This article belongs to the debate » Parteitage
19 March 2022

Digitaler Wahlparteitag statt Briefwahlparteitag!

Die Digitalisierung stößt in Deutschland auf manche Hindernisse. Das gilt auch für das Recht der politischen Parteien. Besonders deutlich wurde das bei der Wahl von Friedrich Merz zum Vorsitzenden der CDU. Nachdem Armin Laschet seinen Rücktritt angekündigt hatte, führte die CDU zunächst eine Mitgliederbefragung durch, um einen neuen Vorsitzenden zu finden. In dieser Befragung erhielt Friedrich Merz 62,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Daraufhin wählten ihn die 1001 Delegierten eines Onlineparteitags mit 94,6 Prozent der abgegebenen Stimmen zum neuen Vorsitzenden. Damit war das Wahlverfahren jedoch nicht etwa abgeschlossen. Vielmehr wurde nach dem Onlineparteitag „aus rechtlichen Gründen“ noch eine Briefwahl der Delegierten des Parteitags durchgeführt. In dieser Briefwahl kam Merz auf 95,33 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Wahl einer stellvertretenden Generalsekretärin kann erst im Sommer erfolgen, wenn die Satzung der Partei auf einem Präsenzparteitag geändert worden ist. Auch die beiden neuen Vorsitzenden der Grünen Ricarda Lang und Omid Nouripour erhielten auf einem Präsenzparteitag am 29. Januar 2022 zwar 75,93 bzw. 82,58 Prozent der Stimmen. Rechtlich verbindlich ist aber erst eine Briefwahl, die bis Mitte Februar 2022 gedauert hat.

Elektronische Wahlen und Öffentlichkeit

Welche rechtlichen Gründe waren es, die einer rechtsverbindlichen elektronischen Wahl entgegenstanden? Die einschlägige gesetzliche Regelung findet sich in § 5 Abs. 4 Satz 3 des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Dort heißt es: „Dies gilt nicht für die Beschlussfassung über die Satzung und die Schlussabstimmung bei Wahlen nach § 9 Absatz 4 des Parteiengesetzes.“ Damit werden eine elektronische Beschlussfassung eines Parteitags über die Satzung und eine elektronische Schlussabstimmung bei Vorstandswahlen ausgeschlossen. Warum ist das so geregelt? Der Gesetzgeber hat sich offenbar selbst in Zeiten der Pandemie nicht in der Lage gesehen, Satzungsänderungen und Vorstandswahlen auf einem elektronischen Parteitag zuzulassen. Die Regelung beruht allerdings nicht auf einer freien politischen Entscheidung, die angesichts der aus ihr folgenden praktischen Probleme auch nur schwer zu erklären wäre. Der Gesetzgeber sah sich durch die Verfassung zu der Regelung gezwungen. In der Beschlussempfehlung des Innenausschusses wird das mit einem Satz begründet: „Satz 3 stellt klar, dass die Ausübung von Mitgliedsrechten im Wege der elektronischen Kommunikation aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht für die Schlussabstimmungen bei innerparteilichen Wahlen nach § 9 Absatz 4 des Parteiengesetzes sowie die Beschlussfassung über die Satzungen der Parteien gilt“ (Bundestagsdrucksache 19/23197, S. 16).

Durch welche verfassungsrechtlichen Vorgaben hat sich der Innenausschuss des Bundestags in seiner Entscheidungsfreiheit begrenzt gesehen? Aufschluss geben zwei Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zum Thema „Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Online-Parteitagen und elektronischen Abstimmungen“ (vom 28. Oktober 2020, WD 3-3000-249/20, S. 4 f.) und zum Thema „Elektronische Abstimmungen bei parteiinternen Wahlen per De-Mail“ (vom 30. Oktober 2020, WD 3-3000-254/20, S. 3 ff.). Beide Ausarbeitungen referieren kurz einige Stellungnahmen aus der Literatur, die unterschiedliche Auffassungen vertreten. Der Wissenschaftliche Dienst selbst bezieht sich im Wesentlichen auf das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2009 (BVerfGE 123, 39), auf die sogenannte „Wahlcomputer-Entscheidung“. Dieses Urteil betrifft aber die Nutzung von Wahlcomputern bei Bundestagswahlen und ist jedenfalls nicht unmittelbar auf Vorstandswahlen bei Parteitagen übertragbar. So überrascht es auch wenig, dass der Wissenschaftliche Dienst in seinen Ausarbeitungen die Frage nach der Vereinbarkeit elektronischer Vorstandswahlen auf Parteitagen mit dem Grundgesetz letztlich offenlässt. Der Innenausschuss des Bundestages ist ohne weitere Begründung von der Unvereinbarkeit einer elektronischen Vorstandswahl bzw. Satzungsänderung mit der Verfassung ausgegangen. Bei näherer Prüfung ergeben sich aber starke Zweifel, ob diese apodiktische Aussage zutrifft und ob die gesetzliche Regelung wirklich von der Verfassung verlangt wird.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich jedenfalls bislang weder zur Zulässigkeit elektronischer Vorstandswahlen noch zur Vereinbarkeit elektronischer Satzungsänderungen mit dem Grundgesetz geäußert. In dem Wahlcomputer-Urteil, das inzwischen auch schon bald 14 Jahre zurückliegt, hat der Zweite Senat nur beanstandet, dass bei einer Bundestagswahl „rechnergesteuerte“ Wahlgeräte eingesetzt worden waren, „die auch als elektronische Wahlgeräte oder ,Wahlcomputer‘ bezeichnet werden“, weil alle wesentlichen Schritte einer Bundestagswahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen müssten. Beim Einsatz elektronischer Wahlgeräte müssten die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung zur Sicherstellung der Öffentlichkeit der Wahl gemäß Art. 38 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können (BVerfGE 123, 39 f.). Das Bundesverfassungsgericht betont zwar, dass dem Gesetzgeber bei der Konkretisierung der Wahlrechtsgrundsätze ein weiter Entscheidungsspielraum zusteht. Er darf entscheiden, ob und inwieweit Abweichungen von einzelnen Wahlrechtsgrundsätzen im Interesse der Einheitlichkeit des ganzen Wahlsystems und zur Sicherung der mit ihm verfolgten staatspolitische Ziele gerechtfertigt sind. Gleichzeitig hebt das Gericht aber auf die Manipulierbarkeit und Fehleranfälligkeit elektronischer Wahlgeräte ab. Der Gesetzgeber ist zwar nicht gehindert, bei den Wahlen elektronische Wahlgeräte einzusetzen. Nur muss nach dem Urteil die zuverlässige Richtigkeitskontrolle gesichert sein. Erwähnt werden Wahlgeräte, in denen die Stimmen neben der elektronischen Speicherung anderweitig erfasst werden. Auch lässt der Senat in begrenztem Umfang Ausnahmen vom Grundsatz der Öffentlichkeit zu, um anderen verfassungsrechtlichen Belangen wie den Wahlrechtsgrundsätzen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG Geltung zu verschaffen. Das Gericht erwähnt ausdrücklich die Beschränkungen der öffentlichen Kontrolle der Stimmabgabe bei der Briefwahl. Sie lassen sich damit rechtfertigen, dass eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung erreicht werden soll, um dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl Rechnung zu tragen. Beim Einsatz rechnergesteuerter Wahlgeräte kann der Senat jedoch keine gegenläufigen Verfassungsprinzipien erkennen, die eine weit reichende Einschränkung der Öffentlichkeit der Wahl und damit der Kontrollierbarkeit von Wahlhandlung und Ergebnisermittlung rechtfertigen könnten (BVerfGE 123, 39, 73 ff.).

Es kommt auf die Alternativen an

Damit ist ein entscheidender Gesichtspunkt angesprochen. Die verfassungsrechtlich zulässige Alternative zum Einsatz von Wahlcomputern ist die Benutzung von Stimmzetteln, die händisch ausgezählt werden. Diese traditionelle Ausgestaltung der Wahlhandlung bringt keine Einschränkung der Öffentlichkeit der Wahl oder anderer Wahlrechtsgrundsätze mit sich. Wäre die Alternative zum Einsatz von Wahlcomputern die Briefwahl gewesen, wäre die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise anders ausgefallen. Sowohl der Einsatz von Wahlcomputern als auch die Briefwahl sind mit Einschränkungen der Öffentlichkeit der Wahl verbunden. Dieser Gesichtspunkt ist bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Zulässigkeit der Wahl des Parteivorstands auf einem elektronischen Parteitag von erheblichem Gewicht: die Alternative zum Einsatz digitaler Instrumente ist bei einem elektronischen Parteitag nicht die Nutzung von Stimmzetteln, sondern die Briefwahl. Sie zieht sich notwendig über mehrere Tage oder sogar Wochen hin und zerstört die Einheit der Wahlhandlung. Der elektronische Parteitag verliert seine rechtliche Bedeutung. Die Delegierten beenden ihre Teilnahme an einem elektronischen Parteitag, ohne dass die wirklich wichtigen Beschlüsse über die Wahl des Parteivorstands und mögliche Satzungsänderungen gefasst werden konnten. Das beeinträchtigt die demokratische Bedeutung des Parteitags nicht unerheblich. Bei einer Briefwahl ist die Beschränkung der öffentlichen Kontrolle der Stimmabgabe hier größer als bei einer elektronischen Wahl. Abgesehen von den beträchtlichen Fortschritten der Digitalisierung seit 2009, die auch zu einem höheren Sicherheitsniveau elektronischer Abstimmungen geführt hat, sind die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit der Nutzung von Wahlcomputern mit den Wahlrechtsgrundsätzen nicht auf die elektronische Stimmabgabe bei Parteiwahlen oder Satzungsänderungen zu übertragen.

Zu berücksichtigen ist vielmehr, dass die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG Geltung für die staatlichen Wahlen zum Bundestag beanspruchen. Sie sind nicht einfach auf Parteiwahlen zu übertragen. Politische Parteien bindet das Grundgesetz nicht an die Wahlrechtsgrundsätze. Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG gebietet allerdings, dass die innere Ordnung der politischen Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muss. Diese Vorgabe lässt sowohl dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Regelungen im Parteiengesetz als auch den Parteien selbst in der Ausübung ihrer Satzungsgewalt einen größeren Spielraum. Stellt man Vorstandswahlen auf einem elektronischen Parteitag der erst Tage oder Wochen nach dem Parteitag erfolgenden Briefwahl des Vorstands gegenüber, kann man nur schwer Unterschiede in der Beschränkung der Öffentlichkeit der Wahl feststellen. Wohl aber wird ein Parteitag einer wesentlichen Funktion beraubt, wenn er nicht über den künftigen Vorstand der Partei und die Ausgestaltung ihrer Satzung entscheiden kann. Zudem leidet die Einheit der Wahl nicht unerheblich.

Präsenz und Diskurs

Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings das Bedenken, dass ein elektronischer Parteitag leichter von der Parteispitze gelenkt werden kann und dass die Einwirkungsmöglichkeiten einfacher Delegierter auf die Debatten und Entscheidungen erschwert werden könnten. Dem kann jedoch entgegengewirkt werden. So können die Parteien verpflichtet werden, durch Satzungsregelungen für einen fairen Verlauf elektronischer Parteitage mit ausreichenden Mitwirkungsmöglichkeiten aller Delegierter zu sorgen. Das betrifft sowohl die Auswahl von Delegierten, die präsent an einem hybriden Parteitag teilnehmen als auch die Führung der Rednerliste, die Möglichkeit zu Geschäftsordnungsanträgen usw. Außerdem kann man darauf vertrauen, dass die Delegierten eines elektronischen Parteitags schnell dazu übergehen werden, die sozialen Medien zu nutzen, um sich abzusprechen und Mehrheiten für ihre Anliegen zu finden. Wenn eine politische Partei das für sachgerecht hält, kann sie die elektronische Abhaltung eines Parteitags auch an Mehrheitsentscheidungen binden. Wenn sich die pandemische Lage entspannt, wird die Bedeutung elektronischer Parteitage möglicherweise auch von selbst abnehmen, weil die Delegierten die persönliche Begegnung und die Möglichkeit zum direkten Meinungsaustausch bei einer Veranstaltung bevorzugen. Das Bedürfnis nach sozialen Kontakten in Präsenz und manchmal auch in geselliger Runde sollte nicht unterschätzt werden. Das ändert aber nichts daran, dass die Verfassung richtig verstanden Vorstandswahlen und Satzungsänderungen auf digitalen Parteitagen nicht entgegensteht. Die Annahme eines rechtlichen Zwangs zur Briefwahl nach einem elektronischen Parteitag scheint jedenfalls überprüfungsbedürftig. Die Digitalisierung macht auch vor dem Parteienrecht nicht halt.


SUGGESTED CITATION  Wieland, Joachim: Digitaler Wahlparteitag statt Briefwahlparteitag!, VerfBlog, 2022/3/19, https://verfassungsblog.de/digitaler-wahlparteitag-statt-briefwahlparteitag/, DOI: 10.17176/20220320-001127-0.

One Comment

  1. W Sun 20 Mar 2022 at 00:19 - Reply

    Technologischer Fortschritt macht elektronische Datenverarbeitung nicht einfacher nachvollziehbar, besonders geht dies nicht ohne besondere Sachtkenntnis. Dass ein Gerichtsurteil aelter ist, hebt es meiner Kenntnis nach auch nicht auf. So lange niemand ein neues Urteil erstritten hat beibt es wohl gueltig. Die Bestrebung elementare demokratische Prozesse zu digitalisieren ist in erster Linie eins: gefaehrlich.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Online-Parteitag, Parteienrecht


Other posts about this region:
Deutschland