03 August 2016

Erdogan in Köln: Zumutungen des Versammlungsrechts

Auf dem Verfassungsblog wurde in der letzten Zeit häufiger über die politischen und verfassungsrechtlichen Entwicklungen in der Türkei berichtet, die sich als Minderung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards beschreiben lassen. Am vergangenen Sonntag, dem 31.7.2016, fand in Köln eine Solidaritätskundgebung für den türkischen Staatspräsidenten statt. Dieser durfte indes nicht – wie vom Veranstalter beabsichtigt – über Videoleinwand zugeschaltet werden und zu den Demonstranten sprechen, weil die zuständige Behörde es verboten hatte. Der daraufhin wegen der Untersagung der Videobotschaft erhobene Vorwurf, in Deutschland gebe es keine Demokratie und Menschenrechte, ist – insbesondere im Vergleich – von geringer Überzeugungskraft, so dass hierauf nicht weiter eingegangen wird. Stattdessen widmet sich dieser Beitrag der dogmatischen Analyse der Entscheidungen zur Untersagung der Videobotschaft.

  1. Hintergrund

Ausweislich der Pressemitteilungen und der Gerichtsentscheidungen des VG Köln und des OVG NRW hat die Polizei zunächst die Aufstellung einer Leinwand insgesamt verboten und dies mit einem Gefahrenpotential begründet. Welcher Art das Gefahrenpotential war, wird aus den Gerichtsentscheidungen nicht deutlich. Die Pressestelle des Polizeipräsidiums Köln hat den Auflagenbescheid vom 27.07.2016 nicht zugänglich gemacht, so dass im Folgenden teilweise lediglich Mutmaßungen angestellt werden können.

Das VG Köln (Beschl. v. 29.07.2016, Az. 20 L 1790/16) hat im Verfahren nach § 80 V VwGO die Auflage als belastenden Verwaltungsakt eingestuft und dem Antrag nur insoweit stattgegeben, als die Videoleinwand zur vergrößerten Darstellung der persönlich bei der Versammlung anwesenden Redner aufgestellt werden durfte. Im Übrigen – und damit auch hinsichtlich der Übertragung der Rede des Staatspräsidenten – wurde der Antrag abgelehnt.

In dem Beschluss wird § 15 VersG erwähnt, allerdings unspezifisch und in unklarer Weise:

Materiell spricht viel dafür, dass die Aufstellung der Videoleinwand zu den vom Antragsteller beabsichtigten Zwecken teilweise nicht vom Grundrecht der Versammlungsfreiheit und § 15 VersG gedeckt ist, was in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit allerdings nicht im Einzelnen und abschließend zu entscheiden ist.

In der folgenden Argumentation spielt die Rechtsgrundlage keine Rolle mehr, vielmehr wird die Argumentation umgedreht: Der Veranstalter habe keinen Anspruch darauf, dass ein ausländisches Staatsoberhaupt zugeschaltet werde. So heißt es:

Soweit in der Antragsschrift als weitere Zwecke für die Benutzung der Videoleinwand die Einblendung von Videos, Fotos und anderen Aufzeichnungen genannt wird, kann in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zuverlässig geprüft werden, inwieweit diese Einblendungen möglicherweise unter den oben genannten Bereich der nicht versammlungsrechtlich geschützten Aktivitäten fallen. Im Rahmen der danach zu treffenden Abwägungsentscheidung kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass das Interesse des Antragstellers überwiegt, soweit es um die Benutzung der Videoleinwand ausschließlich für eine vergrößerte Darstellung der persönlich anwesenden Redner geht, im Übrigen aber das gegenteilige öffentliche Interesse.

Mit einem Fehlen des Anspruchs argumentierte auch das OVG NRW (Beschl. v. 29.07.2016, Az. 15 B 876/16).

  1. Erfordernis einer Rechtsgrundlage

Diese Herangehensweise überzeugt dogmatisch nicht. Für den belastenden Verwaltungsakt bedarf es einer Rechtsgrundlage, anderenfalls verstößt die Maßnahme gegen höherrangiges Recht. An der sofortigen Vollziehung einer rechtswidrigen Verfügung bestünde dann aber kein öffentliches Interesse.

Keinesfalls muss der Veranstalter einen Anspruch nachweisen. Denn es besteht lediglich ein Anmeldeerfordernis in § 14 VersG, aber keine Genehmigungspflicht. Liegt eine Versammlung i.S.d. § 1 VersG vor, so muss die Behörde die Voraussetzungen einer Beschränkungsmöglichkeit darlegen. Das Erfordernis einer Rechtsgrundlage ergibt sich entweder aus Art. 8 I GG (Selbstbestimmungsrecht der Veranstalter) oder zumindest aus Art. 2 I GG (Elfes-Rechtsprechung). Wenn man der Argumentation des VG Köln und des OVG NRW folgt, wonach die Versammlungsfreiheit es nicht beinhaltet, ein ausländisches Staatsoberhaupt hinzuzuschalten, dann wäre der Schutzbereich von Art. 8 I GG nicht eröffnet und das subsidiäre Auffanggrundrecht aus Art. 2 I GG anwendbar.

Selbst wenn man eine Sperrwirkung des Art. 8 I GG gegenüber dem Art. 2 I GG annähme, so dass derjenige, der eine Versammlung veranstaltet, sich ausschließlich auf die Versammlungsfreiheit berufen darf, bestünde der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes. Diesen leitet das BVerfG zumindest auch aus Art. 20 III GG her. Selbst wenn man auch diesem Ansatz nicht folgen möchte, darf wegen der einfachgesetzlichen Verbürgung in § 1 VersG die Exekutive nicht aus eigener Verantwortung beschränkende Verfügungen erlassen, sondern bedürfte einer Rechtsgrundlage (Vorrang des Gesetzes). Die einfachrechtliche Ausgestaltung des Versammlungsrechts kann über die Gewährleistung des Art. 8 I GG hinausgehen, wie § 1 VersG in persönlicher Hinsicht zeigt. Auch dann bedarf es jedoch einer Rechtsgrundlage für das behördliche Handeln.

  1. Voraussetzungen einer Rechtsgrundlage

§ 15 I VersG ist die richtige Rechtsgrundlage, wenn es um den Erlass versammlungsspezifischer beschränkender Verfügungen vor Versammlungsbeginn geht. Dies setzt voraus, dass zum Erlasszeitpunkt erkennbare Umstände vorliegen, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet ist. Hinsichtlich der unmittelbaren Gefährdung ist die Rechtsprechung sehr streng. Mutmaßungen reichen nicht aus, sondern es muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass es zu einem Schaden für eines der Schutzgüter kommt.

Ob diese Voraussetzungen hier vorlagen und im Hinblick auf welches der Schutzgüter, kann nicht abschließend beurteilt werden. Denn der relevante Sachverhalt ist in den veröffentlichten Entscheidungen nicht mitgeteilt. Diese Voraussetzung wäre dann erfüllt, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststünde, dass der Staatspräsident mit seiner Rede Straftatbestände erfüllte. Dies kann nicht unterstellt werden, sondern muss durch erkennbare Umstände belegt werden können.

Andere Rechtsgrundlagen wurden nicht genannt. Etwaige straßen(verkehrs)rechtliche Vorgaben sind nicht einschlägig. Denn das Aufstellen der Leinwand wurde an sich gebilligt. Es wird nur nach dem Inhalt der Übertragung differenziert, was indes keinen Bezug zum Straßen(verkehrs)recht hat. Überdies sollte die Leinwand auf einer Bühne stehen und damit keinen zusätzlichen Raum beanspruchen. Ein Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht kommt wegen der Spezialität des Versammlungsgesetzes nicht in Betracht. § 47 AufenthG ließe eine Beschränkung der politischen Betätigung ausländischer Personen zu. Dies ist auch nach Art. 16 EMRK zulässig. Aber dann wäre der ausländische Redner der Adressat der Maßnahme, nicht der Veranstalter der Versammlung als Dritter. In diesem Fall hätte wegen eines bevorstehenden Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit in Gestalt der Verfügung gem. § 47 AufenthG und rechtlicher Unmöglichkeit eine Auflage nach § 15 I VersG erlassen werden dürfen. Hierzu ist jedoch nichts in den Entscheidungen ausgeführt worden.

  1. Der ablehnende Kammerbeschluss

Der ablehnende Beschluss der 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG (Beschl. v. 30.07.2016, Az. 1 BvQ 29/16) stützt sich auf den fehlenden Nachweis der Bevollmächtigung durch den Antragsteller. Überdies sei „nicht ersichtlich, dass die angegriffenen Entscheidungen Grundrechte des Antragstellers verkannt hätten.“ Hieran könnte man zweifeln, wenn grundsätzlich verkannt worden wäre, wie weit das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters reicht oder dass Art. 2 I GG anwendbar ist. Das Ergebnis des BVerfG ließe sich – je nach Fallgestaltung – ggf. damit rechtfertigen, dass nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts und nicht die bloß falsche Anwendung des einfachen Rechts gerügt werden kann.

  1. Fazit

Etliche Fragen bleiben offen. Das von den Gerichten erzielte Ergebnis erscheint zwar begründbar. Es bestehen jedoch Zweifel, ob die tatsächlich gegebene Begründung dogmatisch konsistent ist. Auch die Verweise auf staatsorganisationsrechtliche Bestimmungen als Grundrechtsschranken und die Zuständigkeit der Bundesregierung in der Entscheidung des OVG NRW fügen sich nicht nahtlos in die restliche Argumentation ein. Wegen der unklaren Faktenlage kann indes kein abschließendes Urteil gefällt werden.

Unabhängig hiervon und ganz grundsätzlich gilt: Will sich die rechtsstaatliche Demokratie nicht angreifbar machen, muss sie ihre eigenen Standards einhalten. Dies betrifft auch den Umgang mit antidemokratischen und rechtsstaatswidrigen Anfeindungen. Das ist unbequem und kann als Zumutung empfunden werden. Aber diese Zumutungen müssen ertragen werden. Sie sind außerdem geringfügig – verglichen mit den Zumutungen die andere Staatsformen, die keine rechtsstaatlichen Demokratien sind, ihren Bürgern abverlangen.


SUGGESTED CITATION  Schaks, Nils: Erdogan in Köln: Zumutungen des Versammlungsrechts, VerfBlog, 2016/8/03, https://verfassungsblog.de/erdogan-in-koeln-zumutungen-des-versammlungsrechts/, DOI: 10.17176/20160804-091036.

14 Comments

  1. JG Wed 3 Aug 2016 at 23:06 - Reply

    Vielen Dank für den Beitrag! Die Entscheidung des OVG NRW ist mir völlig rätselhaft.

    In ihren Rz. 13, 15 hört es sich so an, als solle der gemeinschaftliche Medienkonsum nicht zum Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG gehören. Das will mir nicht einleuchten. In BVerfGE 111, 147 (2. LS; 154 f.) – “Bochumer Synagoge” – heißt es, dass der “Inhalt einer Meinungsäußerung, der im Rahmen des Art. 5 GG nicht unterbunden werden darf, … auch nicht zur Rechtfertigung von Maßnahmen herangezogen werden [kann], die das Grundrecht des Art. 8 GG beschränken”. Ich hätte es so naheliegend gefunden, diesen Gedanken auf die Informationsfreiheit zu erstrecken. Wenn ein Verbot des Erdoganguckens und -hörens im heimischen Wohnzimmer vor Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 GG Bestand haben muss, dann gilt dasselbe, wenn ich das mit 10.000 weiteren Personen tue.

    Dass der türkische Staatspräsident nicht Grundrechtsträger ist, dass seine Einreise und dass seine Redebefugnis in der Bundesrepublik dem Recht der auswärtigen Gewalt zuzurechnen ist (Rn. 15 f., 18), ist ja richtig. Aber eben auch: völlig egal. Es geht, anders, als das OVG meint, nicht um ein “in die formale Gestalt einer technischen Auflage gekleidete[s] Redeverbot” (Rn. 15), sondern um ein Zuguck- und -hörverbot.

    Den Unterschied zur Anordnung, einen ausländischen staatlichen Fernsehsender nicht zu hören und sehen, vermag ich nicht zu erkennen. Dort käme das OVG doch im Traum nicht auf die Idee, den Anspruch der Fernsehzuschauer aufs Fensehen vom Anspruch des Fernsehsenders aufs Ausgestrahltwerden abhängig zu machen.

    Wenn man das, meinetwegen, mit Rn. 13 f. des Beschlusses anders sieht und das gemeinsame Zuhören und Zusehen nicht Art. 8 Abs. 1 GG unterstellen will, bleibt es beim Schutz aus Art. 2 Abs. 1 GG. Dann aber: siehe Beitrag.

    Jedenfalls aber sehe ich nicht, dass die Entscheidung des OVG “offensichtlich” keine Grundrechte verletzt. Ich hoffe zumindest, dass tragender Teil der Begründung des BVerfG in der Wendung “nach dem Vorbringen des Antragstellers” liegt und dessen Verfahrensbevollmächtigter schlicht, ähem, nicht so gut war. Passiert ja. Misslich ist es trotzdem, weil es den Anschein einer Billigung der Argumentation des OVG durch das BVerfG erweckt.

  2. Anmerkung Thu 4 Aug 2016 at 09:07 - Reply

    Das OVG gibt eine zentrale und überzeugende Begründung für die Verneinung des Anspruchs: “Der Grundentscheidung der Art. 20 Abs. 1, Abs. 2, 23, 24, 32 Abs. 1, 59, 73 Nr. 1 GG ist zu entnehmen, dass sich die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten – d. h. auch zu deren Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern – allein nach Maßgabe dieser Bestimmungen auf der zwischenstaatlichen Ebene vollziehen. Sie sind in diesem Rahmen Gegenstand der Gestaltung der Außenpolitik des Bundes.” Dass diese außenpolitische Prärogative unterlaufen würde, wenn einzelne Grundrechtsträger gegen den außenpolitischen Willen der Bundesregierung die Zuschaltung oder etwa den Auftritt in persona erzwingen können, ist recht einsichtig. Kurz: Die Ablehnung des Grundrechtsschutzes in diesen Fällen insgesamt ist daher in der Verfassung angelegt (domaine reserve der Außenpolitik).

  3. JG Thu 4 Aug 2016 at 09:50 - Reply

    @Anmerkung: Zur verfehlten Redeweise vom “Anspruch” siehe bereits den Beitrag. Die Verwaltung braucht einen Eingriffstitel, nicht der Versammlungsteilnehmer eine Anspruchsgrundlage.

    Was die “außenpolitische Prärogative” angeht: Müssen sich staatliche Maßnahmen zur Verhinderung des Empfangs eines ausländischen Staatssenders vor Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 GG rechtfertigen? Das scheint mir vor dem Hintergrund der Grundrechtsgenese (“Feindsender” usw.) einigermaßen evident.

    Falls dieses Verhalten aber grundrechtlichen Schutz genießt – wo ist dann der kategoriale Unterschied zum gemeinschaftlichen Medienkonsum in einer Versammlung? Ob man diese Tätigkeit nun Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 5 Abs. 1 und 2 GG unterstellen sollte (also die zum inhaltsbezogenen Versammlungsverbot entwickelte Dogmatik auf die übrigen Kommunikationsfreiheiten erweitert) oder einer unamalgamierten Versammlungsfreiheit oder der Informationsfreiheit oder der Allgemeinen Handlungsfreiheit, weiß ich nicht. (Auch wenn es mir schwer fällt einzusehen, wieso das gemein