19 August 2024

Erledigt und Pech gehabt?!

Die Causa „Capo“ und die Grenzen des Rechtsschutzes im Polizeirecht

Die Olympischen Spiele und die Fußball-Europameisterschaft der Männer in diesem Jahr brachten viele sportbegeisterte Menschen zusammen. Gleichzeitig führen entsprechende Großveranstaltungen üblicherweise zu einer drastischen Erhöhung von Sicherheitsmaßnahmen und Polizeipräsenz. Mit polizeilichem Handeln im Kontext einer Fußballveranstaltung beschäftigte sich kürzlich auch der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts. Dieser entschied mit Urteil vom 24. April 2024 über eine strittige Frage des Verwaltungsprozessrechts: Erfordert das Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Falle sich typischerweise kurzfristig erledigender Verwaltungsakte zusätzlich einen qualifizierten (also tiefgreifenden, gewichtigen bzw. schwerwiegenden) Grundrechtseingriff? So ist es, sagt das Bundesverwaltungsgericht und verlangt weitergehend eine genaue Einzelfallwürdigung der Eingriffsintensität (Rn. 34). Damit wird eine eigentlich materiellrechtliche Frage in die Zulässigkeit der Klage verlagert. Es besteht das Potential den Individualinteressen der Kläger*innen nicht ausreichend gerecht zu werden. Den nachträglichen Rechtsschutz gegen polizeiliche Maßnahmen einzuschränken überzeugt auch grundsätzlich nicht.

Causa „Capo“

Dem Urteil des 6. Senats lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Polizei erteilte dem Kläger – einem Anhänger des Vereins Borussia Dortmund, welcher von der Polizei als Anführer der Ultraszene („Capo“) eingestuft wurde – ein Betretungs- und Aufenthaltsverbot gem. § 34 Abs. 2 PolG NRW für die Dortmunder Innenstadt während des Derbys 2019 gegen Schalke 04. Das Verbot galt für den Tag des Spiels von 10.00 Uhr bis 20.00 Uhr und umfasste das Stadionumfeld sowie andere Bereiche der Dortmunder Innenstadt, an denen sich (gegnerische) Fans aufhielten. Begründet wurde die Maßnahme mit der Einschätzung, der Kläger gelte als „Capo“ der gewaltbereiten Fanszene. Zudem spreche sein Verhalten aus den Jahren 2016 und 2017 dafür, dass er weitere Straftaten begehen oder zu deren Begehung beitragen werde. Gleichzeitig war bekannt, dass der Kläger seit Mitte 2017 nicht mehr polizeirechtlich auffiel. Mit seiner Klage gegen das Aufenthaltsverbot hatte der Kläger weder vor dem zuständigen Verwaltungsgericht noch dem Oberverwaltungsgericht Erfolg, da ihm das Fortsetzungsfeststellungsinteresse abgesprochen wurde.

Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung? Die Klärung durch den 8. Senat

Zuvor hatte sich der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 27.01.2021 – 8 C 3.20 bereits mit dem Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei typischerweise kurzfristiger Erledigung näher auseinandergesetzt. Hier hieß es, dass ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse schon deswegen anzunehmen sei, weil diese Maßnahmen „sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie […] regelmäßig keiner Überprüfung zugeführt werden können” (Rn. 11).

Aus diesem Urteil schlussfolgerten sowohl der 6. Senat, als auch bereits das OVG Münster in der Vorinstanz, dass eine Person „jeden Eingriff in eine Rechtsposition in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren überprüfen lassen könne, wenn sich die kurzfristige Erledigung aus der Eigenart des Verwaltungsakts selbst ergebe“ (Rn. 61). Vor der Entscheidung in der Causa „Capo“ wandte sich der 6. Senat daher an den 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts, da er eine Verschärfung dieser Anforderungen beabsichtigte und daher eine Abweichung von dessen Rechtsprechung für möglich hielt.

Sodann stellte der 8. Senat in seinem Beschluss vom 29.01.2024 – 8 AV 1.24 fest, dass es zusätzlich auf die erforderliche Intensität des Grundrechtseingriffs ankomme. Allein der Umstand, dass sich der Verwaltungsakt typischerweise kurzfristig erledige, reiche nicht aus, um ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahen. Der 8. Senat begründet diese Haltung folgendermaßen: Seine Entscheidung von 2021 formuliere keine allgemeinen Voraussetzungen des Fortsetzungsfeststellungsinteresses, sondern beschränke sich auf Subsumtionssätze (Rn. 10). Zudem sei in dieser Entscheidung ein qualifizierter Grundrechtseingriff aufgrund der bisherigen Rechtsprechung zum Sonntagsschutz ohnehin gegeben gewesen (Rn. 13), obgleich sich das Gericht damit nicht explizit auseinandergesetzt hat. Deshalb war nach der Ansicht des 8. Senats nicht mit einer Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung zu rechnen. Damit vollzieht der 8. Senat jedoch eine Abkehr von dem eindeutigen Wortlaut seiner Entscheidung vom 27.01.2021.

Wann geklagt werden darf: Maßstäbe für die Ermittlung eines qualifizierten Grundrechtseingriffs

Durch den Beschluss des 8. Senats gestärkt, setzte sich der 6. Senat in der „Capo-Entscheidung“ detailliert damit auseinander, welche Kriterien für die Beurteilung der Eingriffsintensität heranzuziehen seien, um den als erforderlich erachteten qualifizierten Grundrechtseingriff zu bestimmen. Dies solle nach dem Vorbild der Ermittlung des Wesensgehalts des jeweiligen Grundrechts gem. Art. 19 Abs. 2 GG erfolgen (Rn. 34). Hierbei werde zum einen die besondere Bedeutung des Grundrechts im Gesamtsystem der Grundrechte und zum anderen die Möglichkeit einer Beschränkung der individuellen Selbstbestimmung berücksichtigt (Rn. 34). Der Begriff der individuellen Selbstbestimmung ermöglicht damit eigentlich einen eigenen gerichtlichen Spielraum anhand einer Würdigung des konkreten Einzelfalls – immer im Rahmen der Zulässigkeit der Klage.

Qualifizierte Grundrechtseingriffe seien jedenfalls immer dann anzunehmen, wenn eine Verletzung der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG möglich sei, ein Eingriff in Grundrechte, die unter dem Richter*innenvorbehalt stehen (Art. 13 Abs. 2, Art. 104 Abs. 2 und Abs. 3 GG), oder in Art. 10 GG vorliege, oder die staatliche Maßnahme so „eklatant fehlerhaft“ sei, dass objektive Willkür nach Art. 3 Abs. 1 GG naheliege (Rn. 33).

Wie wichtig ist Fußball?

Im Fall „Capo“ fiel die Einzelfallwürdigung recht knapp aus. Im Ergebnis stellte der 6. Senat einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG fest. Dieser erreiche jedoch mangels der erforderlichen Relevanz für die individuelle Selbstbestimmung nicht die Intensität eines qualifizierten Grundrechtseingriffs. Der 6. Senat begründet die Entscheidung damit, dass das erteilte Betretungs- und Aufenthaltsverbot „lediglich die Möglichkeiten zur Gestaltung der Freizeit des auswärts wohnenden Klägers und der Erledigung seiner alltäglichen Geschäfte [beeinträchtigt habe]“ (Rn. 40). Ferner könne es auf „subjektive Gesichtspunkte“ des Klägers „wie etwa den gesteigerten Erlebniswert der in Rede stehenden Fußballbegegnung“ nicht ankommen (Rn. 40).

Diese Subsumtion verwundert. Nach den eigens gesetzten Maßstäben des BVerwG erfolgt die Einzelfallwürdigung gerade anhand des Kriteriums der individuellen Selbstbestimmung. Das entspricht auch der Grundrechtssystematik, da Grundrechten aufgrund ihrer Abwehrfunktion eine individuelle Prüfung der Grundrechtsbetroffenheit inhärent ist. Ein Grundrechtseingriff ist unter allgemeinen Kriterien ermittelbar und wurde vom 6. Senat hier auch angenommen. Bei der Bemessung der Eingriffsintensität sollten subjektive Gesichtspunkte einbezogen werden. Der 6. Senat verzichtet jedoch gänzlich darauf, subjektive Gesichtspunkte wie die individuelle Bedeutung und das Ausmaß der Maßnahme für den Kläger im Rahmen der Einzelfallwürdigung zu berücksichtigen. Dass der Ausschluss von einer Sportveranstaltung in „erheblichem Umfang über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entscheidet“, erkannte hingegen bereits das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung an. (Rn. 41). Innerhalb der Begründung des Betretungs- und Aufenthaltsverbots im zugrundeliegenden Fall führte das Polizeipräsidium Dortmund sogar selbst an, dass das Spiel für die Fanszene von großem Interesse gewesen sei und einen „hohen emotionalen Stellenwert“ habe. Diese polizeiliche Einschätzung ist naheliegend, gerade im Hinblick auf die identitätsstiftende Fankultur der „Ultraszene“. Eine individuelle Betroffenheit von qualifiziertem Gewicht scheint daher gerade für den Kläger im konkreten Fall auf der Hand zu liegen. Dennoch sprach das Gericht dem Kläger sein Feststellungsinteresse und damit sein Klagerecht ab. Dies vermag nicht zu überzeugen.

Rechtsschutzlücke im Polizeirecht?

Die Entscheidung ist auch über den individuellen Fall hinaus von Bedeutung für den Rechtsschutz im Polizeirecht. Ein Platzverweis wird ausgesprochen, eine Identitätsfeststellung angeordnet, ein Aufenthaltsverbot verhängt: Im Polizeirecht stellt die analoge Fortsetzungsfeststellungsklage keine Ausnahme, sondern aufgrund der regelmäßig schnellen Erledigung polizeilicher Maßnahmen vielmehr die Regel dar. Außer der analogen Fortsetzungsfeststellungsklage ist kein anderweitiger nachträglicher Rechtsschutz vorgesehen.  Durch erhöhte Anforderungen an das Fortsetzungsfeststellungsinteresse kann damit eine Rechtsschutzlücke entstehen. Dieses Ergebnis überzeugt im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Die Norm vermittelt ein subjektives Recht auf wirksamen und möglichst lückenlosen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Dazu gehört auch die „bloße“ Feststellung über die Rechtswidrigkeit einer Maßnahme unter der Voraussetzung, dass ein Rechtsschutzbedürfnis vorliegt.

Der 6. Senat begründet seine Entscheidung maßgeblich mit der Bedeutung der Entlastung der Gerichte für die Sicherung des effektiven Rechtsschutzes: Weniger Rechtsschutz für „nicht so intensiv“ Betroffene von Grundrechtseingriffen, solle zu insgesamt mehr Rechtsschutz für alle Rechtsschutzsuchenden führen (Rn. 29). Durch die Maßstäbe wird eine Einzelfallwürdigung nach dem Beispiel des Art. 19 Abs. 2 GG in die Zulässigkeit verlagert. Dennoch müsste auch an dieser Stelle eine Abwägung aller individuellen Umstände vorgenommen werden. Sofern sich Gerichte tatsächlich nach diesen Maßstäben zukünftig richten sollen, läuft das Ressourcenargument leer. Dass diese Abwägung jedoch ressourcensparend erfolgen kann, zeigte der 6. Senat selbst, indem er auf der Hand liegende Erwägungen nicht berücksichtigte. Dies führt zu einer nicht nachvollziehbaren Einschränkungen des Rechts auf effektiven Rechtsschutz. Es besteht keine Möglichkeit rechtswidrige staatliche Eingriffe in Grundrechte gerichtlich geltend zu machen, wenn diese – salopp gesprochen – „nicht so wichtig“ sind. Im Ergebnis müssen daher nicht nur Eingriffe, sondern gar Verletzungen bestimmter Grundrechte hingenommen werden. Dies steht im Widerspruch zu Art. 19 Abs. 4 GG, welcher gerade nicht danach differenziert, in welcher Intensität Grundrechte betroffen sind. Auf diese Tatsache verwies das Bundesverwaltungsgericht selbst in einer Entscheidung zur Untersagung von Sportwetten (Rn. 30).

Darüber hinaus spreche nach Ansicht des 6. Senat der Ausnahmecharakter des nachträglichen Rechtsschutzes in Form der analogen Fortsetzungsfeststellungsklage gerade dafür, dass nicht jedes staatliche Handeln nachträglich überprüft werden könne. Denn jeder belastende Verwaltungsakt stelle zumindest immer einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG dar (Rn. 24). Damit solle verhindert werden, dass Gerichte noch in Anspruch genommen werden, wenn „aktuell nichts mehr bewirkt werden“ könne (Rn. 29). In diesem Zusammenhang bezieht sich der 6. Senat auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2009, in der es heißt, dass aus Art. 19 Abs. 4 GG keine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltung entnommen werden könne, sondern dieser eine Systementscheidung für den Individualrechtsschutz treffe. Doch anders als bei der Entscheidung des 6. Senats war der Kläger in dem Bundesverfassungsgericht zugrundeliegenden Fall bereits nicht klagebefugt, da es an einer Möglichkeit der Verletzung subjektiver Rechte fehlte. Im Fall „Capo“ lag eine eindeutige Grundrechtsbetroffenheit vor, die von dem 6. Senat lediglich als „weniger schlimm“ bzw. als für ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht ausreichendes „Klärungsinteresse“ eingeordnet wurde (Rn. 25).

Was bleibt: Hohe Anforderungen an die Einzelfallprüfung

Durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in der Causa „Capo“ hat nicht nur die Diskussion über die grundrechtliche Relevanz des Sports, sondern vor allem die umstrittene Fallgruppe des Fortsetzungsfeststellungsinteresses bei sich typischerweise kurzfristig erledigenden Verwaltungsakten erneut höchstrichterliche Konturen erhalten. Um ein vermeintliches da könnte ja jede*r kommen zu verhindern, erhöhte der 6. Senat die Anforderungen an diese Fallgruppe und damit für den Grundrechtsschutz gegen staatliche Repression. Für das Polizeirecht überzeugt insbesondere das Argument des Ausnahmecharakters der nachträglichen gerichtlichen Überprüfung nicht. Schnelle Erledigungen sind hier an der Tagesordnung. Eine umfassende Einzelfallwürdigung in die Zulässigkeit zu verlagern, schont die Gerichte nur bedingt und schneidet im Zweifel den individuellen Rechtsschutz pauschal ab. Die Verwaltungsgerichte sollten künftig zumindest den Anforderungen an die Einzelfallwürdigung ausreichend Rechnung tragen. Dafür müssen sie die individuellen Umstände und Grundrechtspositionen der Kläger*innen angemessen berücksichtigen und anerkennen. Auch in diesem Punkt kann die Entscheidung vom 24. April 2024 nicht überzeugen.