13 January 2023

Nichts ist gut

Nu ist aber mal gut! Irgendwann muss dann auch mal Ruhe sein. Im demokratischen Rechtsstaat gibt es schließlich rechtlich geregelte Verfahren zur kollektiv verbindlichen Entscheidung dessen, was gelten soll. Und wenn diese Verfahren sauber durchlaufen worden sind, dann sind ihre Ergebnisse von allen zu akzeptieren. Wer das nicht tut, setzt sich nicht nur ins Unrecht. Nein, schlimmer: Stellt sich gegen die Demokratie!

Das ist der Blickwinkel, den viele einnehmen in diesen Tagen, wenn es um den Kampf um Lützerath geht, das verlassene Dorf an der Abbruchkante des Tagebaugebiets Garzweiler II, das der Energiekonzern RWE abbaggern will, um die darunter liegende Braunkohle mitsamt dem darin gebundenen CO2 zu unser aller Energiesicherheit durch den Schornstein zu jagen. “In einer Demokratie”, sagt die sozialdemokratische Bundesinnenministerin Nancy Faeser, “entscheiden Parlamente und demokratisch gewählte Regierungen. Wer seine Anliegen mit Gewalt erzwingen will, verlässt diesen Konsens.” Den Klimaaktivist*innen, die Lützerath besetzt haben, so der Leitartikler der FAZ Reinhard Müller, gehe es nicht anders als den Autobahn- und Kreuzungsblockierern der Letzten Generation “um die kontinuierliche Desavouierung demokratisch legitimierter Entscheidungen”, da sie sich “die Gewalt im vermeintlichen Kampf gegen den Klimawandel (…) auf die Fahnen geschrieben” und “das Recht in die eigene Hand genommen” haben.

Wenn das so ist, dann ist das in der Tat schlimm. Dann sind die Klimaaktivisten sozusagen auf der Linken das, was Trump, Bolsonaro, die Theokraten und autoritären Populisten auf der Rechten sind: Leute, die nicht akzeptieren, dass demokratische und rechtliche Verfahren auch mal gegen ihresgleichen ausgehen können. Eine Parallele, die den FAZ-Redakteur derartig erschreckt, dass er den Klimaaktivist*innen gleich mal einen “Traum von einem anderen Reich” andichtet, als stünde der leibhaftige Prinz Heinrich der Dreizehnte im Kapuzenpulli vor ihm.

Ja, wie gesagt: wenn das so ist. Aber ist das so?

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Ob die rechtlichen Fragen um Garzweiler II  tatsächlich so bis ins Letzte ausverhandelt und ausgeurteilt sind, dass allem Streit ein autoritatives Ende bereitet ist, will ich hier nicht beurteilen. (Nur so viel: Georg Hermes und Thomas Schomerus halten die Festlegung des energiewirtschaftlichen Bedarfs für Garzweiler II im Kohleausstiegsgesetz mit, wie mir scheint, beachtenswerten Argumenten für verfassungswidrig.) Aber mal unterstellt, es sei so: Die Entscheidung, dass Lützerath abgebaggert werden darf, ist endgültig gefallen, rechtlich korrekt und demokratisch legitimiert. Wozu verpflichtet das diejenigen, die sie für falsch halten? Sind sie es Demokratie und Rechtsstaat schuldig, ihren Widerstand einzustellen?

Was man sicherlich nicht verlangen kann, ist Konsens. Demokratie ist dazu da, die Auseinandersetzung über das politisch Wünschenswerte unter Verschiedenen offen zu halten, nicht sie zu schließen. Die Überstimmten müssen gerade nicht zustimmen. Sie können und dürfen das Entschiedene weiterhin für falsch halten. Sie müssen sich nicht einreihen in den allgemeinen Volkswillen. Sie dürfen dagegen und nicht einverstanden bleiben.

Sie dürfen protestieren. Natürlich darf man gegen demokratisch legitimierte Entscheidungen protestieren. Das wäre ja noch schöner. Versammlungsfreiheit ist Minderheitenschutz, das Recht der Überstimmten. Sie dürfen sich also rausstellen mit ihrem Körper und hinein in den öffentlichen Raum, ihr Dagegensein präsent machen, im Weg sein, lästig fallen. Sie dürfen öffentlich und sichtbar und störend verkörpern, dass man auch nach der demokratisch legitimierten Entscheidung weiterhin über das Entschiedene geteilter Meinung sein kann. Das ist kein Angriff auf die Demokratie, sondern ein Dienst an ihr.

Sie dürfen ihren Körper einsetzen dafür. Sie dürfen mit ihrem schweren, lebendigen, widerständigen Körper allerhand mühsame und heikle Gefahrenabwehrprobleme verursachen. Sie dürfen der zur Gefahrenabwehr zuständigen Behörde zumuten, sie dann halt weg zu tragen, um der demokratisch legitimierten Entscheidung den Weg wieder frei zu machen. All das dürfen sie. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit als Bedingung der Möglichkeit, überhaupt das Wagnis eingehen zu können, sich überstimmen zu lassen, gewährt ihnen diese Freiheit. Was sie natürlich nicht dürfen, ist andere Menschen, insbesondere deren Körper zu gefährden oder zu verletzen, Molotowcocktails oder Steine zu schmeißen und dergleichen, aber das versteht sich eigentlich von selbst; warum sollte das irgendjemand dürfen.

Sie dürfen das im öffentlichen Raum tun. Nicht in meinem Wohnzimmer. Das ist mein privater Raum, da hat ihr Protest nichts verloren. Aber wo der private Raum anfängt und der öffentliche aufhört und umgekehrt, ist seinerseits eine hoch politische Frage. Lützerath ist zwar Privatgelände im Eigentum von RWE. Aber das ist nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Bundesrepublik gottlob kein kategorisches Ausschlusskriterium für den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit mehr (siehe dazu den lesenswerten Beitrag von JAKOB HOHNERLEIN). Dass Lützerath gegen den Willen vieler der dort lebenden Menschen aufgrund verfassungsrechtlich geprüfter Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zum Zwecke des öffentlichen Gemeinwohlinteresses an Energiesicherheit zu einem Stück Privateigentum eines Energiekonzerns gemacht wurde, ist schließlich ein ganz zentraler Teil des Gegenstands des Protestes.

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Sie haben gegen das Betretungsverbot des Kreises Heinsberg geklagt und – im einstweiligen Rechtsschutzverfahren – verloren. Die Polizei darf das Camp räumen. Und sie müssen dulden, dass ihre schweren, lebendigen, widerständigen Körper weggetragen und, sofern sie in zehn Meter Höhe in Baumhäusern sitzen, dort runter geholt werden.

Was daran rechtfertigt auch nur im Entferntesten eine Parallele zu irgendwelchen Reichsbürgern oder anderen autoritären Umsturzversuchen? Ich kann nichts erkennen. Die Menschen, die am Platz der drei Gewalten in Brasília die Justiz- und Regierungsgebäude stürmten, wollten einen Militärputsch provozieren. Nicht anders als Trumps Republikaner stehen sie auf dem Standpunkt, dass ihr Kandidat von Natur aus Wahlsieger sein muss, Verfahren, Fakten, Wahrheit hin oder her. Sie wollen keine Öffnung für ihr Anderer-Meinung-Bleiben-Können. Sie wollen eine Schließung.

Diesen Unterschied zu erkennen, ist nicht so wahnsinnig anspruchsvoll, scheint mir. Da kann man schon drauf kommen, wenn man Bundesinnenministerin ist oder Leitartikler bei der FAZ. Ihm auszuweichen fällt natürlich leichter, wenn man beim Gewaltbegriff dann mit umso größerem Löffel zulangt. Als sei es irgendwie das Gleiche, sich von der Polizei wegtragen zu lassen und sie mit Steinen zu bewerfen. Das Motiv hinter dieser Gedankenverrenkung zu erraten fällt nicht schwer: So bringt man sich die Welt wieder in Ordnung in diesen dunklen Zeiten. Links böse Extremisten, rechts böse Extremisten, und in der Mitte wir verängstigten Normalos, aber auf das Sicherste beschützt von staatlicher Exekutivgewalt. Alles ist gut.

Ich bin morgen jedenfalls in Lützerath anzutreffen. Großdemo. Vielleicht sehen wir uns dort? 12 Uhr geht es los. Würde mich freuen.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:

CENGIZ BARSKANMAZ räumt in der Debatte um die Berliner Silvesternacht auf und kontextualisiert sowohl die CDU-Forderung nach den Vornamen der Täter*innen als auch die Forderung, beschleunigte Strafverfahren gegen Jugendliche Täter*innen anzuwenden.

Zwei Gerichte haben Eilanträge gegen das Betretungs- und Aufenthaltsverbot in Lützerath abgelehnt – und begründen das allein mit dem entgegenstehenden Willen von RWE. JAKOB HOHNERLEIN hält diese Begründung für problematisch und meint, die friedlichen Proteste seien von der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG geschützt.

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Call for Papers: Money as a Democratic Medium 2.0.

June 15-17, Harvard Law School, Cambridge, MA and Hamburg Institute for Social Research and The New Institute, Hamburg, Germany. Open to all students of money, credit, and finance, the monetary system, and the modern economy, including members of the public. The conference will be offered in person and online and we encourage distance participants to join us virtually. Find more information here. 

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THOMAS BUSTAMANTE beleuchtet die Hintergründe des Angriff der Bolsonarist*innen auf die brasilianische Demokratie am 8. Januar 2023. Er gibt einen Überblick über die Ereignisse, die zu dem Anschlag geführt haben, und einen Ausblick auf das, was noch folgen wird.

Der Vergleich des Sturms auf Brasília mit dem Sturm auf Kapitol in den USA im Januar 2021 liegt auf der Hand – oder? CHARLOTTE KLONK zeigt die Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Angriffe auf und blickt dafür auf die Architektur die eingenommenen Gebäude und auf die (geschriebenen) Botschaften der Demonstrant*innen.

In der “Katargate”-Affäre werden die Rufe nach strengeren EU-Lobbying-Regeln lauter. TILMAN HOPPE fragt, warum Regierungen überhaupt erlaubt sein soll, die Parlamente anderer Staaten zu beeinflussen, und problematisiert die Zuständigkeit der EU für die Sanktionierung von Lobbyisten und das schwache System zur Offenlegung der Finanzen und Interessen der Abgeordneten. EMILIO DE CAPITANI befasst sich mit den Unzulänglichkeiten des bestehenden Rahmens für Transparenz und gute Verwaltungspraxis in der EU und kommt zu dem Schluss, dass Katargate symptomatisch für weit verbreitetes Fehlverhaltens auf Verwaltungsebene ist. In der deutschsprachigen Version ihres vorherigen englischen Artikels befasst sich ALINA MUNGIU-PIPPIDI mit der Post-Wahrheit über Korruption in der EU und zeigt, dass die Korruptionsprobleme im Europäischen Parlament am besten vom Parlament selbst gelöst werden könnten.

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Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht lädt in Kooperation mit der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart zu der Vortragsreihe „Ukraine?!- Völkerrecht am Ende?” ein. Am 19.01.2023, 18h, spricht Dr. Carolyn Moser über „Die europäische Sicherheitsarchitektur im Lichte neuer geopolitischer Realitäten: Böses Erwachen und notwendiger Wandel”

Informationen zum Programm und zur Teilnahme in der WLB gibt es hier. 

Hier geht es zur Online-Teilnahme.

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Wenige Tage vor den bevorstehenden tschechischen Präsidentschaftswahlen wurde der ehemalige Ministerpräsident und jetzige Abgeordnete des tschechischen Parlaments Andrej Babiš in einem Strafverfahren wegen Subventionsbetrugs und Schädigung der finanziellen Interessen der EU freigesprochen. JAN BURDA erläutert diesen komplizierten Fall und skizziert seine politischen Auswirkungen.

Im Dezember stellte der niederländische Staatssekretär für Einwanderung eine neue Asylpolitik für russische Wehrdienstverweigerer vor. MAARTEN DEN HEIJER kommentiert den Vorschlag, Asyl möglicherweise zu verwehren, basierend auf der Behauptung des Staatssekretärs, die russische Mobilisierung sei abgeschlossen.

Die neue republikanische Mehrheit im US-Repräsentantenhaus geht von Wahlgang zu Wahlgang, ohne sich auf einen Sprecher des Repräsentantenhauses einigen zu können. KIM LANE SCHEPPELE erklärt, warum das so ist, und überlegt, was das über die Fähigkeit der Republikanischen Partei aussagt, die USA zu regieren.

Highlights der letzten Wochen auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:

ADEL-NAIM REYHANI ordnet die derzeitige Überprüfung der Rechtmäßigkeit der alleinigen Rechtsberatung von Geflüchteten durch eine dem Innenministerium unterstellten Bundesagentur durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof ein.

KLAUS FERDINAND GÄRDITZ bespricht die angekündigte Reform des Beamtendisziplinarrechts, welches vor allem auf eine schnellere Entfernung von Extremistinnen und Extremi