28 March 2022

Eine strategische Kultur muss Teil der Nationalen Sicherheitsstrategie sein

Durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands bricht ein seit Jahren bereits hybrid geführter Krieg aus. Sämtliche diplomatische Bemühungen der letzten Jahre, das Normandie-Format, das Minsker Abkommen und damit die Diplomatie insgesamt sind gescheitert. Auch der diplomatische Marathon in verschiedenen Formaten und mit unterschiedlichen Gesprächspartnern konnte Putin nicht von seinem lang geplanten und gut orchestrierten Plan, sich ein russisches Großreich mit Waffen – durch die Macht des Stärkeren – zu erkämpfen, aufhalten. Internationale Organisationen und Institutionen stoßen an die Grenze ihrer Wirksamkeit.

Die Diplomatie in der Krise

Die Diplomatie ist in jüngster Zeit insgesamt in einer Krise. Weder in Syrien, in Jemen, in Israel und Palästina noch in der Ukraine und in vielen weiteren Konflikten konnte die Diplomatie Krisen dauerhaft lösen und übernahm meist nur eine moderierende Rolle. Konflikte werden eher begleitet, aber nicht eingedämmt oder gelöst. Ab und an gab es Verhandlungserfolge, häufig sind jedoch wichtige Entscheidungsgremien blockiert, weil Mitglieder des UN-Sicherheitsrates selbst Konfliktbeteiligte sind oder diplomatische Strukturen und Institutionen wie z.B. erforderliche Mehrheitsentscheide in der EU nicht erreicht werden oder zu langsam erfolgen. Wenn internationale oder supranationale Institutionen in sich nicht geschlossen auftreten, verlieren sie an Glaubwürdigkeit.

Die sicherheitspolitischen Realitäten machten zudem auch für die Diplomatie neue Wege erforderlich. In Afghanistan sah man sich nach dem gescheiterten Abzug gezwungen, mit den Taliban über Fluchtkorridore zu verhandeln.

Das Scheitern der Diplomatie in der Ukraine

Die Erosion der regelbasierten internationalen Ordnung in Europa begann 2014 mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine durch Russland. Hierbei wurde das Herzstück eines jeden Staates angegriffen: Souveränität und territoriale Integrität. Beides wurde der Ukraine, seinerzeit drittgrößte Atommacht, 1994 im Budapester Memorandum auch von Russland zugesichert im Gegenzug zur Abgabe der Atomwaffen.

Das nach 2014 im Normandie-Format vereinbarte Minsker Abkommen wurde anschließend nicht als gleichberechtigt, sondern als Triumph für Putin gewertet. Alsbald schon sandte Russland Separatistenführer an den Verhandlungstisch und machte so die weiteren Gespräche und Verhandlungen für die Ukraine unannehmbar.

Als im Oktober 2021 die massivste Truppenmassierung seit dem Ende des 2. Weltkriegs ersichtlich war, zögerte die EU weiterhin. Schon im Sommer waren massive Truppenverlegungen registriert worden. Europäische Staaten waren jedoch mit anstehenden Wahlen, internen Problemen und dem Umgang mit der Corona-Pandemie beschäftigt. Der Fokus lag auf den inneren Angelegenheiten, der 360-Grad-Blick fehlte. Erst im Januar 2022 begann der diplomatische Marathon in verschiedenen Formaten: Normandie, OSZE, NATO-Russland-Rat, Bilaterale Gespräche, Weimarer Dreieck  – da war jedoch Putins Entscheidung zum Einmarsch längst gefallen. Mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg am 24. Februar verlässt Russland endgültig die internationale regelbasierte Ordnung.

Soft, Hard und Smart Power

In den internationalen Beziehungen unterscheidet man zwischen Soft Power und Hard Power-Ansätzen. Hard Power beschreibt dabei militärische Fähigkeiten und wirtschaftliche Stärke sowie Unabhängigkeiten, was die Möglichkeit beinhaltet, von Sanktionen Gebrauch zu machen. Zur militärischen Abschreckung gehört neben konventionellen Fähigkeiten auch die Fähigkeit einer nuklearen Eskalation oder des Gebrauchs nuklearer Abschreckung zur Interessendurchsetzung. Unter Soft Power versteht man hingegen die Interessendurchsetzung durch Überzeugungskraft, kluge Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit, Wertebindung und die Einbindung in internationale Institutionen. Oft wird auch von Smart Power als der Kombination von Hard Power- und Soft Power-Strategien gesprochen. Ein Ansatz, der die Notwendigkeit eines starken Militärs unterstreicht, bei dem aber gleichermaßen in Allianzen, Partnerschaften, Zivilgesellschaft und Institutionen auf allen Ebenen investiert wird, um den eigenen Einfluss zu erweitern und die Legitimität des eigenen Handelns zu etablieren.

Der rein auf Diplomatie und Soft Power ausgelegte Ansatz des Westens ist gescheitert. Liberale wertebasierte und an der regelbasierten Ordnung ausgerichtete Politikansätze verfangen nicht bei Autokratien wie Russland oder China, die auf Hard Power und Smart Power setzen.

Diplomatie ohne Härte

Das EU-Parlament hatte im September 2021 eine Empfehlung zur Ausrichtung der Beziehungen zu Russland verabschiedet. U.a. wurde dabei Russland als Aggressor benannt und auf die Zunahme autoritärer Tendenzen hingewiesen, die sich durch Desinformation, Cyberangriffe, Tötungen und Anschläge wie die Vergiftung Nawalnys äußerten. Das EU-Parlament ging weiter, indem es die Vorbereitung des SWIFT-Ausschlusses, die Unabhängigkeit der europäischen Gasversorgung und die Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten forderte. Viele sehr strategisch durchdachte Punkte.

Indes fanden diese Ansätze vorerst keine Umsetzung durch die EU-Regierungen. Auch Deutschland, das ohnehin durch die einseitige Abhängigkeit generierende wirtschaftliche Beziehungen zu Russland eine Sonderrolle einnahm, kam seiner Scharnierfunktion nicht nach.

Der EU-Rat verurteilte im Mai 2021 das Vorgehen Russlands, beließ es aber bei verbaler Verurteilung ohne wesentliche Unterfütterung mit Hard-Power-Ansätzen. In Deutschland und weiteren EU-Staaten überwog nach wie vor die Vorstellung, dass aus wirtschaftlicher Verflechtung auch politische Annäherung und Vertrauen entstehen kann: „Wandel durch Handel“. Der Fokus lag im diplomatischen Marathon bis zuletzt auf Soft Power. Eine sicherheitspolitische Zeitenwende in Bezug auf die Russland-Beziehungen hätte da schon viel früher erfolgen müssen! „Wandel durch Handel“ hat eher zu einem Wandel hin zu deutscher Schwäche durch Abhängigkeit geführt.

Denn vielmehr wurden die soften Sanktionen und diplomatischen Versuche nach der Krimkrise 2014 von Russland als Schwäche des Westens ausgelegt, die es dazu animierte, weitere Schritte zu wagen. Russland, wie auch andere autokratische Staaten, die sich systemisch gegen die internationale regelbasierte Ordnung stellen, verstehen nur die Sprache der Härte, sie denken in Hard- und Smart Power-Ansätzen.

Insofern war es rückblickend ein strategischer Fehler, 2008 den MAP (Membership Action Plan) der NATO für Georgien und die Ukraine abzulehnen. Es waren vorrangig Frankreich und Deutschland, die sich gegen einen Beitritt der Ukraine und Georgiens aussprachen. Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte seinerzeit davor, Russland unnötig zu reizen und eine Destabilisierung Osteuropas zu riskieren.

Wäre die Ukraine heute Mitglied in EU oder NATO, wäre Putins Kalkül deutlich verändert und die Ukraine vermutlich nun nicht Austragungsort eines Krieges Russlands in und mit Europa. Nach der Annexion der Krim 2014 wurde das NATO-Beitrittsgesuch der Ukraine erneut abgelehnt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier antwortete auf die Frage, ob er einen NATO-Beitritt der Ukraine hilfreich fände: „Man sollte aufpassen, dass man mit bestimmten Entscheidungen nicht noch Öl ins Feuer gießt.”

Im Endeffekt setzte Putin damit seine Interessen mit Hard Power durch, annektierte die Krim und spürte außer einiger schwacher Sanktionen keinerlei Konsequenzen des Völkerrechtsbruchs. Nur durch die USA, Frankreich und Polen erhielt die Ukraine nach 2014 Militärhilfe, während Deutschland weiter an Nord Stream 2 festhielt, was aus sicherheitspolitischer Betrachtungsweise fatal war. Durch die Schaffung von Energieabhängigkeiten wurde zeitgleich die Hard Power Russlands (das Erpressungspotential durch die Nutzung von Energie als Waffe) gestärkt und die eigene Hard Power (Sanktionsmöglichkeit) geschwächt.

Die Vernachlässigung von Smart und Hard Power und die sicherheitspolitische Naivität Deutschlands machen die nun angekündigte „Zeitenwende“ notwendiger denn je.

Sicherheitspolitische Zeitenwende

Der Umgang mit und die Entwicklung des Krieges in der Ukraine wird zum Lackmustest für Deutschlands Rolle in der EU und der Welt. Wichtigster Teil der Zeitenwende muss die Rückkehr zur Realpolitik und zudem auch die Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie sein, die auf Smart Power setzt. Die Zeitenwende in Deutschland betrifft dabei insbesondere vier Bereiche: 1) Bundeswehr 2) strategische Kultur 3) Nationale Sicherheitsstrategie 4) Stärkung der Krisenprävention und die Entwicklung einer „Zivilen Reserve“.

1. Bundeswehr

Kernelement von Sicherheit ist eine einsatzfähige Streitkraft, die Landes- und Bündnisverteidigung nachhaltig leisten kann. Das geplante Sondervermögen von 100 Mrd. Euro und die zusätzlichen Mittel zur Erreichung des 2-Prozent-Ziels sind deshalb bitter notwendig. Die Mittel müssen zweckgebunden und priorisiert für die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr in der Landes- und Bündnisverteidigung sein. Allein durch die Auffüllung der Munitionsbestände, die Tornado-Nachfolge im Rahmen der nuklearen Teilhabe, persönliche Schutzausrüstung, die Beschaffung eines schweren Transporthubschraubers, sowie bewaffneter Drohnen nehmen die dringendsten Anschaffungen bereits einen Großteil des Sondervermögens ein. Die restlichen Fähigkeiten und Bedarfe müssen zwingend von der Nationalen Sicherheitsstrategie abgeleitet werden.

2. Strategische Kultur

Deutschland als parlamentarische Demokratie muss eine strategische Kultur entwickeln. Unsere Gesellschaft muss den Stellenwert von Sicherheit in all seinen Dimensionen (äußere, innere, wirtschaftliche und soziale Sicherheit) begreifen und bereit sein, Interessen zu definieren und Prioritäten zu benennen. Dazu gehört die regelmäßige Evaluierung von Einsätzen im Parlament, die Einrichtung einer Sicherheitswoche, in der über Interesse, Regionen und benötigte Fähigkeiten debattiert wird. Und es gehört die Aufwertung eines Bundessicherheitsrats dazu, der einen ganzheitlichen Sicherheitsansatz verfolgt und im Sinne der strategischen Vorausschau agiert und proaktiv wirkt. Wir müssen in der Gesellschaft ein Gespür für Sicherheitsinteressen schaffen und die sicherheitspolitische Debatte in die Mitte der Gesellschaft tragen. Nur so findet sich die Akzeptanz für notwendige Priorisierungen der Gesamtpolitik.

3. Nationale Sicherheitsstrategie

Die Entwicklung der Nationalen Sicherheitsstrategie muss zum Ziel haben, für Deutschland Smart Power-Fähigkeiten zu definieren und zu entwickeln. Neben militärischen Bedrohungen muss es deshalb auch um wirtschaftliche Unabhängigkeit, Diversifizierung der Energie, technologische Entwicklung, Klimadiplomatie, strategische Kommunikation und die Stärkung der Glaubwürdigkeit internationaler Organisationen und Instrumente gehen, um der Erosion und dem Glaubwürdigkeitsverlust entgegenzuwirken. Dazu muss Deutschland aufgeschobene und dringend erforderliche Maßnahmen im Bereich der ganzheitlichen Sicherheit rasch umsetzen, um Smart Power zu entwickeln. Dazu gehört die Entwicklung europäischer Fähigkeiten zur Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO, energiepolitische Diversifikation, Resilienz, Lastenteilung und transatlantische Partnerschaft sowie die rasche Herstellung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Aus wirtschafts- und sicherheitspolitischen Erwägungen müssen Partnerschaften mit “like-minded partners” künftig noch stärker forciert werden.

4. Krisenprävention

Zur ganzheitlichen Sicherheit gehört auch die Krisenprävention und Resilienz der Bevölkerung durch moderne Katastrophenvorsorge, nationale Reserven, sicherere Lieferketten, z.B. bei Medizin, moderne effiziente Verwaltung mit ausreichend Fachkräften im Sicherheitsbereich, in der öffentlichen Verwaltung und Wirtschaft. Die Bundeswehr ist für äußere Sicherheit zuständig und kann nicht im Dauereinsatz Amtshilfe z.B. in Gesundheitsämtern leisten oder Defizite kommunaler oder föderaler Verwaltungsstrukturen kompensieren. Deshalb gilt es mit Blick auf einen effektiven Bevölkerungsschutz, eine „Zivile Reserve“ zu schaffen. Durch eine kluge strategische Kommunikation gegenüber der eigenen Bevölkerung werden hierbei auch im Sinne der strategischen Kultur Akzeptanz geschaffen und Aspekte der sozialen Sicherheit berücksichtigt.

Strategische Kultur als essentieller Baustein einer nationalen Sicherheitsstrategie

Die Prioritäten und der Fokus einer Gesellschaft sind in der politischen Arbeit entscheidend. Sie formen Wahlprogramme und bilden Koalitionen, bestimmen die Prioritäten der Politik. Lange Zeit konnte sich Deutschland, auch bedingt durch die furchtbaren Verbrechen Deutschlands zwischen 1933 und 1945, eine pazifistische Grundeinstellung leisten, viel zu lange lag der Fokus auf wirtschaftlicher Sicherheit und nicht auf strategischer Vorausschau. Wir müssen durch die Erosion internationaler Regeln und das Ende der europäischen Friedensdividende auch unsere eigenen Gewissheiten überdenken. Wir sind nicht nur von Freunden und Partnern umgeben. Wir müssen nun bereit sein, die Bequemlichkeit abzulegen und selbst für unsere Sicherheit sorgen.

Frieden und Freiheit haben einen Wert und wir müssen bereit sein, unsere Werte zu verteidigen. Dabei müssen Realitäten anerkannt werden. Diplomatie ohne Härte macht den Westen schwach. Diplomatie muss militärisch unterfüttert sein, wir brauchen Smart Power.

Die Entwicklung einer strategischen Kultur ist essentiell für die Nationale Sicherheitsstrategie und Voraussetzung für die Entwicklung von Smart Power.

Deutschland muss lernen, strategisch und interessenorientiert vorzugehen, wenn es als glaubwürdiger Partner in Europa und der Welt gelten will.

Erste Konturen einer globalen Blockbildung als Ausfluss eines neuen Systemkonflikts sind bereits erkennbar. Sie sind noch unscharf, weil sie stark durch geopolitische und geoökonomische Realitäten und Abhängigkeiten geprägt sind. Erkennbar war jedoch, dass bei der Abstimmung über die UNO-Resolution am 2. März 2022 nur noch Belarus, Nordkorea, Eritrea und Syrien fest an der Seite Putins standen, während China sich enthielt. Demgegenüber positionierten sich die liberalen Demokratien unter Führung der USA.

Im künftigen Systemwettbewerb ist China als systemischer Rivale positioniert, der durch die Seidenstraßen-Politik ganz klare Interessen durchsetzt. Deutschland muss sich deshalb um die Entwicklung von Smart Power kümmern, um mit den liberalen Demokratien einen Gegenpol bilden zu können. Die Außen- und Entwicklungspolitik muss sich neu aufstellen und gleichfalls als Teil von Smart Power angesehen werden. Geostrategische und sicherheitspolitische Denkweisen genauso wie kluge Diplomatie sind nötig, um die großen globalen Herausforderungen wie die Nahrungsmittelknappheit und den Klimawandel zu bewältigen, auch mit einem systemischen Rivalen wie China.

 


SUGGESTED CITATION  Kiesewetter, Roderich: Eine strategische Kultur muss Teil der Nationalen Sicherheitsstrategie sein, VerfBlog, 2022/3/28, https://verfassungsblog.de/eine-strategische-kultur-muss-teil-der-nationalen-sicherheitsstrategie-sein/, DOI: 10.17176/20220329-011238-0.

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