Die EU muss sich stärker für Rechtsstaatlichkeit in Osteuropa engagieren
Die Europäische Nachbarschaftspolitik, die Östliche Partnerschaft wie auch das ausgehandelte Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine bauen auf der gemeinsamen Verpflichtung zur Stärkung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und good governance auf. Die besondere Bedeutung dieser Werte ist Ausdruck der normativen Anforderung an die GASP aus Art. 21 EUV.
Gleichwohl hat die EU in der Vergangenheit keine Strategien gefunden, die Ukraine bei der Umsetzung dieser Werte wirkungsvoll zu unterstützen. Der Majdan, der politische Umsturz und die daraus resultierende Krimkrise sind Höhepunkte einer seit Jahren ungelösten ukrainischen Verfassungskrise. Die Absetzung Präsident Janukowitschs, die Russland dazu brachte, völkerrechtswidrig in das Geschehen auf der Krim einzugreifen, ist Ausdruck eines pro-westlichen Protests für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens, aber auch des Protests gegen seit Jahren ungelöste Probleme wie Korruption, abhängige Justiz, Missachtung der Grundrechte der Bürger und der Rechte der demokratischen Opposition, mithin für eine Einlösung der Versprechen der rechtsstaatlichen ukrainischen Verfassung von 1996.
Weder ist es der EU gelungen, den Akteuren der Orangen Revolution in der Zeit zwischen 2004-2010 ausreichende Anreize zu setzen, deren damaligen Ziele, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte, umzusetzen, noch fand die EU Wege, Präsident Janukowitschs offen autoritärem Kurs seit seiner Wahl 2010 Grenzen zu setzen.
In der Zeit nach der Orangen Revolution wurde das Feld im Bereich der Verfassungskonsolidierung weitgehend dem Europarat überlassen. Ausgehend von der Annahme, dass die politischen Akteure der Ukraine grundsätzlich gewillt sind, Rechtsstaatsreformen voranzubringen, lieferte die Venedig-Kommission unzählige Stellungnahmen zu von der Ukraine vorgebrachten Gesetzesvorhaben. Auf die Umsetzung hatte sie aber so wenig Einfluss wie der EGMR auf die Umsetzung seiner Urteile.
Dabei war bereits die Bilanz der Regierung Timoschenko im Bereich Rechtsstaatsentwicklung erstaunlich schlecht. Nach Freedom House war die Abhängigkeit der Justiz im Jahr 2010 sogar stärker als vor der Orangen Revolution. Tatsächlich setzten die Gewinner der Orangen Revolution nicht auf die langfristige Strategie, Macht an eine unabhängige Justiz abzugeben, um im Falle der Abwahl das politische Überleben zu sichern. Stattdessen verfolgten sie eher eine Strategie des kurzfristigen Machterhalts, zu deren Zweck die Justiz instrumentalisiert wurde. Bestes Beispiel dafür ist die Krise des ukrainischen Verfassungsgerichts im Jahr 2006, als das Parlament die Ernennung der von ihm zu bestimmenden Verfassungsrichter blockierte, weil es eine Überprüfung der Verfassungsreform von 2004 verhindern wollte.
Präsident Janukowitsch beantwortete diesen Kurs mit der erneuten Neubesetzung des Verfassungsgerichts, das sogleich mit einer äußerst problematischen Entscheidung die Verfassungsreform von 2004 revidierte. Außerdem kam es zur faktischen Abschaffung des bis dahin orange-orientierten Obersten Gerichts sowie der strafrechtlichen Verfolgung der Opposition durch rechtsstaatswidrige Verfahren.
Anstatt intensiv zu versuchen, dem entgegenzuwirken, ließ sie sich die EU auf die Putinsche Logik der Integrationskonkurrenz ein und argumentierte, das Assoziierungsabkommen könne nur anstelle des Beitritts der Ukraine zur Eurasischen Zollunion vollzogen werden. Diese Prämisse machte die EU offensichtlich großzügiger im Hinblick auf die offene Nichtbeachtung der grundlegenden Werte des Assoziierungsabkommens in der Ukraine.
Ob es nach den Wahlen in der Ukraine erneut Chancen auf eine verfassungspolitische Transformation geben wird und in welcher Form die EU von der dann gewählten politischen Führung der Ukraine einbezogen wird, ist gegenwärtig völlig offen. Will die EU aber ihre rechtsstaatlichen Ziele ernstnehmen, muss sie ihre Strategien zur Rechtstaatsentwicklung deutlich erweitern. Kaum hilfreich hat sich bisher die bloße Beratung bei der Gesetzgebung erwiesen. So hat die Ukraine z.B. 2010 ein neues Justizgesetz und 2012 ein neues Wahlgesetz verabschiedet. Beide Gesetzgebungsverfahren wurden von der Venedig-Kommission intensiv begleitet, die Gesetze erfüllen heute europäische Standards. Trotzdem hat die Reform des Justizgesetzes so wenig zu einer unabhängigen Justiz geführt wie das neue Wahlgesetz zu unabhängigen Wahlen. Denn für eine unabhängige dritte Gewalt bedarf es mehr als eines wohl durchdachten Justizgesetzes. Das Gesetz muss eingehalten werden, entscheidend ist das law in action. Dazu muss der Kampf gegen die Korruption aufgenommen werden und die Richterausbildung verbessert werden, um Richter zu befähigen, die Gesetze im Geist der Verfassung und der EMRK auszulegen.
Vor allem aber ist es unabkömmlich, dass die Politik die Rechtsprechung als unabhängige Institution akzeptiert und ihr Folge leistet. Anstatt okkasionell Fälle von selektiver Justiz wie bei Timoschenko anzumahnen, müssen die vom Europarat dokumentierten strukturellen Mängel des Justizsystems diskutiert und in einem engmaschigen Rechtsstaatsdialog Reformen abgefragt und unterstützt werden. Um diese Herkulesaufgabe zu bewältigen, brauchen die ukrainischen Politiker neben konkreten Hilfsprogrammen eine deutlichere europäische Perspektive.
Allerdings wird es schwer werden, die Verfassungskrise der Ukraine zu lösen, wenn nicht gleichzeitig mit Russland sicherheits- und wirtschaftspolitisch eine Verständigung erreicht wird. Die Krimkrise hat vor Augen geführt, dass jede innenpolitische Veränderung in den postsowjetischen Staaten in Moskau als Bedrohung empfunden wird. Eine Hinwendung der ehemaligen sowjetischen Staaten zum westlichen Modell wird in Moskau aufgrund der Ausstrahlungswirkung als Gefahr für das eigene System betrachtet. Dieser Reflex des Kalten Krieges hatte schon nach der Orangen Revolution zu einer Repressionswelle in Russland geführt. Hinzu kommt die gefühlte sicherheitspolitische Bedrohung. In der russischen Propaganda wird der europäische Versuch, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu fördern, als bloßer Vorwand interpretiert, um den europäischen Einflussbereich zu erweitern. Um dauerhafte Stabilität für die Ukraine zu erzielen, muss es gelingen, die der Macht Putins dienliche Freund-Feind-Logik zu überwinden und ein „Entweder-oder“ zwischen Eurasischer und Europäischer Union für die Staaten der Östlichen Partnerschaft zu vermeiden.
Auch wenn der Zeitpunkt denkbar ungünstig erscheint, sei letztlich angemerkt, dass es bisher keinen tauglichen Versuch gab, mit der autoritär regierenden russischen Führung in einen Rechtsstaatsdialog einzutreten. Eine langfristige Liberalisierung Russlands wäre aber der beste Garant für eine Lösung der Probleme im postsowjetischen Raum. Gerade die deutsche Politik folgte bisher allerdings dem russischen Narrativ, wonach sich Russland zwar weiterhin den Inhalten der EMRK verpflichtet sieht, die Entwicklung aber Zeit brauche und der Westen aufgrund der eigenen Fehler keine Berechtigung habe, den moralischen Zeigefinger zu erheben. So war selbst im Rahmen der Steinmeierschen deutsch-russischen Modernisierungspartnerschaft bisher kein Raum für einen ernsthaften Rechtsstaatsdialog über institutionelle Defizite. Die russische Argumentation muss aber deutlich hinterfragt werden. Wenn Zeit eingefordert wird, muss entgegengehalten werden, dass Putin in den letzten Jahren keinerlei Reformen des Rechtsstaats unternommen, sondern diesen gerade zurückentwickelt hat. Desweiteren muss dem Einwand widersprochen werden, dass es um westliche Moralvorstellungen ginge. Es geht vielmehr um Russlands normative Verpflichtungen aus der EMRK. Die vom Europarat dokumentierten strukturellen Defizite böten eine hervorragende Grundlage für einen an den institutionellen Problemen der russischen Justiz ausgerichteten Rechtsstaatsdialog mit der weiterhin stark legalistisch ausgerichteten russischen Führung, der die strenge Einhaltung der Gesetze in der Eigendarstellung sehr wichtig ist.The European Neighbourhood Policy, the Eastern Partnership and the EU’s negotiated Association Agreement with Ukraine are based on the joint undertaking to strengthen democracy, the rule of law, human rights and good governance. The special significance of these values reflects the normative requirement relating to the EU Common Foreign and Security Policy based on Art. 21 of the EU Treaty.
Nevertheless, the EU has not in the past found any strategies to effectively support Ukraine in its implementation of these values. The Maidan, the political upheaval and the resulting Crimea crisis are the climax of a long unsolved Ukrainian constitutional crisis. The ousting of President Yanukovych, which led to Russia intervening in the events in Crimea in defiance of international law, is the expression of pro-Western protest in favour of the Association Agreement but also against problems which have remained unsolved now for many years, such as corruption, the lack of independence of the judiciary, disregard for basic citizens’ rights and the rights of the democratic opposition. So such protest was ultimately in favour of the honouring of the promises made in the 1996 Ukrainian constitution in accordance with the principles of the rule of law.
The EU succeeded neither in providing the players in the Orange Revolution with adequate incentives to implement their then targets of rule of law, democracy and human rights in the period between 2004 and 2010 nor in finding way of setting limits to President Yanukovych’s openly authoritarian course after his election in 2010.
During the period after the Orange Revolution, the field of constitutional consolidation was largely left to the European Council. Assuming that the political players were basically willing to promote rule-of-law reforms, the Venice Commission furnished innumerable opinions on the legislative proposals submitted by Ukraine. But it had as little influence on their implementation as the European Court of Human Rights on the implementation of its verdicts.
And this was despite the fact that the record of the Tymoshenko government was already surprisingly poor in relation to development of the rule of law. According to Freedom House, the judiciary’s lack of independence was even greater in 2010 than before the Orange Revolution. It is a fact that the victors in the Orange Revolution did not support the long-term strategy of surrendering power to an independent judiciary, because they wanted to secure their political survival in the event that they were not re-elected. Instead they preferred to implement a strategy of short-term retention of power and the judiciary was instrumentalised for this purpose. The best example is the crisis of the Ukrainian Constitutional Court in 2006, when parliament blocked the naming of the constitutional court judges whom it was scheduled to appoint, with the aim of preventing a review of the 2004 constitutional reform.
President Yanukovych responded to this course by again making new appointments to the Constitutional Court, which immediately revised the 2004 constitutional reform in an extremely problematic decision. In addition, there was de facto abolition of the hitherto Orange-oriented Supreme Court and criminal prosecution of the opposition in legal proceedings in breach of the rule of law.
Instead of making concentrated efforts to counteract these developments, the EU accepted Putin’s concept of integration rivalry and argued that the Association Agreement could only be implemented instead of Ukraine’s accession to the Eurasian Customs Union. This focus apparently made the EU more tolerant of the open disregard of the fundamental Association Agreement values in Ukraine.
At present, there can be no prediction of whether renewed opportunities for constitutional change will emerge after the elections in Ukraine or anticipation of the form in which the EU may be consulted by the political leaders then elected in Ukraine. But if the EU plans to take its targets of establishing the rule of law seriously, it will have to significantly extend its relevant strategies. Mere consultation on legislation has not hitherto proved to be very successful. For example, Ukraine adopted a new law on the judicial system in 2010 and a new election law in 2012. Both legislative procedures enjoyed the concentrated support of the Venice Commission and both laws today comply with European standards. Nevertheless the reform of judiciary law did not lead to an independent judiciary neither did the new election law produce independent elections. For an independent third power, more than a well-conceived judiciary law is required. The law has to be respected and it is the law in action that is decisive. To achieve this, the battle against corruption has to begin and the training of judges improved, so that they are in a position to interpret law in the spirit of the constitution and the European Convention of Human Rights.
Above all, it is essential for politicians to accept the administration of justice as an independent institution and comply with its rulings. Instead of occasionally issuing admonishments about cases of selective justice as in the Tymoshenko era, the structural defects of the judicial system as recorded by the European Council must be discussed and reforms required and supported in a closely knit rule-of-law dialogue. To handle this Herculean task, the Ukrainian politicians need a more clear-cut European perspective as well as specific support programmes.
However, it will prove difficult to resolve Ukraine’s constitutional crisis if no agreement on economic and security aspects is simultaneously reached with Russia. The Crimean crisis has demonstrated that every internal political change in the post-Soviet countries is seen as a threat in Moscow. When former Soviet countries turn towards the Western system, this is regarded in Moscow as a risk to its own system in view of the possible knock-on effect. This reflex action dating from the Cold War already led to a wave of repression in Russia after the Orange Revolution. What is more, security is felt to be threatened too. In Russian propaganda, the European attempt to promote the rule of law and human rights is interpreted as a mere excuse to extend the European sphere of influence. To establish lasting stability for Ukraine, the friend-enemy logic serving to maintain Putin’s power must be overcome and an “either-or” situation between the Eurasian and European Union for the countries of the Eastern Partnership avoided.
Even if the choice of time could hardly be less favourable, it must finally be noted that there has not hitherto been any serious attempt to enter into a discussion of the rule of law with the authoritarian Russian government. Nevertheless, Russia’s long-term liberalisation would be the best warranty of solving the problems in the post-Soviet region. But hitherto German policy, in particular, has bought into the Russian narrative, namely that, although Russia continues to see itself as committed to the content of the European Convention on Human Rights, progress takes time and the West has no right to wag an accusing moral finger in view of its own mistakes. Even in the course of Steinmeier’s German-Russian modernisation partnership, there has so far been no room for a serious rule-of-law dialogue relating to institutional deficits. But Russian reasoning must be critically examined. When time is said to be needed, it must be argued that Putin has not undertaken any kind of reforms of the rule of law in recent years but has actually developed them in the opposite direction. So the objection that the West is taking up a moralising standpoint must be contradicted. The issue is, on the contrary, Russia’s normative obligations resulting from the European Convention on Human Rights. The structural deficits recorded by the European Council would provide an excellent basis for a rule-of-law dialogue focussing on the institutional problems of the Russian judiciary, especially since this would be held with the still strongly legalistically oriented Russian leadership to whom strict compliance with law is very important in its self-portrayal.