Ein Zeugnis mit bitterer Note
Mit Urteil vom 22.11.2023 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden: Vermerke im Abiturzeugnis darüber, dass die Rechtschreibleistungen von Schüler*innen aufgrund einer Legasthenie nicht bewertet wurden, sind nur insoweit unzulässig, als andere1) Formen der Behinderung bislang nicht von der Regelung erfasst waren (1 BvR 2577/15). Die Entscheidung enthält eine Vielzahl beachtenswerter Aussagen über den Begriff der Behinderung, die Bedeutung der Schulbildung im Allgemeinen und der Rechtschreibung im Besonderen und Zeugnistransparenz als Mittel zur Durchsetzung von Chancengleichheit, die nicht alle im Folgenden vollständig beleuchtet werden können. Ich möchte aber aufzeigen, wo der vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Maßstab für die „Zeugniswahrheit“ dem Interesse, Ungleichheiten auszugleichen, zuwider läuft.
Zum Fall
Die Beschwerdeführer*innen hatten 2010 in Bayern die Abiturprüfung erfolgreich abgelegt. Aufgrund einer zu diesem Zeitpunkt geltenden Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus wurde, vereinfacht gesprochen, bei Schüler*innen mit einer ärztlich bestätigten Legasthenie auf Antrag die Rechtschreibleistung im Fach Deutsch nicht bewertet. Als zwingende Folge dieses Antrags, der bereits mit Eintritt in die Oberstufe gestellt werden musste, wurde in das Abiturzeugnis folgende Bemerkung aufgenommen: „Auf Grund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet.“ Gegen diesen Vermerk in ihren jeweiligen Zeugnissen hatten die Beschwerdeführer*innen geklagt und waren zuletzt vor dem Bundesverwaltungsgericht gescheitert – dort hatte das Gericht argumentiert, nicht nur der Vermerk sei rechtswidrig, sondern gar die „Bevorteilung“ der Legastheniker*innen überhaupt, da es hierfür damals an einer gesetzlichen Grundlage gefehlt hatte (jetzt Art. 52 Abs. 5 Bayerisches Schulgesetz).
Die Beschwerdeführer*innen zogen unter Berufung u.a. auf Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, das Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG, den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG, das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) vor das Verfassungsgericht. Sie führten u.a. aus, die Nichtbewertung der Rechtschreibleistung diene der nach Art. 3 Abs. 1 iVm Art. 12 Abs. 1 GG gebotenen Herstellung von Chancengleichheit und dem Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG – und dieser Effekt würde durch die Zeugnisbemerkung schlicht wieder rückgängig gemacht. In der Tatsache, dass bei Schüler*innen, deren Rechtschreibleistungen aufgrund anderer Behinderungen nicht bewertet würden, kein Zeugnisvermerk angebracht wurde, liege zudem ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.
Bedeutung des Zeugnisses, Gebotenheit des Vermerks
Das Bundesverfassungsgericht lehnt einen Verfassungsverstoß im Ergebnis ab, soweit es um die Ungleichbehandlung im Vergleich zu denjenigen Mitschüler*innen ging, deren Rechtschreibleistung voll bewertet wurde und die daher keinen Zeugnisvermerk bekamen. Das Gericht bestätigt, dass durch den Zeugnisvermerk eine Benachteiligung wegen der Behinderung entsteht, indem die Betroffenen zur Offenlegung von Tatsachen gezwungen werden, die eigentlich unter ihr Recht auf Selbstdarstellung fallen, und indem ihre Erfolgschancen in Bewerbungsverfahren verringert würden (Rn. 50). Diese sei jedoch im Ergebnis gerechtfertigt. Denn die Zeugnisbemerkung verfolge in angemessener Weise Ziele mit Verfassungsrang. Das Bundesverfassungsgericht greift hier im Corona-Schulschließungsbeschluss eingezogene Maßstäbe auf und entwickelt sie weiter (Rn. 74-76): Das in dem Bundesnotbremse-II-Beschluss erstmals explizit vom Verfassungsgericht postulierte Recht auf Schulbildung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG (s. auch hier, hier, hier und hier) diene insbesondere auch dazu, „die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu Persönlichkeiten, die ihre individuelle Leistungsfähigkeit unabhängig von ihrer sozialen Herkunft entfalten und im Anschluss an die Schule ihrer Leistungsfähigkeit und Neigung entsprechend Ausbildungsgänge und Berufe frei wählen und zur Grundlage einer eigenverantwortlichen Lebensführung machen können“, dazu gehöre es, „der ungehinderten Entfaltung des individuell vorhandenen Leistungspotenzials entgegenstehende soziale Nachteile möglichst auszugleichen“ (Rn. 76).
Hieraus folgten gewisse Anforderungen an schulische Zeugnisse, spezifisch Abiturzeugnisse (Rn. 77-85): Da diese den Zugang zu grundsätzlich allen Studienfächern und damit auch den entsprechenden Berufen ermöglichten, folge aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG die Notwendigkeit, dass „die unterschiedliche Qualität der gezeigten Leistungen durch eine differenzierte Notengebung genau erfasst und in allen Abschlusszeugnissen aussagekräftig und vergleichbar dokumentiert wird“ (Rn. 77). Hierzu gehöre – auch in Zeiten von Rechtschreibprogrammen – die Leistungen im Bereich der Rechtschreibung (Rn. 84). Auch aus dem Sozialstaatsgebot folge die grundsätzliche Anforderung, durch gleiche Anforderungen und objektiv vergleichbare, transparente Abiturzeugnisse Nachteile der sozialen Herkunft auszugleichen (Rn. 77).
An dieser Stelle macht sich das Bundesverfassungsgericht das grundsätzlich zutreffende, aber im Kontext des konkreten Falles recht eigentümliche Argument des Staatsministeriums, „dass bei fehlender Aussagekraft und Vergleichbarkeit von Schulabschlusszeugnissen Eignungsprüfungen der Ausbildungsstätten und Arbeitgeber an deren Stelle träten, auf die sich dann diejenigen Bewerber am besten vorbereiten könnten, die in der Lage seien, die finanziellen Mittel für die Teilnahme an entsprechenden Kursen aufzubringen“, zu eigen. Im Verhältnis zu diesem legitimen Ziel sei die Benachteiligung der Schüler*innen mit einer Legasthenie im Ergebnis angemessen (Rn. 87-102) – ja, der Zeugnisvermerk sei gar geboten (Rn. 103-112).
Benachteiligung gegenüber anderen Behinderungen?
Anders sieht das Bundesverfassungsgericht dies nur, soweit Abiturient*innen mit Legasthenie durch den Vermerk gegenüber solchen Schüler*innen ungleich behandelt wurden, deren Rechtschreibleistung wegen einer anderen Behinderung oder aus anderen Gründen ohne entsprechenden Zeugnisvermerk nicht bewertet wurde. Hierbei liege im Verhältnis zu den anderen Schüler*innen mit Behinderung ein Verstoß nicht nur, wie von den Beschwerdeführer*innen gerügt, gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, sondern gegen das Diskriminierungsverbot wegen einer Behinderung (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) vor (Rn. 51). Wie das Bundesverfassungsgericht unter Verweis auf die Literatur zugibt (Rn. 53), ist eine Anwendung von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auf Ungleichbehandlungen von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen umstritten. Das Gericht stützt seine Auslegung auf ein (sehr) simples Wortlautargument („wegen seiner Behinderung benachteiligt“, Rn. 54) und, in einem ähnlich knappen Verweis, auf die umfassende Schutz- und Förderpflicht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG (Rn. 55). Durch die ungleiche Behandlung gegenüber dieser Vergleichsgruppe könne das genannte mit dem Vermerk verfolgte legitime Ziel der Zeugnistransparenz gerade nicht erreicht werden (Rn. 114-116), da die Zeugnisse dieser Schüler*innen intransparent blieben.
Schließlich sei eine Ungleichbehandlung auch insoweit inkonsequent und damit ungerechtfertigt, als in manchen Fächern, insbesondere den Naturwissenschaften, im Ermessen der Lehrer*innen die Rechtschreibleistung für alle Schüler*innen unberücksichtigt bleiben könne, ohne dass dies im Zeugnis erkennbar werde (Rn. 117).
Ein Verstoß gegen die als Auslegungshilfe herbeizuziehende UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) liege demgegenüber nicht vor, weil die BRD mit der Nichtbewertung der Rechtschreibleistung sogar über das von der UN-BRK Geforderte hinausgehe (Rn. 118-119).
Zuletzt liege auch kein Verstoß gegen ein etwaiges Gebot auf Chancengleichheit für Schulzeugnisse aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG vor, da die Chancengleichheit – nach der Konstruktion des Gerichts – durch den Zeugnisvermerk gerade erst hergestellt würde (Rn. 120-121).
Bewertung und Ausblick
Das Erfreuliche zuerst: Das Bundesverfassungsgericht hat mit dieser Entscheidung dem „neuen“ Recht der Kinder und Jugendlichen auf schulische Bildung Konturen verliehen. Die Verbindung zum Recht auf Chancengleichheit unabhängig vom sozialen Hintergrund und zum Sozialstaatsprinzip allgemein bildet einen verfassungsrechtlichen Maßstab, der, konsequent angewendet, dem deutschen Schulsystem wichtige Impulse geben kann.
Doch die Anwendung dieses Maßstabs im konkreten Fall befremdet. Vorliegend ging es nicht darum, unsichtbare Vorteile von Schüler*innen aus reichen Elternhäusern auszugleichen und durch das Abitur als transparente und vergleichbare Zugangsprüfung einen unfairen Wettbewerb um Studien- und Arbeitsplätze zu verhindern. Die betroffene Gruppe startet vielmehr mit einem – wie das Gericht selbst zugibt, Rn. 43 – erheblichen und nicht durch Fleiß, Förderung und Begabung vollständig nivellierbaren Nachteil in den Wettbewerb um Zukunftschancen. Ihr wird kein Privileg gewährt, sondern ein gebotener Nachteilsausgleich (s. auch Rn. 98-99), der durch den Zeugnisvermerk zumindest ein erhebliches Stück weit wieder ausgehebelt wird.
Dies wiegt besonders schwer angesichts der vom Bundesverfassungsgericht in dem Urteil vertretenen Ansicht, dass eine Diskriminierung gegenüber Schüler*innen mit anderen Behinderungen vorliegt. Insoweit erringt die Verfassungsbeschwerde etwas, das sich wahrlich nur als Pyrrhus-Sieg bezeichnen lässt. Bei der Umsetzung der im Urteil erarbeiteten Maßstäbe stehen künftig sämtliche Schüler*innen, die aufgrund einer Behinderung eigentlich einen anderen als den Standard-Bewertungsmodus benötigen, um ihren Leistungsstand adäquat darzustellen, vor der Frage, ob sie dieses ihnen zustehende Recht mit der unvermeidbaren Offenlegung ihrer Situation in künftigen Bewerbungsverfahren bezahlen möchten. Zwar wird im Falle einer Anwendung auf alle Behinderungen bei einer entsprechend neutralen Zeugnisformulierung jedenfalls der Stigmatisierungseffekt bezüglich konkreter Diagnosen reduziert. Ob diese erzwungene Offenbarung aber wirklich durch Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und das Recht auf Chancengleichheit geboten ist, ist mehr als fraglich.
References
↑1 | Interessenvertretungen von Personen mit einer Legasthenie sowie von Personen mit Lernschwierigkeiten lehnen den Begriff der Behinderung teilweise ab. Die Verwendung des Begriffs in dieser Form im vorliegenden Text soll die Argumentation der Beschwerdeführer*innen und des BVerfG und die rechtliche Kategorisierung wiederspiegeln, nicht jedoch eine Aussage über die Selbstbezeichnung aller Betroffenen treffen. |
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Treffend stellt die Verfasserin fest, dass die betroffene Gruppe mit erheblichen und nicht durch Fleiß, Förderung und Begabung vollständig nivellierbaren Nachteilen in den Wettbewerb um Zukunftschancen startet.
Sogleich stellen orthographische Fähigkeiten eine wichtige Grundlage für eine Vielzahl an Berufsfeldern dar, sodass deren Bewertung in der allgemeinen Hochschulreife (jedenfalls im Deutschunterricht bzw. Sprachunterricht) geboten ist.
Die Chancengleichheit drückt sich nun dahingehend aus, dass dennoch Höchstpunktzahlen in besagten Fachrichtungen erzielbar sind oder anders: ein anderer als der Standardbewertungsmaßstab verwendet werden muss, um den relativen Leistungsstand der betroffenen Gruppe darzustellen.
Dieser Maßstab ist, wie das Gericht treffend feststellt, jedoch ein anderer als der Standardmaßstab, gerade in Bezug auf die Geeignetheit für Fachrichtungen mit orthographischen Schwerpunkt.
Eine “Nichtbemerkung” würde jedoch zu einer Nivellierung dieser Unterschiede führen und bei selbiger Note, bei unterschiedlichen Maßstäben, eine gleiche Geeignetheit implizieren. Dies liefe jedoch dem verfassungsrechtlich Maßstab zuwider, dass das Abitur konkret erbrachte Leistungen vergleichbar bewertet und somit Chancengerechtigkeit unabhängig sozialer Leistung ermöglicht.
Denn die Leistung wurde bzw. konnte eben nicht erbracht werden.
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