05 August 2023

Er haftet nicht

Scheuer und die Maut-Millionen

Anfang Juli teilte das Bundesverkehrsministerium mit, es werde extern prüfen lassen, ob der Bund Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) wegen des gescheiterten Pkw-Maut-Projekts auf Schadensersatz in Anspruch nehmen kann. Zwar war die Maut ursprünglich nicht Scheuers Idee, sondern die seines Amtsvorgängers und Parteifreunds Alexander Dobrindt sowie des damaligen CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer. Scheuer aber traf im November 2018 die Entscheidung, langfristige Verträge mit Unternehmen zum Aufbau der Maut-Infrastruktur zu unterschreiben. Zu diesem Zeitpunkt war nicht nur bereits das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig, das am 18. Juni 2019 zu dem Ergebnis führte, dass die Maut insbesondere EU-Ausländer unter Verstoß gegen Art. 18 AEUV diskriminiert. Vielmehr war die überwältigende Mehrheit der Rechtswissenschaft bereits zu dem Zeitpunkt, als das Verkehrsministerium die verhängnisvollen Verträge unterschrieb, von der Unionsrechtswidrigkeit des Projekts ausgegangen.

Nachdem der Bund in Umsetzung des EuGH-Urteils die fraglichen Verträge gekündigt hatte, forderten die vorgesehenen Betreiber Schadensersatz in Höhe von rund 560 Millionen Euro. Diese Summe konnte der Bund im Zuge eines Schiedsgerichtsverfahrens immerhin auf 243 Millionen Euro drücken, wie das Bundesverkehrsministerium Ende Juli dieses Jahres mitteilte. Amtsnachfolger Wissing (FDP) lässt jetzt durch eine auf das Vergaberecht spezialisierte Kanzlei prüfen, ob Scheuer dem Bund auf Schadensersatz in dieser Höhe haftet. So sehr man den kochenden Volkszorn vielleicht nachvollziehen kann – er allein bildet für ein solches Begehren noch keine Anspruchsgrundlage. Der Ex-Verkehrsminister muss voraussichtlich nicht haften – und dafür gibt es nicht nur rechtliche, sondern auch gute rechtspolitische Gründe.

Das kleine 1×1 des Schadensersatzrechts

Schadensersatzansprüche fallen im Grunde genommen in zwei Kategorien: Es gibt solche, die von einem bestimmten Rechtsverhältnis abhängen, also akzessorisch sind, und nur innerhalb dieses Rahmens greifen. Solche Rechtsverhältnisse können zum Beispiel Verträge oder aber eben auch öffentlich-rechtliche Dienst- und Amtsverhältnisse sein. Und dann wiederum gibt es Schadensersatzvorschriften, die allgemein und unabhängig von einem solchen Rechtsverhältnis gelten. Das sind insbesondere Schadensersatzansprüche wegen unerlaubter Handlungen, also vor allem nach den §§ 823 ff. BGB.

Eine akzessorische Haftung aus dem Beamtenverhältnis sehen § 75 Abs. 1 Satz 1 BBG für Bundesbeamte und § 48 Satz 1 BeamtStG für Landes- und Kommunalbeamte vor. Allerdings sind Minister keine Beamte. Für das Rechtsverhältnis zu dem Staat, dem sie dienen, ist nicht das Beamtenrecht, sondern das jeweilige Ministergesetz maßgeblich. Im Fall von Andreas Scheuer kommt es also auf das Bundesministergesetz (BMinG) an. Bundesministerinnen und -minister stehen zum Staat in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis (§ 1 BMinG) und unterliegen anders als Beamte zum Beispiel keiner Disziplinargewalt (§ 8 BMinG). Anders als die gesetzlichen Vorschriften über das Beamtenverhältnis kennt das BMinG keine Haftungsvorschrift, die an das ministeriale Amtsverhältnis anknüpft. Bereits das historische Reichsministergesetz vom 27. März 1930 (RGBl. I S. 96) enthielt keine solche Regelung. Schon die Existenz eines besonderen BMinG zeigt, dass den Gesetzgeber die Vorstellung leitete, das Amt einer Ministerin (oder eines Ministers) sei etwas grundlegend anderes als das einer Beamtin (oder eines Beamten). Ministerinnen und Minister stehen innerhalb des ihnen zugewiesenen Ressorts vollverantwortlich an der Spitze der Exekutive (Art. 65 Satz 2 GG). Als politische Mandatsträger sind sie dem Parlament verantwortlich (siehe etwa Art. 43 Abs. 1 GG). Nicht selten müssen Regierungsmitglieder Entscheidungen unter Zeitdruck und auf Grundlage nur bruchstückhaft vorhandener Tatsachenerkenntnisse treffen. Es ist im Verfassungsinteresse, ihnen dabei weitgehende Entscheidungsfreiheit zu erhalten und sie in ihrer Entscheidungsfreude zu stärken. Deshalb spricht sehr viel dafür, dass das BMinG zu einer Haftung von Bundesministern nicht zufällig, sondern beredt schweigt. Es hat in Bezug auf Andreas Scheuer eine gewisse Ironie, dass umgekehrt einzig und allein ausgerechnet Art. 7 Abs. 2 des Bayerischen Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Staatsregierung eine dem Beamtenrecht bis in den Wortlaut hinein entsprechende Haftungsvorschrift enthält. Daher dürfte weder die im BMinG anzutreffende Regelungslücke planwidrig noch die Interessenlage hinreichend vergleichbar sein, um § 75 Abs. 1 Satz 1 BBG entsprechend heranzuziehen und die Haftung eines (ehemaligen) Bundesministers zu begründen.

Weder analoge Haftung noch Narrenfreiheit für Bundesminister

Joachim Wieland hat in einem Interview mit dem SPIEGEL und auf dem Verfassungsblog die Idee aufgegriffen, Andreas Scheuer könnte womöglich aus seinem Amtsverhältnis zur Bundesrepublik Deutschland (§ 1 BMinG) in entsprechender Anwendung der §§ 280 ff. BGB auf Schadensersatz haften. In der Tat wendet die Rechtsprechung das allgemeine vertragliche Schadensersatzrecht auf das Beamten- und sogar auch andere öffentlich-rechtliche Amtsverhältnisse an, berücksichtigt dabei aber die gesetzliche Haftungsbeschränkung auf grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz (§ 75 Abs. 1 Satz 1 BBG, § 48 Satz 1 BeamtStG). Übertrage ich diese Überlegungen auf Ministerinnen und Minister, komme ich jedoch zu einem anderen Ergebnis als Joachim Wieland: Denn dann muss sich das beredte Schweigen des BMinG als Haftungsmaßstab innerhalb des ministeriellen Amtsverhältnisses auch bei einer analogen Anwendung der §§ 280 ff. BGB durchsetzen. Das bedeutet, dass eine Haftung von Ministerinnen und Ministern unmittelbar aus ihrem Amtsverhältnis in jedem Fall – also auch bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit – ausscheidet. Anderenfalls würde die gesetzgeberische Entscheidung im BMinG unterlaufen, wonach eine zum ministeriellen Amtsverhältnis akzessorische Haftung schlicht nicht stattfindet.

Heißt das etwa, dass Bundesministerinnen und Bundesminister völlige Narrenfreiheit genießen? Gilt für sie das monarchische Prinzip des rex non potest peccare? Nein. Wie jeder andere auch haften Ministerinnen und Minister nach den Vorschriften des Deliktsrechts, also insbesondere den §§ 823 ff. BGB. Dabei geht es aber nicht um Fragen der Amtshaftung (§ 839 BGB), da in den fraglichen Konstellationen nicht ein Dritter, sondern der Staat selbst geschädigt ist. In diesem Zusammenhang ist die in § 75 Abs. 1 Satz 1 BBG enthaltene Haftungsbeschränkung auf grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz jedoch zugunsten der Ministerinnen und Minister entsprechend anzuwenden, soweit es um deliktische Handlungen in Ausübung ihres Amtes geht. Denn für Beamte geht die Rechtsprechung davon aus, dass § 75 Abs. 1 Satz 1 BBG (bzw. § 48 Satz 1 BeamtStG) sonstige Anspruchsgrundlagen insbesondere des Deliktsrechts vollständig verdrängt. Da das BMinG die Ministerinnen und Minister aber nicht schlechter stellen will, spricht vieles dafür, sie bei Anwendung der §§ 823 ff. BGB auf unerlaubte Handlung im Zusammenhang mit der Amtsausübung lediglich für Vorsatz und grobe, nicht aber für einfache Fahrlässigkeit haften zu lassen.

Verletzt eine Ministerin etwa vorsätzlich oder grob fahrlässig in Ausübung des Amtes das Eigentum oder ein sonstiges von § 823 Abs. 1 BGB geschütztes absolutes Recht des Staats, so haftet sie ihm auf Schadensersatz. Ebenfalls kommt eine Haftung in Betracht, wenn ein Minister durch Verstoß gegen ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB dem Staat einen Schaden verursacht. Dabei müsste es sich aber um ein Gesetz handeln, das die Vermögensinteressen des Staats gerade auch im Verhältnis zu Dritten individuell schützen soll. Als eine solche Schutzvorschrift anerkannt ist insbesondere § 266 Abs. 1 StGB. Doch die zuständige Staatsanwaltschaft Berlin hat es im Fall von Andreas Scheuer abgelehnt, ein entsprechendes Ermittlungsverfahren auch nur zu eröffnen. Zur Begründung gab die Ermittlungsbehörde im Februar 2020 an, es lägen schon keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte vor, dass Scheuer den objektiven Treuebruchstatbestand verwirklicht hat; die mit Abschluss der Verträge im November 2018 eingegangen Risiken seien nicht klar und evident wirtschaftlich unvertretbar. Darüber hinaus könnte man überlegen, ob nicht der Haushaltsgrundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (§ 6 Abs. 1 HGrG) ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB darstellt, gegen das Scheuer hier verstoßen haben könnte. Dass dieses Prinzip gelegentlich herangezogen wird, um innerhalb eines Beamtenverhältnisses ein Dienstvergehen (§ 77 Abs. 1 BBG, § 47 Abs. 1 BeamtStG) zu begründen, spielt dabei keine Rolle. Denn Dienstpflichten, die für Beamtinnen und Beamten gelten, sind nicht das gleiche wie ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB. Hierfür müsste man vielmehr annehmen können, dass der Haushaltsgrundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit auch dazu dient, den Staat vor Vermögensschädigungen durch Dritte im Außenverhältnis zu schützen. So gesehen spricht doch viel dafür, dass es sich eher um einen objektiven Rechtsgrundsatz staatlichen Binnenlebens denn um ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB handelt.

Bliebe noch zu überlegen, ob Andreas Scheuer dem Staat nach § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung auf Ersatz von 243 Millionen Euro haftet. Dazu müsste man dem Ex-Minister zunächst einmal mindestens Eventualvorsatz gerade in Bezug auf den Schaden nachweisen. Hat Scheuer die Schäden für möglich gehalten und sie billigend in Kauf genommen, sich also mit ihnen bereits im November 2018 abgefunden? Ich habe bei allem Verständnis für die Empörung des Publikums starke Zweifel, dass ein solcher Nachweis gelingen wird, wenn die Staatsanwaltschaft Berlin hinsichtlich der schädigenden Handlungen – den Vertragsschlüssen im November 2018 – von wirtschaftlichen Risiken ausgeht, die im Rahmen von § 266 Abs. 1 StGB noch vertretbar sind. Gegen einen Schädigungsvorsatz Scheuers spricht auch, dass der Generalanwalt am EuGH in seinem Schlussantrag vom 6. Februar 2019 die Auffassung vertrat, die Maut sei mit dem Unionsrecht vereinbar. Darüber hinaus ist für mich auch zweifelhaft, dass man Scheuer die für eine Haftung nach § 826 BGB erforderliche Sittenwidrigkeit nachweisen kann. Die in diesem Zusammenhang üblichen Formeln etwa vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden sind praktisch wenig brauchbar. Klar ist jedenfalls, dass das System des deutschen Deliktsrechts im Grundsatz von einer Haftung nur bei Verletzung bestimmter Rechtsgüter bzw. Rechtsvorschriften ausgeht (§ 823 BGB). Eine Haftung für bloße Vermögensschäden, wie sie § 826 BGB ermöglicht, kann daher nur unter strengen Voraussetzungen angenommen werden. Gegen die Annahme von Sittenwidrigkeit spricht etwa, dass Scheuer – anders als etwa einige Fahrzeughersteller im Zusammenhang mit den Dieselabgasskandalen – nach allem was bekannt ist keine eigenen wirtschaftlichen Vorteile verfolgte.

Haftung nach bayerischem Vorbild ist nicht erstrebenswert

Mir ist klar, dass es weite Teile der Öffentlichkeit begrüßen würden, wenn Andreas Scheuer nun mit seinem Privatvermögen für die gescheiterte Pkw-Maut büßen müsste. So unbefriedigend das gegenteilige Ergebnis meiner juristischen Bewertung manchem erscheinen mag, sehe ich auch keinen Bedarf, die bestehenden Vorschriften zu ändern und etwa eine Haftung für Bundesministerinnen und -minister einzuführen, wie sie das bayerische Ministergesetz vorsieht.

Zum einen wäre der Nutzen einer solchen Haftung sehr begrenzt. Schäden in schwindelerregender Millionen- oder gar Milliardenhöhe lassen sich weder vernünftig versichern noch durch den Zugriff auf das Privatvermögen von Ministerinnen oder Ministern auch nur annähernd vollständig ersetzen. Umgekehrt schadet das Damoklesschwert einer Ministerhaftung der Entscheidungsfreiheit und -freude von Kabinettsmitgliedern, auf die effektives Regieren aber angewiesen ist. Vor allem aber ist es gerade nicht so, dass Ministerinnen und Minister unter keinen Umständen für Amtshandlungen haften. Nur sind die hohen Hürden für eine solche Haftung im Fall von Scheuer eben (noch) nicht erfüllt. Eine Ministerpräsidentin oder ein Bundesminister, der eine vorsätzliche Untreue (§ 266 Abs. 1 StGB) zulasten des Staats begeht oder den Fiskus vorsätzlich und sittenwidrig schädigt, steht für den entstandenen Vermögen durchaus mit seinem Privatvermögen ein und wird hiervon auch im Falle einer Privatinsolvenz nicht frei (§ 302 Nr. 1 InsO). Das ist gerade mit Blick auf die politischen Entwicklungen in diesem Land, die Regierungsbeteiligungen verfassungsfeindlicher Kräfte fürchten lassen, ein beruhigender Befund: Weder könnten sie ihre demokratischen Amtsvorgänger ohne Weiteres für eine angeblich falsche Politik auf Schadensersatz in Anspruch nehmen, noch das Vermögen der Bundesrepublik mit Anlauf schädigen, ohne sich selbst der Gefahr einer späteren Inanspruchnahme auszusetzen.


SUGGESTED CITATION  Heinemann, Patrick: Er haftet nicht: Scheuer und die Maut-Millionen, VerfBlog, 2023/8/05, https://verfassungsblog.de/er-haftet-nicht/, DOI: 10.17176/20230805-224323-0.

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