Eigentumsverhältnisse sind antastbar
Über die mögliche Vergesellschaftung von RWE
Die aktuellen Debatten um Kohleausstieg und Energiewende zeigen, dass Entscheidungen auf dem Gebiet der Energiewirtschaft hochpolitisch sind und nicht ohne Blick auf das Wohlergehen dieser sowie folgender Generationen gefällt werden können. Insbesondere die anhaltenden Proteste gegen den Braunkohleabbau unter Lützerath belegen, dass die privatwirtschaftliche Nutzung und Verwertung fossiler Energien zugunsten privater (Rekord-)Gewinne in Zeiten der Klima- und Energiekrise zunehmend auf Ablehnung stößt. Vermehrt werden daher auch Forderungen laut, private Profitinteressen aus den Entscheidungsprozessen auszuschließen und den gewonnenen Entscheidungsraum mit demokratisch legitimierter und gemeinwohlorientierter Unternehmenspolitik zu füllen.
Vergesellschaftungen sind möglich
Dem Gesetzgeber stehen kraft Verfassung umfangreiche Befugnisse zur Umstrukturierung der Wirtschaftsordnung zu. Die Möglichkeit zur Vergesellschaftung wurde in der bundesdeutschen Geschichte noch nicht wahrgenommen, und entsprechend wenig Beachtung fand Art. 15 GG in auch der Rechtswissenschaft. Dies änderte sich im Zuge der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, die eine Sozialisierung großer Wohnungsunternehmen in Berlin anstrebt und im September 2021 einen erfolgreichen Volksentscheid anstrengte. Seitdem nimmt die Vergesellschaftungsidee an Fahrt auf. So gründete sich unter anderem die Initiative „RWE & Co. enteignen“, die eine Demokratisierung des Energiesektors fordert und hierfür Art. 15 GG aktivieren will. Inwiefern kann mittels Vergesellschaftung nach Art. 15 GG eine Demokratisierung des Energiesektors mit Neuausrichtung auf das Gemeinwohl gelingen?
Das Grundgesetz enthält, anders als die Weimarer Reichsverfassung (Art. 151–166 WRV), keinen Teil, der eine Wirtschaftsverfassung festlegt. Zwar begreifen manche Literaturstimmen das Grundgesetz als eine Verfassung der Marktwirtschaft, historisch hat sich der Verfassungsgeber allerdings bewusst für die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes entschieden. Es ist also dem Gesetzgeber überlassen, die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik auszugestalten.1) Vor allem die Möglichkeiten der Inhaltsbestimmung des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) und der Vergesellschaftung (Art. 15 GG) geben ihm umfangreiche Befugnisse, in die herrschende Eigentums- und Wirtschaftsordnung einzugreifen und diese durch einfache Gesetze umzugestalten.
Eingegrenzt wird diese Kompetenz nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich durch die Grundrechte, insbesondere durch Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG sowie dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG.
Art 15 GG ermöglicht es, „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel […] zum Zwecke der Vergesellschaftung […] in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft [zu überführen]“. Grundsätzlich ist also eine Vergesellschaftung des Energiesektors mittels Gesetzes denkbar.
Voraussetzungen einer Vergesellschaftung im Energiesektor
Ob und inwieweit eine Vergesellschaftung von RWE möglich ist, entscheidet sich insbesondere an der Frage, ob Energiekonzerne zulässige Sozialisierungsobjekte sind (a) und welche Anforderungen Art. 15 GG an die Verhältnismäßigkeit einer Vergesellschaftung stellt (b).
a) Energiekonzerne als Sozialisierungsobjekte
Art. 15 GG erlaubt die Vergesellschaftung von „Produktionsmitteln“. Im Bereich der Immobilienwirtschaft wird aktuell umfangreich diskutiert, ob der Wohnungsbestand von Immobilienkonzernen unter diesen Tatbestand fällt. Unstrittig hatte der Parlamentarische Rat im Jahre 1949 noch keine Vorstellung davon, welchen Stellenrang der Dienstleistungssektor in den kommenden Jahrzehnten einnehmen würde und hatte hier wohl eher die Vergesellschaftung industrieller Produktionsmittel vor Augen. Ob nun auch Versicherungen, Banken, Immobilienunternehmen oder Tech-Konzerne Produktionsmittel iSd Art. 15 GG darstellen können, hängt davon ab, ob ein weiter volkswirtschaftlicher oder ein enger industrieller Produktionsmittelbegriff Anwendung finden soll. Im Falle der RWE Power AG stellt sich diese Frage nicht. Als bedeutende Akteurin der Energiewirtschaft ist sie Eigentümerin von klassischen industriellen Produktionsmitteln. Insbesondere die Kohleindustrie hatte der Verfassungsgeber vor Augen, als er zu Art. 15 GG beriet.
In Bezug auf die Energiewirtschaft ist laut Art. 15 GG außerdem eine Vergesellschaftung von „Naturschätzen“ zulässig. Hierunter fallen neben Bodenschätzen auch Naturkräfte. Es ist also nicht nur die Bergbausparte, die im Fall einer Vergesellschaftung von RWE umfasst wäre, sondern auch die Gewinnung erneuerbarer Energien aus Wind-, Solar- und Wasserkraft. Ob über die Naturschätze hinaus auch die damit verbundenen Unternehmensstrukturen umfasst sind, ist strittig. Diese wären jedenfalls als Produktionsmittel vergesellschaftungsfähig.2)
Die Möglichkeit einer Vergesellschaftung von RWE stützt nicht zuletzt auch ein historischer Rückblick auf die angestrebte Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit. Oft wird Art. 15 GG als ein Zeugnis des Kompromisscharakters des Grundgesetzes verstanden. Dies mag teilweise überzeugen, übersieht jedoch die breite Unterstützung für Vergemeinschaftungen der Großindustrie in der Nachkriegszeit. Nicht nur SPD und KPD, sondern auch die bürgerlich-konservativen Parteien sowie die Nationalökonomie und Kirchen traten für umfassende Vergesellschaftung ein.3) Die CDU stellte 1947 in ihrem Ahlener Wirtschaftsprogramm fest: „Kohle ist das entscheidende Produkt der gesamten deutschen Volkswirtschaft. Wir fordern die Vergesellschaftung der Bergwerke“. Hiervon zeugen auch zahlreiche Landesverfassungen, die zu dieser Zeit erlassen wurden und weit überwiegend umfangreiche Vergesellschaftungsklauseln und sogar -aufträge beinhalten (exemplarisch hierzu Art. 40, 41 Hessische Landesverfassung vom 1.12.1946 und Art. 27 der Verfassung von NRW vom 11.7.1950). Die anfängliche Begeisterung für die Demokratisierung wesentlicher Wirtschaftszweige verflog auf Seiten der CDU jedoch schnell und sorgte für eine Frontenbildung innerhalb des Parlamentarischen Rats. Von dieser Zeit und diesem Geist zeugt Art. 15 GG, der als Ergebnis von Bemühungen der SPD und KPD Einzug in das Grundgesetz erhielt und die Perspektive einer Überwindung des Kapitalismus eröffnen sollte.4)
b) Das Problem der Verhältnismäßigkeit
Heftig umstritten ist die Frage, ob die Vergesellschaftung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterliegt. Das Spektrum an verschiedenen Meinungen und Modifikationen der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Art. 15 GG ist umfangreich und teils unübersichtlich (vgl. hier und hier).
Richtig ist, dass Maßnahmen nach Art. 15 GG keiner Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegen.5) Dies ergibt sich logisch aus der Konzeption der Norm als Öffnung in andere Wirtschaftssysteme. Demnach steht der Übergang in eine andere Wirtschaftsordnung im politischen Ermessen des Gesetzgebers und muss gerade nicht gegenüber der herrschenden Eigentums- und Wirtschaftsordnung gerechtfertigt werden. Bei anderer Ansicht wäre der mögliche Anwendungsbereich des Art. 15 GG wesentlich beschränkter als vom Verfassungsgeber beabsichtigt und würde das Grundgesetz gerade doch zu einer grundsätzlich marktwirtschaftlich ausgerichteten Verfassung machen, die nur im Ausnahmefall eine Vergesellschaftung erlaubt. Eine solche Lesart liefe auf ein Verständnis der Norm als „Freiheitsrecht auf Nichtsozialisierung“ hinaus, wodurch eine Vergesellschaftung nur bei Vorliegen eines besonders wichtigen, übergeordneten Zwecks möglich wäre. Dagegen spricht jedoch eindeutig der Wortlaut der Norm, welcher die Überführung in die Gemeinwirtschaft „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ und somit als Selbstzweck vorschreibt. Untermauert wird dies durch die Tatsache, dass Hermann von Mangoldt und Thomas Dehler im Parlamentarischen Rat mit ihrem Antrag scheiterten, die Vergesellschaftung nur „zum Wohle der Allgemeinheit“ zuzulassen.6) Zwar wird die Überführung in die Gemeinwirtschaft regelmäßig auf die Verfolgung von Zielen des Allgemeinwohls hinauslaufen. Damit ist das Gemeinwohl jedoch nur die Folge von Vergesellschaftung und nicht ihre Voraussetzung.
Auch restriktive Interpretationen des Art. 15 GG stehen der Vergesellschaftung nicht entgegen
Selbst bei Vornahme einer Verhältnismäßigkeitsprüfung wäre die Vergesellschaftung von RWE möglich. Es existiert ein hinreichend gewichtiges Interesse der Gemeinschaft, den Energiesektor zukunftstauglich und demokratisch zu gestalten. Neben Preissenkungen für Verbraucher*innen könnten die Rekordgewinne von RWE aus den Krisenjahren außerdem für die Umstrukturierung des Energiesektors hin zu erneuerbaren Energien genutzt werden. Ebenso wie beim Wohnraum kommt hinzu, dass fossile Energieträger nur begrenzt verfügbar sind. Dass die Verbrennung dieser verbleibenden Rohstoffe möglichst umweltschonend und nicht profitmaximierend stattfinden muss, ergibt sich nicht zuletzt aus dem vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Gebot der „Schonung künftiger Freiheit„. Eine solche Neuausrichtung kann privatwirtschaftlichen Unternehmen aufgrund ihrer inhärenten Profitorientierung sowie ihrer mangelnden demokratischen Legitimation nicht gelingen.
Neben der Verhältnismäßigkeitsprüfung werden noch weitere Ansichten vertreten, die den Anwendungsbereich von Art. 15 GG beschränken. Teils wird Art. 15 GG als Norm verstanden, die zur Monopol- und Marktmachtbekämpfung geschaffen wurde. RWE ist eines der großen vier Energieversorgungsunternehmen und somit maßgeblicher Akteur in hochsensibler Infrastruktur. Laut Marktmachtbericht des Bundeskartellamts aus 2021 hat RWE damit eine marktbeherrschende Position inne. Auch nach dieser Lesart wäre eine Vergesellschaftung als Mittel zur Monopolbekämpfung zulässig.
Ferner wird Art. 15 GG auch als Norm verstanden, die Markteingriffe nur bei besonderen krisenhaften Umständen zulässt. Angesichts der Ausmaße von Klima- und Energiekrise und der bedeutenden Rolle, die Energiekonzerne in diesen Bereichen einnehmen, steht die Beschränkung auf Krisenzeiten einer Vergesellschaftung ebenfalls nicht entgegen. RWE ist also ein Unternehmen, welches selbst bei Annahme restriktiver Interpretationen vergesellschaftungsfähig ist.
Mehr Demokratisierung wagen
Die nachgeschaltete Frage nach der korrekten Berechnung der Entschädigungshöhe ist ebenso umstritten wie die der Verhältnismäßigkeit, für die hier aufgeworfene Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit einer Vergesellschaftung von RWE jedoch ohne Bedeutung. Überzeugend ist, eine Entschädigung unter Verkehrswert grundsätzlich zuzulassen, da die Entschädigungspflicht andernfalls zu einer„Sozialisierungsbremse“ wird – eine Funktion, die ihr nicht zugedacht ist.7) Unabhängig von den Detailfragen scheint eine Vergesellschaftung in Anbetracht der staatlichen Milliardenbeträge, mit denen sich Energiekonzerne den Kohleausstieg vergolden lassen, finanzierbar. Die Möglichkeiten der Finanzierung sind zahlreich. Sie kann falls nötig über Jahrzehnte erfolgen und anteilig über die Einnahmen der vergesellschafteten RWE Power AG finanziert werden. Auch die kürzlich erst erfolgte Verstaatlichung von Uniper zeigt, dass solche Vorhaben finanzierbar sind.
Abschließend bleibt festzuhalten: Der Verfassungsgeber gestaltete das Grundgesetz wirtschaftssystemoffen. Mit Art. 15 GG wurde er umfassend dazu ermächtigt, Unternehmen und ganze Wirtschaftszweige zu vergesellschaften, um sie zugunsten des Gemeinwohls zu nutzen. Trotz zahlreicher Versuche der Literatur, den Anwendungsbereich von Art. 15 GG möglichst eng zu ziehen, stehen die Eingrenzungen auf die Verhältnismäßigkeit, die Krisenfunktion oder die Ausrichtung auf Monopolbekämpfung einer Vergesellschaftung nicht im Wege.
Der Protest gegen RWE und den sogenannten Kompromiss zum Kohleabbau resultiert nicht zuletzt aus dem privatwirtschaftlichen Aufbau des Energiesektors und der damit verbundenen Erwirtschaftung von Rekordgewinnen auf dem Rücken krisengeplagter Verbraucher*innen und zukünftiger Generationen. Eine gerechte und nachhaltige Stromversorgung ist ein Bereich, der gemeinwirtschaftlich gestaltet werden kann und sollte. So könnten Fragen rund um Preisgestaltung, Kohleausstieg, Nuklearenergie und Energiewende in demokratischen Entscheidungsprozessen beantwortet und die Unternehmenspolitik dahingehend ausgerichtet werden. Die RWE Power AG ist somit ein in allen Belangen geeignetes Sozialisierungsobjekt.
Für engagierte Diskussion und Kritik danke ich Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Marje Mülder und Jonas Neudecker.
References
↑1 | Vgl. hierfür Bäumler, DÖV 1979, 325. |
---|---|
↑2 | Durner, Dürig/Herzog/Scholz GG-Kommentar, Art. 15 GG Rn. 35 ff. |
↑3 | Durner, Dürig/Herzog/Scholz GG-Kommentar, Art. 15 GG Rn. 8 ff. |
↑4 | Mayer/Stuby, Die Entstehung des Grundgesetzes, S. 125, 138 ff.; Hans-Peter Ipsen, Enteignungen und Sozialisierung (Tagungsband), S. 102 ff. |
↑5 | Kingreen/Poscher, Staatsrecht II 38. Aufl., Rn. 1250; Röhner, KJ 2020, 16 (18). |
↑6 | Stuby/Mayer, Die Entstehung des GG, S. 125. |
↑7 | Thiel, DÖV 2019, 497 (500). |
Die Zwischenüberschrift „Mehr Demokratie wagen“ ergibt auch mit Blick auf den Folgeabschnitt keinen Sinn. Die zur Gesamtbevölkerung verhältnismäßig geringe Anzahl der Demonstranten versucht, eine gesetzgeberische Entscheidung mit Mittel der Besetzung und des Protests, also eher unfriedlich, aufzuheben. Das ist genau das Gegenteil von Demokratie. (Hausfriedensbruch ist niemals friedlich)
Vergesellschaftung ist durchaus denkbar, aber nicht unter Umgehung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, die gesetzgeberische Entscheidung zugunsten dem Abbau kann wegen mehrerer Tausender nicht rückgängig gemacht werden. Die Zukunft muss anders gestaltet werden.
Sehr geehrter Herr Petzold
Unter Umständen ergibt der Absatz für Sie keinen Sinn, da Sie die Überschrift falsch gelesen haben. Dort steht „mehr Demokratisierung wagen“ und nicht „mehr Demokratie wagen“. Die Demokratisierung der Wirtschaft ist ein von der Demokratie (oder auch der Demokratisierung von politischen Entscheidungsprozessen mittels Parlamentsvorbehalt) zu unterscheidener Prozess, auch wenn er meiner Meinung nach mit der Demokratie zusammen gedacht werden muss (aA natürlich vertretbar). Das Missverstädndnis ist aber wahrscheinlich der Anlehnung an das Zitat Willy Brandts geschuldet, welche ich eventuell deutlicher hätte ausarbeiten können.
Auch beziehe ich an keiner Stelle Position für oder gegen die Demostrierenden, die ihrer Meinung nach „Hausfriedensbruch“ begehen (ich verweise aber auf Herr Steinbeis Editorial von vor 2 Wochen: https://verfassungsblog.de/nichts-ist-gut/). Hinsichtlich den jetzt noch offenen parlamentarischen Gestaltungsspielraum verweise ich gerne auf einen anderen Verfassungsblog-Beitrag (https://verfassungsblog.de/handeln-erlaubt/). All dies zeigt, dass die Entscheidungen durcha