Der EGMR, zerrieben im Konflikt Russland-Ukraine?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat vor wenigen Tagen im Wege einer vorläufigen Maßnahme gem. Art. 39 der Verfahrensordnung in den laufenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eingegriffen (vgl. Pressemitteilung ECHR 073 (2014)). Man mag fragen: Warum mutet sich der EGMR das zu? Oder auch: Was maßt sich der Gerichtshof an? Glaubt er wirklich, im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes einen internationalen Konflikt befrieden zu können, an dem sich die internationale Diplomatie die Zähne ausbeißt? Der Versuch einer Standortbestimmung.
Rechtsgebundenheit des EGMR
Die erste Frage lässt sich relativ leicht beantworten: Der Gerichtshof mutet sich das deswegen zu, weil er rechtlich dazu verpflichtet ist. Das Handeln des EGMR wie aller Gerichte ist rechtlich gebunden. Insofern ist es nicht Ausdruck eines irgendwie gearteten Aktionismus, wenn der EGMR die vorläufige Maßnahme erlässt. Der EGMR hat nicht aus eigenem Antrieb gehandelt, sondern weil die Ukraine im Rahmen einer Staatenbeschwerde gem. Art. 33 EMRK einen entsprechenden Antrag gestellt hat.
Die Staatenbeschwerde gehört zu den klassischen Reaktionsinstrumentarien menschenrechtlicher Verträge. Allerdings machen die Regierungen im Normalfall hiervon keinen Gebrauch – getreu der Devise „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“. Derartige Rücksichtnahmen spielen bei einem offenen oder verdeckten Ausbruch von Feindseligkeiten naturgemäß keine Rolle mehr. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass es auch im Fall der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Georgien und Russland aus dem Jahr 2008 zu (sogar zwei) Staatenbeschwerden gekommen ist (Webcasts der mündlichen Verhandlungen hier und hier). Übrigens wurden auch in diesem Fall eine vorläufige Maßnahmen vom Gerichtshof angeordnet.
Autoritätsverlust als Risiko
Der EGMR geht mit seiner Anordnung andererseits aber auch ein nicht unbeträchtliches Risiko ein, nämlich das Risiko des Autoritätsverlusts für den Fall, dass seine Anordnung wirkungslos verpufft. Das setzt zunächst einmal voraus, dass die Anordnung gem. Art. 39 VerfO überhaupt rechtsverbindlich ist und nicht nur empfehlenden Charakter hat. Gerade hiervon – von der rechtlichen Unverbindlichkeit vorläufiger Maßnahmen – war der Gerichtshof in seiner ursprünglichen Rechtsprechung zunächst ausgegangen (Fall Cruz Varas u.a.).
Im Fall Mamatkulov und Askarov folgte dann die spektakuläre Kehrtwende – beeinflusst übrigens von der Rechtsprechung des IGH im Fall LaGrand. Seither geht der EGMR davon aus, dass die Anordnungen im Grundsatz verbindlichen Charakter haben. Nach der Pressemitteilung des EGMR hat der Präsident der Dritten Sektion die Konfliktparteien aufgefordert
to refrain from taking any measures, in particular military actions, which might entail breaches of the Convention rights of the civilian population, including putting their life and health at risk, and to comply with their engagements under the Convention, notably in respect of Articles 2 (right to life) and 3 (prohibition of inhuman or degrading treatment).
Man wird nicht von vornherein sagen können, dass diese Anordnung zu unbestimmt sei, als dass sich die Konfliktparteien hieran festhalten und messen lassen müssten.
Es bleibt das Risiko, dass die Konfliktparteien die Anordnung trotz ihrer rechtlichen Verbindlichkeit ignorieren. Das ist indes kein Spezifikum des EGMR. Der IGH hat beispielsweise in dem 2008/2009 erneut aufgeflammten Konflikt zwischen Kambodscha und Thailand um die Tempelanlage von Preah Vihear ebenfalls mit einer vorläufigen Maßnahme (gem. Art. 41 IGH-Statut) reagiert. Derartige Maßnahmen tragen das Risiko der Nichtbefolgung in sich.
Das Sanktionsinstrumentarium, das dem EGMR für den Fall zu Gebote steht, dass insbesondere Russland die vorläufige Maßnahme missachtet, ist rechtlich nicht zweifelsfrei geklärt. Zwar besteht eine gefestigte Rechtsprechung des EGMR in Individualbeschwerdeverfahren, dass ein Verstoß gegen eine vorläufige Maßnahme eine zusätzliche Menschenrechtsverletzung (nämlich des Rechts auf Individualbeschwerde aus Art. 34 EMRK) darstellt, mit der Konsequenz, dass der EGMR dem Kläger eine gerechte Entschädigung gem. Art. 41 EMRK zusprechen kann. Ob sich diese Rechtsprechung auf die Staatenbeschwerde übertragen lässt, ist unklar. Doch selbst wenn dies der Fall wäre – wer glaubt schon, dass sich Vladimir Putin von seinen Plänen allein durch die vage Aussicht auf eine eventuelle Verurteilung zu einer Geldzahlung abhalten lässt?
Völkerrechtliches „forum shopping“?
Eine andere Frage ist, ob mit dem EGMR überhaupt das „richtige“ Gericht angerufen worden ist. Gewiss, in dem Konflikt sind die Menschenrechte der in der Ukraine lebenden Menschen (insbesondere das Recht auf Leben aus Art. 2 EMRK) einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Aber im Hintergrund steht doch eigentlich der Vorwurf an Russland, sich völkerrechtswidrig in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einzumischen. Ist für derartige Fragen nicht eigentlich der IGH in Den Haag zuständig? Betreibt die Ukraine mit ihrer Straßburger Beschwerde gar eine Art völkerrechtliches „forum shopping“?
Zur Beantwortung dieser Frage ist es wiederum hilfreich, den Konflikt zwischen Russland und Georgien zum Vergleich heranzuziehen. Georgien hatte in jenem Konflikt nämlich in der Tat nicht nur den EGMR angerufen, sondern parallel hierzu auch Klage beim IGH eingelegt. Das Problem besteht freilich darin, dass der IGH von den Staaten nicht ohne weiteres wirksam angerufen werden kann. Erforderlich ist vielmehr eine gesonderte Unterwerfungserklärung beider Streitparteien. An einer solchen fehlte es im Georgienkonflikt, weshalb der IGH die Klage als unzulässig verwarf.
Hierin liegt die Besonderheit des Straßburger Verfahrens: Da die Staatenbeschwerde (wie auch die Individualbeschwerde) von keiner weiteren Anerkennung der Gerichtsbarkeit des EGMR abhängig ist, steht der Rechtsweg allen Parteien offen. Die Frage nach einem möglicherweise völkerrechtswidrigen Handeln Russlands stellt sich dann als Vorfrage einer etwaigen Verletzung des Art. 2 EMRK.
Wird der EGMR hier also eine Art „Zweigstelle des IGH“? An der Sinnhaftigkeit einer solchen Funktion kann man durchaus zweifeln. Es ist nicht die Aufgabe des EGMR, allgemein-völkerrechtliche Fragen zu entscheiden, zu denen der IGH aus verfahrensrechtlichen Gründen keine Stellung nehmen kann. Es hat in der Vergangenheit durchaus Fälle gegeben, in denen der EGMR einer derartigen Funktion auszuweichen wusste. Man denke etwa an den Banković-Fall, in dem der EGMR seine Zuständigkeit ratione loci verneinte mit der Konsequenz, dass der EGMR zur umstrittenen Frage der Völkerrechtskonformität des NATO-Einsatzes im Kosovo nicht Stellung zu nehmen brauchte. Oder an den Liechtensteiner Bilderstreit, in dem der EGMR der Bundesrepublik Deutschland in der Frage der Nachbefolgung des Besatzungsrechts einen extrem weiten Beurteilungsspielraum gewährte, während der IGH seine Zuständigkeit ratione temporis verneinte.
So verständlich das Bemühen des EGMR ist, sich aus gewissen Konflikten herauszuhalten, so spricht doch die EMRK mit Art. 15 eine deutliche Sprache: Auch in Konflikten, die „das Leben der Nation bedrohen“, gelten die Menschenrechte (im Grundsatz) fort. Ja, in kriegerischen Konflikten sind die Menschenrechte sogar ungleich schutzbedürftiger als in der „Normallage“, etwa bei diskriminierender Heranziehung zu einer Feuerwehrabgabe in Höhe von (seinerzeit) 225 DM. Dieser Gedanke wiederum spricht für eine Befassung des Straßburger Gerichtshofs auch mit völkerrechtlich umstrittenen Fällen.
Sicher werden die Richter am EGMR nicht der Vorstellung anhängen, der Konflikt Russland-Ukraine ließe sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes schlichten. Dass die vorläufige Maßnahme gleichwohl angeordnet wurde, kann als Ausdruck einer zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen begriffen und gewürdigt werden. Dass sich mit Russland eine ehemalige und von ihrem Selbstverständnis her wiedererstarkende Großmacht in das Straßburger Rechtsschutzsystem eingebunden sieht, ist dabei eine Ironie der Geschichte.