14 December 2016

Entweder Robe oder Kopftuch: gläserne Decke für muslimische Frauen?

Rechtsreferendarinnen kann nach geltender Rechtslage in Bayern das Tragen eines Kopftuches nicht weiterhin versagt werden. So hat das Augsburger Verwaltungsgericht (VG) am 30. Juni entschieden (Az. Au 2 K 15.457). Die Klägerin des Verfahrens, Aqilah Sandhu, war seit 2014 im Vorbereitungsdienst der Justiz, den sie kürzlich, trotz des Rechtsstreits, mit einer überdurchschnittlichen Note erfolgreich abgeschlossen hat. Während ihrer Station am Oberlandesgericht München (OLG) hatte sie eine Auflage erhalten, dass sie bei ‚hoheitlichen Tätigkeiten mit Außenwirkung’ kein Kopftuch tragen dürfe. Praktisch bedeutete dies für die Klägerin, dass sie stets hinten im Saal Platz nehmen musste, ohne selbst, wie eigentlich innerhalb der juristischen Ausbildung vorgesehen, in die Rolle der Richterin zu schlüpfen. Das Münchener Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass ‚keine Symbole oder anderen Merkmale getragen werden dürften, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die religiös-weltanschauliche Neutralität der Dienstausübung einzuschränken‘. Das VG Augsburg stellt jedoch in seiner Entscheidung vom Juni 2016 fest, dass es für ein solches Verbot an einer gesetzlichen Grundlage fehle. Bis auf weiteres, müsse es für junge Musliminnen im juristischen Vorbereitungsdienst möglich sein, ein Kopftuch zu tragen, ohne dass daraus Nachteile entstünden. Der Bayrische Justizminister Winfried Bausback erklärte, zwar habe er die Entscheidung mit Respekt zur Kenntnis genommen, aber so könne das Ergebnis nicht stehen bleiben. Seine Haltung sei klar, er wolle nicht, ‚dass Rechtsreferendarinnen auf der Richterbank, beim staatsanwaltschaftlichen Sitzungsdienst oder bei sonstigen hoheitlichen Tätigkeiten ein Kopftuch tragen.’

Nicht nur in Bayern wird über das Recht von Rechtsreferendarinnen, ein Kopftuch während des Dienstes zu tragen, gestritten. Auch in Berlin wird es Rechtsreferendarinnen wiederholt unter Berufung auf § 1 des sogenannten Berliner Neutralitätsgesetzes versagt, auch bei der Ausübung von hoheitlichen Aufgaben ein Kopftuch zu tragen. Als Folge werden kopftuchfragende Musliminnen von diesen freigestellt und erleben ein ‚amputiertes Referendariat’, wie Sandhu den für sie veränderten Ausbildungsdienst bezeichnete. Wie in ihrem Fall, geht es auch in den Berliner Fällen maßgeblich um die Grenzen staatlicher Neutralität.

Wann ist staatliches Handeln wirklich neutral?

Das Prinzip der staatlichen Neutralität ist in heutigen Zeiten besonders gefordert. Es soll über die Grenzen staatlicher Gerechtigkeit bestimmen: eine schwierige Aufgabe, insbesondere in Zeiten religiöser Vielfalt. Denn wann ist staatliches Handeln, oder Nichthandeln, wirklich neutral? In einem demokratischen Staat werden auch die demokratisch getroffenen Entscheidungen unweigerlich bestimmte religiöse Inhalte stärker widerspiegeln als andere, schützt die Religionsfreiheit nicht nur unterschiedliche Formen der Religionsausübung, sondern bietet dem Staat Raum für die Identifikation mit bestimmten religiösen Inhalten. Ob eine derartige Identifikation als gerechtfertigt anzusehen ist, oder aber als diskriminierend einzustufen, ist offenkundig nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine politische Frage. Dies wird deutlich im Zusammenhang der unterschiedlichen Bewertung unterschiedlicher Symbole, insbesondere auch im Hinblick auf ihren religiösen Gehalt. Dass im Bayrischen Gerichtsaal ein Kreuz angebracht ist, scheint die staatliche Neutralität aus Sicht Vieler nicht zu stören, obwohl dieses Bekenntnis ja gerade nicht durch die individuelle Religionsfreiheit geschützt ist, und damit noch eindeutiger dem Staat zugeordnet werden könnte.

In unserer heutigen Gesellschaftsrealität, die gleichzeitig geprägt ist durch eine insgesamt abnehmende Religiosität, und ansteigende religiöse Vielfalt, ist auch die rechtliche Bewertung religiöser Ausdrucksformen in der Sphäre des Staates, einem Wandel unterlegen. Dies wird auch im Zusammenhang mit religiösen Gleichheitsansprüchen von Muslimen deutlich und wird bekräftigt durch die Errungenschaften der letzten Jahre. Das Tragen des Kopftuchs kann Lehrerinnen seit der neuen Kopftuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Januar 2015 (1 BvR 471/10 – Rn. (1-31), nicht mehr grundsätzlich untersagt bleiben. Muslimische Gemeinschaften haben inzwischen in vereinzelten Bundesländern den Status der Körperschaften des öffentlichen Rechts, Muslimischer Religionsunterricht wird inzwischen in einigen Schulen der meisten Bundesländer angeboten. Nun können, zumindest vorerst, muslimische Rechtsreferendarinnen, den bayrischen juristischen Vorbereitungsdienst uneingeschränkt und mit bedecktem Haupthaar durchlaufen.

Und doch: die Anti-Islam Rhetorik ist nicht zu übersehen. Islamophobie ist nicht mehr hinweg zu denken aus dem politischen Diskurs des ‚mainstreams’. Die Alternative für Deutschland (AfD) hat die Ablehnung ‚des Islams’ als erfolgreiches Mittel entdeckt, die Wählerschaft weiter zu vermehren. Die Realität der sogenannten ‚Flüchtlingskrise’, die wie Richterin des Bundesverfassungsgerichts Susanne Baer in ihrer Rede im Rahmen der I*CONS Konferenz 2016 in Berlin betonte, keine Flüchtlings- sondern treffender, eine Menschenrechtskrise ist, verstärkt die Ängste vor ‚Überfremdung’. Fest steht: das Leben in religiöser Vielfalt wird von einigen als Bedrohung wahrgenommen und stellt so eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar. Dies wird auch zukünftig hohe Anforderungen an das Recht stellen.

Religiöse Ausnahmen: Mittel zur Bekämpfung oder Ursache von Diskriminierung?

In dem Spannungsfeld zunehmender Islamophobie einerseits, und wachsender Selbstverständlichkeit mit welcher muslimisches Leben Teil unserer heutigen deutschen Gesellschaft ist, anderseits, entwickeln sich schwierige rechtliche Fragen. Selbst davon ausgehend, dass es insbesondere in Religionskonflikten darum geht seitens der Gerichte Einzelfallentscheidungen auf Grundlage einer Abwägung der im Einzelfall kollidierenden Rechte zu treffen, anstatt in paternalistischer Weise Grundsatzurteile über die Rolle von Religion und Diversität in unserer Gesellschaft insgesamt zu fällen, steht fest: diese Abwägungen sind schwierig. Dies gilt insbesondere dann, wenn wir entscheiden müssen, ob muslimischen Gläubigen rechtliche Ausnahmen gewährt werden, die vielleicht selbst die Gleichheit- und Freiheitserrungenschaften unserer heutigen Gesellschaft in Frage stellen. In der sogenannten Burkini-Entscheidung ging es um diesen Konflikt. Hier entschied das Bundesverwaltungsgericht 2013, es sei zumutbar für die muslimische Schülerin, deren Körper durch den Burkini verdeckt ist, am koedukativen Schwimmunterricht teilzunehmen. Zwar könne nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass es zu Berührungen mit männlichen Mitschülern käme und auch müsse sie diese in freizügiger Schwimmkleidung sehen. Aber, so das Gericht, durch den Integrationsauftrag des Grundgesetzes sei gefordert die Schülerinnen und Schüler auf ein Dasein in der ‚pluralistischen Gesellschaft in Deutschland vorzubereiten, in der sie einer Vielzahl von Wertvorstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen begegnen würden, die sie für sich selbst ablehnten’.

Von staatlicher Seite wird der Wert der pluralistischen Gesellschaft wiederholt betont und die religiöse Vielfalt Deutschlands als Faktum anerkannt. Und doch stellt sich die Frage, auf welche ‚pluralistische Gesellschaft’ die Schüler und Schülerinnen laut Integrationsauftrag des Grundgesetzes vorbereitet werden sollen, wenn die faktische gesellschaftliche Vielfalt in wichtigen Gesellschaftssphären stark unterrepräsentiert bleibt, auch weil rechtliche Beschränkungen fortwirken. Wäre es nicht gerade sinnvoll, den größtenteils hochqualifizierten Frauen, die von den Kopftuchgesetzgebungen betroffen sind, den von ihnen angestrebten Zugang zum Arbeitsmarkt umfassend zu gewähren? Stünde nicht gerade eine Kopftuch tragende Prädikatsjuristin, tätig als Staatsanwältin oder Richterin, für die oftmals als fehlend angeprangerte erfolgreiche Integration? In Baden-Württemberg ist man da, wie Autor Wolfgang Janisch, anderer Ansicht: es heißt ‚Robe und Kopftuch vertragen sich nicht’. Laut dem jüngsten Gesetzentwurf der schwarz-grünen Landesregierung wird also das Kopftuchverbot für Roben-Trägerinnen, wie voraussichtlich auch bald in anderen Bundesländern, kommen. Dass der dortige Entwurf lediglich die hauptberuflichen Richterinnen berücksichtigt, nicht aber die ebenfalls in hoheitlicher Tätigkeit handelnden Schöffinnen, macht zusätzlich skeptisch.


SUGGESTED CITATION  Weller, Pauline: Entweder Robe oder Kopftuch: gläserne Decke für muslimische Frauen?, VerfBlog, 2016/12/14, https://verfassungsblog.de/entweder-robe-oder-kopftuch-glaeserne-decke-fuer-muslimische-frauen/, DOI: 10.17176/20161215-123312.

49 Comments

  1. dfwef Thu 15 Dec 2016 at 00:09 - Reply

    Der Plural von Muslima lautet gem. Duden “Muslimas”.

  2. Weichtier Thu 15 Dec 2016 at 06:26 - Reply

    „Selbst davon ausgehend, dass es insbesondere in Religionskonflikten darum geht seitens der Gerichte Einzelfallentscheidungen auf Grundlage einer Abwägung der im Einzelfall kollidierenden Rechte zu treffen, anstatt in paternalistischer Weise Grundsatzurteile über die Rolle von Religion und Diversität in unserer Gesellschaft insgesamt zu fällen, steht fest: diese Abwägungen sind schwierig.“

    Ist die „paternalistische Weise“ nicht etwas männerfeindlich? Könnte nicht eine Mutter maternalistisch ebenso handeln und könnten damit die Gerichte in einem solch übertragenen Sinn in maternalistischer Weise solche Grundsatzurteile fällen? Oder saßen auf der Richterbank bei diesen Grundsatzurteilen nur Männer?

  3. Timo Schwander Thu 15 Dec 2016 at 06:57 - Reply

    Sie hat “Paternalismus” geschrieben, nicht “Patriarchat”… Vulgo “autoritäre Bevormundung”. Der “Das ist aber männerfeindlich”-Beißreflex geht leider daneben.

  4. Timo Schwander Thu 15 Dec 2016 at 06:58 - Reply

    PS: Danke für den lesenswerten Artikel

  5. Ignazio Lopez Thu 15 Dec 2016 at 13:10 - Reply

    Kopftuch auf den Kopf aber kein Kreuz an die Wand? Oder wie wollen wir es machen?

  6. Ignazio Lopez Thu 15 Dec 2016 at 13:16 - Reply

    Wäre doch super, wenn wir mal eine große Strafkammer hätten mit einer Vorsitzenden, die Kopftuch trägt, der eine Beisitzer ist Mormone und stellt Bilder seiner drei Ehefrauen vor sich auf der Richterbank auf, die andere Beisitzerin sitzt im Niquab daneben – an der Wand hintern den drei Richtern ein Kreuz mit Corpus.

    Plot twist: Der Staatsanwalt erscheint ohne Robe – wie ist die Rechtslage?

  7. nm Thu 15 Dec 2016 at 15:37 - Reply

    “Dass der dortige Entwurf lediglich die hauptberuflichen Richterinnen berücksichtigt, nicht aber die ebenfalls in hoheitlicher Tätigkeit handelnden Schöffinnen, macht zusätzlich skeptisch.” Warum? Unvoreingenommen könnte man hierin eine sachlich begründete Differenzierung sehen, denn die Schöffinen nehmen gerade als Repräsentantinnen der Bevölkerung an der Entscheidungsfindung teil, während die Berufsrichterinnen als Individuen hinter dem Amt zurücktreten. Das muss man nicht überzeugend finden. Aber man muss auch nicht überall Islamophobie wittern…. Das trägt zur Qualität der Diskussion nicht bei.

  8. pw Thu 15 Dec 2016 at 16:40 - Reply

    Ob die geplante Gesetzgebung selbst auch Ausdruck einer Islamfeindlichkeit ist, lässt mein Beitrag bewusst offen. Allerdings scheint die Befürchtung weit verbreitet, dass eine kopftuchtragende Richterin sich nicht an Recht und Gesetz halten könn