08 August 2024

(K)eine Frage der Gerechtigkeit

Eine feministische Kritik der erwerbszentrierten Sozial- und Einbürgerungspolitik

Das Existenzsicherungsrecht lässt sich vereinfachend in zwei Kategorien teilen: Leistungen für erwerbsfähige Personen und Leistungen für nicht erwerbsfähige Personen. Die prominentesten existenzsichernden Leistungen des deutschen Sozialrechts sind die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII). Diese sichern den Lebensunterhalt derjenigen Personen, die entweder erwerbsgemindert sind oder das Renteneintrittsalter überschritten haben. Bereits diese erste Dichotomie zeugt von der erwerbszentrierten Ausrichtung des Existenzsicherungsrechts: Wer weder „alt“ noch erwerbsgemindert ist und dennoch seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenem Erwerbseinkommen oder Vermögen sichern kann, wird als arbeitsuchend eingestuft.

Die unmittelbare Verknüpfung der sozialrechtlichen Hilfebedürftigkeit, also der negativen Differenz zwischen den einer Person zur Verfügung stehenden Mitteln und ihrem existenznotwendigen Bedarf, mit der Einordnung als „arbeitsuchend“, ist Ausdruck der politischen Grundannahmen, die sich im Existenzsicherungs-, aber auch im Einbürgerungsrecht und im Umgang mit Familienleistungen zeigen: Armut sei in erster Linie Armut an Erwerbsarbeit und Ausdruck einer freien Entscheidung zur Untätigkeit. Ein absichtlich niedrig gehaltenes Sozialleistungsniveau und die Sanktionierung des fortdauernden Bezugs werden so zum Ausdruck eines daraus folgenden Gerechtigkeitsverständnisses. Auch die als Teil der „Wachstumsinitivative“ angekündigten, zusätzlichen Verschärfungen im Bürgergeldrecht stellen sich damit als logische Fortsetzung einer einheitlichen politischen Linie dar.

Die erwerbszentrierte Ausrichtung des Existenzsicherungsrechts führt am Sicherungsbedürfnis der überwiegend weiblichen, Care-Arbeit leistenden Personen vorbei.

Die neoliberale Vorstellung von Armut

Die erste zentrale Grundannahme lautet: Armut ist Armut an Erwerbsarbeit. Kann eine Person, die bei typisierender Betrachtung zur Erwerbsarbeit fähig ist, ihren Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt ihrer Angehörigen nicht aus erwirtschafteten Einkommen sichern, arbeitet sie zu wenig.

“Das Beste, um Armut zu überwinden, ist Arbeit. Denn der Grund für Kinderarmut ist ja oft die Armut an Arbeit, an Integration, an Sprachkenntnissen der Eltern. Deshalb darf von einer Reform der sozialen Unterstützungsleistungen für Familien kein Anreiz ausgehen, sich nicht um Erwerbsarbeit, um Integration und Sprachkenntnisse zu bemühen. Deshalb haben wir auch keine generellen Leistungserhöhungen verabredet.”

Christian Lindner in einer Pressemitteilung zur Kindergrundsicherung

Darauf aufbauend wird davon ausgegangen, dass Personen, die über kein oder kein hinreichendes Erwerbseinkommen verfügen, schlicht unwillig sind zu arbeiten. Geleistete Care-Arbeit wird mit freiwillig gewählter Untätigkeit gleichgesetzt. Um die vermeintlich freie Wahl zwischen Erwerbsarbeit und Untätigkeit durch gesetzgeberische Anreize zu beeinflussen, müsse die Existenzsicherung für die als arbeitsuchend eingestuften Leistungsberechtigten möglichst ungemütlich ausgestaltet sein. Dabei wird darauf verwiesen, dass der Abstand zwischen Löhnen und Bürgergeld (durch niedriges Bürgergeld, nicht etwas durch höhere Löhne) „spürbar“ sein muss.

Tatsächlich beruht der Bezug von SGBII-Leistungen in der Regel gerade nicht auf der Ablehnung zumutbarer Arbeit: Nach den jüngsten, der Bundesagentur für Arbeit vorliegenden Daten erhielten im Oktober 2023 57% der Leistungsbeziehenden Zuwendungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ohne arbeitslos zu sein. Knapp jeder fünften Person, die Leistungen nach dem SGB II bezog, war eine Arbeit nicht zumutbar, weil sie entweder kleine Kinder oder Angehörige versorgt oder sich noch in Ausbildung befindet.

Sozialleistungsbezug als Frage der Gerechtigkeit

Logische Folge der Annahme, dass Armut auf fehlender Erwerbsarbeit beruhe und diese wiederum auf die freiwillige Wahl der Untätigkeit zurückzuführen sei, ist die Forderung, Gerechtigkeit zwischen denen herzustellen, die es sich „gemütlich machen“ und denen, die „das Geld erarbeitet“ haben. Um die Akzeptanz der Leistungen zu erhalten und um mehr Betroffene in Arbeit zu bringen, sei es erforderlich, das Prinzip der Gegenleistung wieder zu stärken, heißt es dazu in einem Papier des Bundesfinanzministerium zum geplanten Wachstumspaket.

Bezug genommen wird auf eine stark vereinfachte und unzutreffend individualisierte Transferfunktion steuerfinanzierter Sozialleistungen: Steuern werden durch die Einkommenssteuer aufgebracht und für Sozialleistungen ausgegeben. Leistungsbeziehende werden ohne Rücksicht auf die individuellen Umstände Opfer einer aggressiven Sozialstaatssemantik, die zwischen Leistenden und Nutznießer:innen differenziert. Wer keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, lebt danach von der Arbeit der anderen. Der ökonomische Wert der Care-Arbeit, insbesondere der reproduktiven Art, für die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft (Martin Werding kommt im Rahmen einer Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zu dem Ergebnis, dass Eltern der Gesamtgesellschaft mit der Erziehung eines Kindes mind. 50.500€ zukommen lassen) wird so unsichtbar.

Da der Bezug von Sozialleistungen in Anbetracht der drei vorgenannten Grundannahmen als Indiz für individuellen Unwillen und ein Leben auf Kosten der anderen betrachtet wird, rechtfertigt der Sozialleistungsbezug ein besonders hartes Vorgehen. Das gilt neben dem Sozialrecht auch für das Einbürgerungsrecht. Marco Buschmann betont auf X, dass die Einbürgerung nur für die Menschen leichter werden soll, „die von ihrer eigenen Hände Arbeit leben.“ Dadurch solle gezeigt werden, dass Einwanderung in den Arbeitsmarkt und nicht in den Sozialstaat gewünscht sei.

Der Niederschlag im Sozial- und Einbürgerungsrecht

Die Idee, der erschreckend häufigen Armutsbetroffenheit Alleinerziehender mittels des Entzugs von Sozialleistungen beizukommen, zeigt sich etwa in einer geplanten Reform des Unterhaltsvorschussrechts. Der Unterhaltsvorschuss wird von staatlicher Seite an Alleinerziehende gezahlt, wenn die eigentlich zum Kindesunterhalt verpflichtete Person keine oder nur unregelmäßige Unterhaltsleistungen erbringt (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 lit. a UhVorschG). Nach aktuell geltender Rechtslage wird der Unterhaltsvorschuss über das zwölfte Lebensjahr des Kindes hinaus nur dann geleistet, wenn für das Kind keine Leistungen nach dem SGB II bezogen werden bzw. die Hilfebedürftigkeit durch die Leistungen des Unterhaltsvorschusses überwunden wird (§ 1 Abs. 1a Nr. 1 UhVorschG), oder die alleinerziehende Person über ein monatliches Bruttoeinkommen von mindestens 600€ verfügt (§ 1 Abs. 1a Nr. 2 UhVorschG). Um den Erwerbsanreiz für Alleinerziehende zu stärken, soll mit Inkrafttreten der Kindergrundsicherung (Art. 2 BKG-E) den Anspruch auf Unterhaltsvorschussleistungen schon verlieren, wer ab Erreichen des siebten Lebensjahres des Kindes kein entsprechendes Einkommen erwirtschaftet.

Für ihre vermeintliche Untätigkeit noch härter abgestraft werden Leistungsbeziehende in der Grundsicherung für Arbeitsuchende („Bürgergeld“) bei „nachhaltiger Verweigerung der Aufnahme zumutbarer Arbeit“.

Im neu eingefügten § 31a Abs. 7 SGB II findet sich die Umsetzung dieser Idee: Wer eine zumutbare Arbeit nicht aufnimmt und innerhalb des letzten Jahres aufgrund einer Pflichtverletzung, etwa einem versäumten Termin bei der Bundesagentur oder einer verspäteten Arbeitssuchendmeldung, sanktioniert wurde, erhält den für den täglichen Lebensunterhalt als Minimalsatz errechneten Regelbedarf nicht. Ein einmaliger Fehltritt ist erlaubt, der zweite kostet den gesamten Regelbedarf (zur Verfassungskonformität ausführlich Andrea Kießling). Auf selber Linie finden sich die geplanten weiteren Verschärfungen im Bürgergeldrecht. In Abweichung vom bisherigen, nach der Zahl der Pflichtverletzungen gestuften Sanktionsmechanismus des § 31a SGB II, soll nun bereits die erste Ablehnung eines als zumutbar betrachteten Arbeitsangebotes zu einer dreimonatigen und ein erstes Meldeversäumnis zu einer einmonatigen Minderung des Leistungsanspruchs um 30% des Regelbedarfes führen. Flankiert werden soll diese Neuerung mit der Zumutbarkeit von bis zu dreistündigen täglichen Pendelzeiten zur Arbeitsstelle und einer Verkürzung der Karenzzeit für das eigene Schonvermögen.

Am wohl weitreichendsten sind die mit dem „Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts“ zum 26.6.2024 in Kraft getretenen Verschärfungen im Einbürgerungsrecht. Der bisherige Anspruch auf Einbürgerung auch bei Bezug von Sozialleistungen, wenn der Leistungsbezug nicht zu vertreten ist, entfällt rückwirkend für alle nach dem 23.08.2023 gestellten Anträge auf Einbürgerung. Sozialleistungsbezug ist nur dann kein Ausschlusskriterium für die Einbürgerung mehr, wenn die sich im unverschuldeten Sozialleistungsbezug befindliche Person als Gastarbeiter:in tätig war, in Vollzeit arbeitet und aufstockend Leistungen bezieht oder mit einer in Vollzeit arbeitenden Person verheiratet ist und ein minderjähriges Kind im Haushalt versorgt. Personen, die ein minderjähriges Kind in ihrem Haushalt erziehen, ohne mit einer in Vollzeit arbeitenden Person verheiratet zu sein, haben bei Leistungsbezug keinen Anspruch auf Einbürgerung mehr (s. hierzu auch die Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes). Möglich bleibt nur noch eine Härtefalleinbürgerung im Ermessenswege über § 8 Abs. 2 StAG (BT s. 20/9044, S. 34). Ein besonderer Härtefall setzt nach der wenigen Rechtsprechung, die zu dieser bisher in der Praxis kaum relevanten Norm ergangen ist, allerdings „atypische Umstände des Einzelfalls“ voraus (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. Juni 2022 – 19 E 25/22 –, juris).

Kein Platz für Care-Arbeit

Personen, die Care-Arbeit leisten, sind häufiger armutsbetroffen. Durch die Kosten, die für den Lebensunterhalt eines Kindes oder die Versorgung anderer nahestehende Menschen aufzuwenden sind, erhöht sich ihr Unterhaltskostenbedarf, gleichzeitig verringert sich die zeitliche Kapazität zur Erwerbsarbeit. Da Frauen immer noch einen weit größeren Teil der Sorgearbeit übernehmen (der Gender-Care-Gap liegt nach aktuellen Zahlen des BMFSFJ bei ca. 44 %), sind sie von diesem Phänomen überdurchschnittlich stark betroffen. Eine sozialpolitische und sozialrechtliche Reformdiskussion darf diese Geschlechterdimension nicht aus dem Blick verlieren.

Zur sozialen Sicherung Care-Arbeit leistender Personen existiert, trotz einer Vielzahl an Familienleistungen, kein eigener Zweig existenzsichernder Leistungen. Das Elterngeld bezweckt als Einkommensersatzleistung zwar die Lebensstandardsicherung erziehender Personen, die vor der Übernahme der Betreuung und Erziehung über ein hinreichendes netto-Einkommen verfügt haben (vgl. § 2 BEEG). Als echte Leistung des Existenzsicherungsrechts, die das Existenzminimum auch ohne entsprechendes vorheriges Erwerbseinkommen sichert, kommt für Care-Arbeit Leistende aber oft nur die Grundsicherung für Arbeitsuchende in Betracht. So verlieren sie den Anspruch auf Einbürgerung und erhalten betont niedrig gehaltene Familien- und Existenzsicherungsleistungen für sich und ihre Kinder.  Zudem werden sie, abgesehen von der regelhaften Unzumutbarkeit von Arbeitsvermittlungen bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes (s. § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II), zu Adressat:innen von Mitwirkungspflichten und Sanktionsmechanismen. Statt zur Überbrückung kurzfristiger Phasen der Arbeitslosigkeit sind Care-Arbeit leistende Personen über Jahre hinweg auf die Leistungen eines nicht auf sie ausgelegten Systems angewiesen.

Zwar muss ein familien- und arbeitsmarktpolitisch kluges System der existenzsichernden Leistungen auch die aktive Arbeitsförderung von Personen, die ihre Erwerbstätigkeit oder Berufsausbildung wegen der Betreuung aufsichtsbedürftiger Kinder oder der Pflege von Angehörigen unterbrochen haben und in die Erwerbstätigkeit zurückkehren wollen (sog. Berufsrückkehrende, § 20 SGB III) sicherstellen (so vorgesehen in § 8 Abs. 2 SGB III). Auch ist die zügige und langfristige Wiedereingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt im unmittelbaren Anschluss an die Familienarbeit ein Anliegen des Gleichstellungsauftrags des Art. 3 Abs. 2 GG.1) Die aktive Förderung des Wiedereinstiegs nach Zeiten der Betreuung und Erziehung von Kindern schließt die sozialpolitische Anerkennung während der Erziehungsleistung allerdings nicht aus.

Eine adäquate Absicherung Care-Arbeit leistender Personen und ihrer Kinder ist im aktuellen System existenzsichernder Leistungen weder gewährleistet noch beabsichtigt.

References

References
1 so auch Janda in: Schlegel/Voelzke, jurisPK SGB III, 3. Aufl., § 8 Rn. 1.

SUGGESTED CITATION  Gaffron, Shari, Löbbert, Friederike; Schmidt, Lara: (K)eine Frage der Gerechtigkeit: Eine feministische Kritik der erwerbszentrierten Sozial- und Einbürgerungspolitik, VerfBlog, 2024/8/08, https://verfassungsblog.de/erwerbsrecht-und-migrationspolitik-feministische-sicht/, DOI: 10.59704/8aa66f299a8de58e.

3 Comments

  1. RA Martin Lorentz Fri 9 Aug 2024 at 16:20 - Reply

    Ich vertrete in “letzter Instanz” vor dem BVerfG eine Mutter von Zwillingen, deren Arbeitgber ihr keine kitakompatible AZ zuweisen wollte, obwohl dies möglich wäre zum Nachteil andere MA, die keine solche Pflichten treffen. LAG sah den Gleichbehandlungsgrundastz verletzt, wenn für die Mutter eine Sonderregelung geschaffen würde. Die mitthilfe von zwei RiBAG aD eingelegte Revisionsbeschwerde wurde zurückgewiesen. Die Fachgeriche haben hier m.E. versagt. Auch sie lebt nun von Bürgergeld, wie ihre Kinder. Haben Sie Interesse an einem Austausch?

  2. Roman Rick Sallaba Tue 13 Aug 2024 at 10:29 - Reply

    Ein sehr schöner Beitrag, der zeigt, wie die Leitprinzipien des Existenzsicherungsrechts immer noch von einem unzeitgemäßen Normalarbeitsbild ausgehen, welches der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht entspricht. Die Folge ist die Benachteiligung von Erziehenden, insbesondere von Frauen, obwohl sie gesellschaftlich gewünschte und wünschenswerte Aufgaben übernehmen.

    Letztlich zeigt der Artikel auch, dass sich Frauenemanzipation nicht in einer Liberalisierung des Martkzuganges erschöpft, sondern eigentlich mit weniger martkzentrierten Umverteilungsmechanismen, für Aufgaben von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, einhergehen muss.

  3. cornelia gliem Mon 26 Aug 2024 at 14:01 - Reply

    Eigentlich auch eine Frechheit, von „gemütlich machen“ zu sprechen bei z.B. Alleinerziehenden Müttern, die etwa auch ihre Mutter pflegen und zt Teilzeit arbeiten und aufstocken etc.

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