner Frankreich-Trilogie zeigt. Auch CYPRIEN FLUZIN hat sich die drohende politische Instabilität in Frankreich angeschaut und kurz vor den Wahlen ein paar Szenarien durchgespielt. Für die französische Verfassung stelle die aktuelle politische Landschaft einen der größten Stresstests dar.

Seit Beginn der ungarischen Ratspräsidentschaft verfolgt der ungarische Premierminister Viktor Orbán eine aktive Außenpolitik. Er reiste nach Kiew zu einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, stattete dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau einen Überraschungsbesuch ab, nahm an einem informellen Gipfeltreffen der Organisation der Turkstaaten teil, das von Ilham Aliyev, dem Präsidenten Aserbaidschans, ausgerichtet wurde, und flog dann nach Peking zu einem Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping. PETER VAN ELSUWEGE zeigt, warum das europarechtlich nicht unproblematisch ist und in Hinblick auf Ungarns Verpflichtungen im Rahmen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Fragen aufwirft.

Es tut sich was in Sachen Gewaltshilfeschutz – und das nicht nur auf europäischer, sondern auch auf nationaler Ebene. Das geplante deutsche Gewalthilfegesetz könnte endlich den Ausbau von Schutzunterkünften vorantreiben und die umstrittene Finanzierungsfrage klären. LENA GUMNIOR hat sich den Entwurf angeschaut und kommt zu dem Schluss, dass dieser zwar den Weg in die richtige Richtung ebnet, einige der wichtigen Punkte dort aber noch nicht abschließend geklärt sind.

Die klassische Kritik von Hobbes am Völkerrecht besagt bekanntlich, dass „Verträge ohne Schwert bloße Worte sind”. Da Israel den einstweiligen Maßnahmen des IGH in der Rechtssache Südafrika gegen Israel nicht nachkam, ersuchte Südafrika am 29. Mai 2024 den Sicherheitsrat gemäß Artikel 41 des IGH-Statuts, „den Entscheidungen des Gerichtshofs Wirkung zu verleihen“. MISCHA GUREGHIAN HALL zeigt, warum Diskussionen über die Frage, ob der Rat befugt ist, einstweilige Maßnahmen des Gerichtshofs gemäß dem IGH-Statut zu überwachen und durchzusetzen, einen wichtigen Punkt übersehen.

Unmittelbar nachdem bekannt wurde, dass der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle unter anderem gegen Benjamin Netanyahu und Yoav Gallant beantragt hat, äußerten sich auch deutsche Stimmen, die die Zuständigkeit des IStGH in Zweifel zogen. CHILE EBOE-OSUJI, ehemaliger Präsident des IStGH, geht bei uns dem Verhältnis von ius cogens-Normen und Vertragsvölkerrecht nach und erläutert, warum der IStGH sowohl mit Blick auf israelische als auch russischen Staatsangehörige zuständig ist.

In Zypern sieht ein neuer Gesetzesvorschlag eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren für die Verbreitung von Fake News vor. NATALIE ALKIVIADOU argumentiert, dass die strafrechtliche Verfolgung von Fake News Gift für die freie Meinungsäußerung, den Medienpluralismus und die Demokratie ist. Die Kriminalisierung habe einen „Abschreckungseffekt“ und führe zu einer Selbstzensur von Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

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Sind polizeiliche Schmerzgriffe bei friedlichen Versammlungen rechtmäßig? Obwohl solche Grifftechniken extreme Schmerzen verursachen, wenden Polizeikräfte diese in einigen Bundesländern fast schon routinemäßig an. Unser aktuelles Blog-Symposium leuchtet den Rechtsrahmen von Schmerzgriffen aus straf- und verfassungsrechtlicher Perspektive aus. Alle Texte dazu gibt es hier – und wie immer: open access!

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Diesen Monat porträtiert ANN-SOPHIE HARTMANN Annie Ruth Jiagge. Der Beitrag ist Teil des Symposiums Outstanding Women of International, European and Constitutional Law.

Neues Blog-Symposium: Ungeschriebene Regeln im Verfassungsrecht 

Das Blog-Symposium zu ungeschriebenen Regeln im Verfassungsrecht untersucht das Phänomen des ungeschriebenen Konstitutionalismus aus einer vergleichenden Perspektive mit Beiträgen aus Deutschland, Kanada und dem Vereinigten Königreich, drei Rechtsordnungen, in denen ungeschriebene Verfassungsregeln sehr unterschiedliche Rollen spielen. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie ungeschrieben sind, erfüllen sie wichtige Funktionen innerhalb des Verfassungssystems. THOMAS WISCHMEYER lieferte den Aufschlag mit einer konzisen Analyse des Zustands im deutschen Verfassungsrecht.  Der positive Text des Grundgesetzes ist hier immer noch zentral, wobei Wischmeyer gute Gründe herausarbeitet, die eine Reflektion dieser Einseitigkeit erfordern. VANESSA MACDONNELL veranschaulicht den Dualismus von geschriebenem und ungeschriebenem Verfassungsrecht in Kanada. Sie regt ebenfalls an, die ungeschriebenen Bestandteile stärker in den Fokus zu rücken. SE-SHAUNA WHEATLE und  NICOLAS KILFORD zeigen die teils schwierigen Abgrenzungs- und Machtfragen auf, die sich in einer Verfassungsrechtsordnung ergeben, die ungeschrieben ist. DIEGO PLATZ PEREIRA spürt der Rolle von ungeschriebenem Recht in der Brasilianischen Verfassungsrechtsordnung nach. Den Bedarf an dieser Kategorie an Normen macht er unter anderem daran fest, dass sie der Überwindung der Komplexität der geschriebenen Verfassung dienlich sein können. HILLARY NYE und PETER OLIVER gehen dem Begriff und der Funktionsweise von Prinzipien im Verfassungsrecht nach. RUTH HOUGHTON verortet ungeschriebene Verfassungsnormen im globalen Konstitutionalismus. HANNAH BIRKENKÖTTER wirft einen Blick auf die Vereinten Nationen. Sie spürt der ungeschriebenen Idee der Rechtsstaatlichkeit nach und stellt fest, dass diese durch ein anderes ungeschriebenes Konzept ersetzt wird, nämlich die „Inklusivität”.

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Das wär’s für diese Woche! Ihnen alles Gute,

Ihr

Verfassungsblog-Editorial-Team

 

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