Ein Nachruf ohne Tränen
Das Ende der Grundmandatsklausel
Wahlrechtsreformen sind immer schmerzhaft. Grundlegende Wahlrechtsreformen sind es erst recht. Denn sie stellen viele über Jahrzehnte eingeübte Wahrnehmungsmuster des politischen Systems unter Politikern, Journalisten und in der Bevölkerung in Frage und werden von Parlamentsmehrheiten getroffen, die dabei ihre eigenen zukünftigen Erfolgsaussichten nicht vernachlässigen. Es ist ein Wunder, wenn sie überhaupt zustande kommen. Die gerade vom Bundestag verabschiedete Wahlrechtsreform ist die grundlegendste in der Geschichte der Bundesrepublik. Dass das hohe öffentliche Wellen schlägt, kann nicht überraschen. Besondere Aufregung verursacht die Streichung der sogenannten Grundmandatsklausel, von deren Existenz im Bundeswahlgesetz bis vor kurzem nur Eingeweihte überhaupt Notiz genommen hatten. Nach dieser Vorschrift im noch bis zum Inkrafttreten der Reform geltenden Bundeswahlgesetz sind Parteien, deren Bewerbern es gelingt, bundesweit drei Wahlkreise zu gewinnen, nicht an die Fünf-Prozent-Hürde gebunden. Diese Parteien erhalten also die Zahl von Mandaten, die ihnen nach ihrem Prozentanteil an Zweitstimmen zusteht, auch dann zugeteilt, wenn sie die Sperrklausel verfehlen. Es ist bemerkenswert, dass die Streichung einer Klausel, die seit jeher ernsthaften verfassungsrechtlichen Zweifeln unterliegt und vom Bundesverfassungsgericht nur mit äußerster Mühe noch für verfassungsgemäß erklärt wurde, eine derartige Debatte auslöst.
Das ist um so eigenartiger, als die Kritiker keinerlei auch nur von Ferne valides verfassungsrechtliches Argument gegen die Streichung vorbringen können. Die aus Sicht der Betroffenen nur allzu verständliche politische Klage über ein mögliches zukünftiges Scheitern der Linkspartei oder gar der CSU an der Fünfprozenthürde muss hier das verfassungsrechtliche Argument ersetzen. An dessen Stelle tritt allenfalls verfassungspolitisches Klagen und Raunen. So hat etwa Uwe Volkmann auf diesem Blog gemeint, die Abschaffung der Grundmandatsklausel sei zwar vielleicht nicht offenkundig verfassungswidrig, aber doch irgendwie sehr unschön.
Unschön sind grundlegende Wahlrechtsreformen aber immer, weil sie nicht von Engeln, sondern von Politikern gemacht werden. Man wird auch kaum sagen können, dass die Fraktionen der regierende Ampelkoalition sich hier in der Sache oder kommunikativ besonders professionell gezeigt hätten, haben sie doch die Streichung der Grundmandatsklausel erst spät in ihren Entwurf aufgenommen und diese berechtigte und im neuen Wahlrecht folgerichtige Entscheidung öffentlich nicht hinreichend gegen die absehbare Kritik verteidigt. Aber darauf kommt es auch nicht an. Entscheidend ist, dass gegen diese Streichung keinerlei irgendwie valides verfassungsrechtliches Argument vorgebracht werden kann.
Schon die Entstehung der Grundmandatsklausel im Jahr 1956 war ein wahlrechtliches Trauerspiel erster Güte. Es war die Zeit, in der die Unionsparteien der frühen Bundesrepublik langsam zum zentralen Faktor des bürgerlichen Lagers aufstiegen, dabei aber zunächst noch auf kleinere, mehr oder minder rechtsgerichtete Bündnispartner angewiesen waren, von denen im Bundestag nach 1961 nur die FDP überlebte. Besonders wichtig war dabei die vor allem in Niedersachsen starke Deutsche Partei (DP). Aus dieser Interessenlage der CDU/CSU in den 1950er Jahren heraus entstand die Klausel. Sie erlaubte es, einerseits über die Sperrklausel die Parteienvielfalt zu reduzieren, andererseits durch Absprachen über die Unterstützung von DP-Kandidaten durch die Union in einzelnen Wahlkreisen der Deutschen Partei mindestens drei Direktmandate zu sichern und damit einen verlässlichen Koalitionspartner ohne Rücksicht auf die Sperrklausel in den Bundestag zu hieven. Die Grundmandatsklausel ist ihrer Entstehung nach eine Vorschrift, die Manipulationen zur Umgehung der Sperrklausel Tür und Tor öffnen sollte und auch geöffnet hat. Der Staatsrechtler Hans Nawiasky nannte die Vorschrift damals völlig mit Recht eine „korrumpierende Bestimmung“.
Gemessen an der vom Grundgesetz verbürgten Wahlrechtsgleichkeit war diese Vorschrift von Anfang an kaum zu rechtfertigen. Denn offenkundig liegt hier eine Ungleichbehandlung im Verhältnis zu anderen Parteien vor, die weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erzielen und deshalb nicht im Bundestag vertreten sind. Warum genau soll der Gewinn von drei Direktmandaten diese Ungleichbehandlung rechtfertigen? Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtfertigung noch im Jahr 1997 versucht, indem es die besondere politische Kraft der jeweiligen Partei hervorhob, die aus ihrem mehrfachen Erfolg in der Mehrheitswahl im Wahlkreis abzuleiten sei (BVerfGE 95, 408 [422]). Das war nicht überzeugend, weil nie dargelegt werden konnte, warum bei einer bundesweiten Wahl gewissen örtlichen Stimmkonzentrationen eine derartige überragende Bedeutung beigemessen werden sollte. Angesichts der schwachen Mehrheiten, mit denen inzwischen einige Wahlkreise gewonnen werden, hat das Argument mittlerweile noch stärker an Überzeugungskraft eingebüßt. Vom Bundesstaatsprinzip, das Alexander Dobrindt nun ins Spiel zu bringen versucht, war beim Bundesverfassungsgericht erst recht nie die Rede. Ganz im Gegenteil hat das Gericht bereits in seiner auf Klage der Bayernpartei (!) ergangenen ersten Entscheidung zur Grundmandatsklausel aus dem Jahr 1957 klargestellt, dass der Bundesgesetzgeber bei der Wahl zum Bundestag als dem unitarischen Verfassungsorgan des Bundes föderative Gesichtspunkte nicht zu berücksichtigen braucht (BVerfGE 6, 84, [99]) Ohnehin verlangt die Grundmandatsklausel gerade nicht, dass die drei Wahlkreise in demselben Bundesland gewonnen werden müssen und knüpft also gar nicht an die bundesstaatliche Struktur der Bundesrepublik an. Die Beseitigung einer Regelung, die, wenn überhaupt, nur als Ausnahme verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann, wirft daher kein verfassungsrechtliches Problem auf.
Die Abschaffung der Grundmandatsklausel entspricht überdies dem Grundkonzept der nun vom Bundestag beschlossenen Wahlrechtsreform, auch wenn die Ampelkoalition und ihre Gutachter das erst verspätet erkannt haben. Denn Kern der Reform ist ein konsequenter Übergang zum Verhältniswahlrecht, bei dem die Wahlkreismandate nur noch dann zugeteilt werden, wenn dafür eine entsprechende Zweitstimmendeckung vorliegt. Gerade dadurch wird sichergestellt, dass der bisherige Spuk aus Überhang- und Ausgleichsmandaten verschwindet und der Bundestag in der Zukunft immer genau 630 Mandate haben wird. Das ist die nicht hoch genug zu preisende Leistung der Reform. Wenn aber Wahlkreismandate in der Zukunft nur noch auf hinreichender Zweitstimmenbasis zugeteilt werden, wäre es widersinnig, die relative Mehrheit in drei Wahlkreisen – die als solche nach neuem Recht kein Wahlkreissieg mehr sein wird – für Parteien ausreichen zu lassen, welche die Sperrklausel und damit die hinreichende Zweitstimmendeckung gerade verfehlen.
Angesichts von alledem ist alles Geraune über eine mögliche Wiederbelebung der Grundmandatsklausel durch das Bundesverfassungsgericht ohne jedes verfassungsrechtliche Fundament. Es bleibt freilich das politische Geschmäckle, dass der derzeit regierenden Koalition ein Scheitern der Linkspartei oder der CSU bei der nächsten Bundestagswahl sicherlich nicht ungelegen käme und ihre Motive für die Reform insoweit nicht allein staatspolitisch-lauterer Natur sind. Aber solche mitschwingenden Motive machen den Gesetzesbeschluss des Bundestages nicht verfassungswidrig.
Vielmehr entsteht durch die nun beschlossene Reform erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die begrüßenswerte Situation, dass die Fünfprozenthürde wirklich ausnahmslos für alle Parteien gilt. Wenn manche Akteure das als schmerzhaft erleben, liegt das in erster Linie daran, das sie sich an das verfassungsrechtlich fragwürdige Privileg der Grundmandatsklausel zumindest als Sicherheitsnetz gewöhnt haben und es ihnen zugleich nicht mehr gelingt, verlässlich mehr als fünf Prozent der Wähler hinter sich zu versammeln. Insbesondere bei der CSU mutet es geradezu grotesk an, wie sehr diese Partei nunmehr versucht, ihre eigene Entscheidung, bei Bundestagswahlen ausschließlich in Bayern anzutreten, als Problem des zukünftigen Wahlrechts darzustellen. Es ist jedenfalls verfassungsrechtlich nicht Aufgabe des Wahlrechts zum nationalen Verfassungsorgan Bundestag, politische Geschäftsmodelle ehrgeiziger Regionalparteien zu fördern, die Sorge haben, vor Ort nicht länger fünf Prozent der Wähler für sich zu gewinnen. Solche politischen Geschäftsmodelle können durchaus eine ganze Zeit lang erfolgreich sein, wie es einst für ein paar Jahre der Deutschen Partei der Adenauerzeit gelang oder noch der CSU der letzten Wahlperiode, die auf ihre unnachahmlich burschikose Weise in das noch geltende Wahlrecht drei unausgeglichene Direktmandate hineinverhandelte. Aber das hält eben bestenfalls so lange vor wie die entsprechenden Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Niemand im politischen Berlin hat die jahrelange Blockadehaltung der CSU bei der dringend gebotenen Wahlrechtsreform vergessen. Die CSU hat dort offenkundig keine verlässlichen Freunde mehr, nicht einmal in einem großen Teil ihrer Schwesterpartei. Sie mag daraus politische Konsequenzen welcher Art auch immer ziehen. Auf die Wiederbelebung der Grundmandatsklausel in Karlsruhe sollte sie dabei jedenfalls nicht hoffen. Diese Klausel mag sich ungeachtet ihrer verfassungsrechtlichen Fragwürdigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik gelegentlich politische Verdienste erworben haben: um stabile Bundestagsmehrheiten in den 1950er Jahren oder die politische Integration von Teilen Ostdeutschlands in den 1990er Jahren. Aber derartige historische Verdienste liegen ohnehin allein im Auge des Betrachters. Ehemalige Volksparteien mit unsicheren Zukunftsaussichten in Bayern oder Ostdeutschland wird dieses dubiose Überbleibsel der Adenauerzeit nun jedenfalls nicht mehr vor einem etwaigen sinkenden Wählerzuspruch retten können. Das Ende der Grundmandatsklausel war überfällig. Sie möge in Frieden ruhen.
Die 5 % Klausel ist angesichts der in Artikel 38 GG festgelegten Maßstäbe eine hu rechtfertigende Ausnahme vom Prinzip der Wahlgleichheit. Wir haben uns zwar alle daran gewöhnt, dass es diese Klausel gibt – trotzdem sollte nicht das Gefühl dafür verloren geht, dass durch diese Klausel potentiell viele Bürger mit ihrer Wahlentscheidung nicht im BT vertreten sind.
Man kann deshalb durchaus argumentieren, dass diese Bregrenzung überhaupt nur dann gerechtfertigt werden kann, wenn durch sie nicht wesentliche politische Strömungen unrepräsentiert bleiben. Und deshalb wäre ich mir nicht so sicher, ob es Verfassungsrechtlich in Ordnung geht, wenn die 5 % Klausel ohne Grundmandatsklausel angewandt wird. Mal sehen.
Auf jeden haben die Ampelparteien klar gezeigt, mit wie wenig demokratischem Bewusstsein sie ausgestattet sind. Aber das ist ja bei SPD und Grünen auch keine besondere Überraschung.
Die kurzfristige Streichung der Grundmandatsklausel finde auch ich politisch nicht ganz fair und leider im derzeitigen Klima etwas unklug. Ihr Vorwurf an SPD und Grüne ist trotzdem pauschal-verunglimpfend.
Verfassungsrechtlich dürfte es nicht viel zu meckern geben, auch wenn ich die Fünfprozenthürde kritisch sehe. Eine wirklich gute Lösung im Sinne der Gleichheit der Wahl wäre gewesen, die Grundmandatsklausel zu streichen und im gleichen Atemzug die Fünfprozenthürde auf drei oder dreieinhalb Prozent zu senken. Chance vertan.
Im Übrigen bleiben Parteien nationaler Minderheiten von der Fünfprozenthürde ausgenommen, § 4 Abs. 2 S. 3 BWahlG bleibt nämlich erhalten. Der Satz “[…]dass die Fünfprozenthürde wirklich ausnahmslos für alle Parteien gilt.” stimmt also nicht ganz. Vielleicht kann’s die CSU ja so versuchen. 😉
Entschuldigung, ich muss mich korrigieren, die Ausnahme für Parteien nationaler Minderheiten findet sich im neuen BWahlG in § 4 Abs. 2 S. 3 (BT-Drs. 20/5370), die Systematik hat sich etwas geändert. Im alten BWahlG war’s § 6 Abs. 3 S. 1.
Lieber Herr Schönberger,
danke für diese schlichten, klaren, nicht von politischer Agenda getragenen und in jeder Hinsicht überzeugenden Zeilen.
Der CSU sei empfohlen, schlichtweg von der Grundmandatsklausel auf eine Grundsicherungsklausel zu schwenken: Unbeschadet der von ihr errungenen Erst- und Zweitstimmen ist die CSU mit einer Mandatszahl vertreten, die dem Vom-Hundertsatz der bayerischen Wahlberechtigten zum Bundestag dem insgesamt Wahlberechtigten zum Bundestag entspricht.
Weitere satirisch-traurige Vorschläge zur Rettung der CSU sind willkommen. Die Abschaffung der 5 % – Klausel wäre eine Möglichkeit. Aber die gefährden aus CSU Sicht ja die Handlungsfähigkeit der Demokratie..