11 April 2025

Exekutive Brecheisen

Zur Ausweisung von Unionsbürger:innen nach einer Besetzung an der Freien Universität Berlin

Das Landesamt für Einwanderung Berlin (LEA) hat nach übereinstimmenden Presseberichten drei Unionsbürger:innen wegen Straftaten im Zusammenhang mit der Teilnahme an der Besetzung des Präsidiums der Freien Universität Berlin im Oktober 2024 des Landes verwiesen, also den Verlust ihrer Freizügigkeit festgestellt. Ein Vierter, ein US-Staatsbürger, wurde ausgewiesen, ohne dass eine Freizügigkeitskomponente zu beachten gewesen wäre. All dies geschah, ohne den Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen abzuwarten. Bisher gab es wegen der Besetzung nicht einmal eine Anklage. Dennoch wurde Sofortvollzug angeordnet, so dass Rechtsmittel gegen die Entscheidungen keine aufschiebende Wirkung entfalten.

Das LEA und die dahinterstehende Senatsverwaltung für Inneres und Sport berufen sich zur Begründung ihrer Maßnahmen auf eine Reihe möglicher Straftaten bei der Besetzung, unter anderem auf vermeintlich verwendete „Äxte, Sägen und Brecheisen“. Ob diese Vorwürfe stimmen, kann jedenfalls bei drei der vier Betroffenen dahinstehen, da die Maßnahme für sie als Unionsbürger:innen auch dann rechtswidrig sein dürfte.

Für alle vier Fälle gilt jedoch: Die zuständigen Behörden sollten sich in Zeiten, in denen bei der Deportationen vermeintlicher „Gangmitglieder“ in den USA nebenbei due process (also der Grundsatz des fairen Verfahrens an sich) auf der Kippe steht, gründlich überlegen, ob sie sich ebenfalls derartiger „exekutiver Brecheisen“ bedienen wollen. Gerade die Verquickung mit der überrechtlichen „Staatsräson“ öffnet in diesem Kontext einer willkürlich-ausufernden Exekutivgewalt Tür und Tor.

Mit „Äxten, Sägen und Brecheisen“

Das LEA wirft den Unionsbürger:innen vor, mit „Äxten, Sägen und Brecheisen“ (siehe Zeit; laut LTO soll in der dem zugrunde liegenden Darstellung des LKA von Äxten und Sägen hingegen keine Rede sein) bewaffnet das Präsidium der FU betreten, Mitarbeitende bedroht und Bürotechnik zerstört zu haben. Außerdem sollen sie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet sowie verbotene Symbole und Parolen verbreitet haben. Letztere sollen ihre Nähe zur Terrororganisation Hamas belegen.

Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen sind allerdings bisher nicht abgeschlossen, so dass sie strafrechtlich bislang nicht belangt worden sind. Auch wenn die Unschuldsvermutung im Gefahrenabwehrrecht nicht gilt: wenn das LEA den Sofortvollzug seiner Verlustfeststellungsentscheidung anordnet, werden hier auf wackliger Tatsachengrundlage Fakten geschaffen. Denn das bedeutet implizit, dass es den maßgeblichen Sachverhalt als hinreichend geklärt ansieht, um die unionsrechtlich gewichtige Sanktion einer sofort vollziehbaren Verlustfeststellung – verknüpft mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot für Deutschland – zu verfügen.

Ob der Sachverhalt in diesem Fall tatsächlich so eindeutig ist, kann allein aus Medienberichten ohne Akteneinsicht nicht beurteilt werden. Die bekannten Informationen können für die rechtliche Beurteilung aber dennoch zugrunde gelegt werden, weil die Ausweisung im Falle der Unionsbürger:innen selbst dann rechtlich höchst zweifelhaft ist. Weder das Unionsrecht noch übergesetzliche Eingriffsbefugnisse legitimieren die hier erfolgte Maßnahme.

Eingriff in Freizügigkeitsrechte

Unionsbürger genießen während ihres Studiums als Nichterwerbstätige unter den Voraussetzungen von § 4 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) grundsätzlich Freizügigkeit, haben also das Recht auf Einreise und Aufenthalt in Deutschland. In Freizügigkeitsrechte darf nur eingegriffen werden, wenn das persönliche Verhalten der Betroffenen eine gegenwärtige und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit darstellt, die ein „Grundinteresse der Gesellschaft“ berührt (§ 6 Abs. 1 und Abs. 2 FreizügG/EU, mit dem Art. 27 f. Freizügigkeits-RL umgesetzt wird). Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind Einschränkungen des Freizügigkeitsrechts eng auszulegen (EuGH Urt. v. 22.05.2012 – C-348/09 u.v.m.). Das ist auch folgerichtig, ist doch die individuelle Bewegungsfreiheit von Unionsbürger:innen innerhalb des Schengen-Raums wesentlicher Grundpfeiler und Ziel der Europäischen Union (Art. 4 Abs. 2 EUV). Selbst eine strafrechtliche Verurteilung genügt nicht ohne Weiteres für eine Verlustfeststellung. Hinzukommen müssen Umstände, die erkennen lassen, dass vom Unionsbürger – weiterhin – eine hohe Gefahr für eines oder mehrere der genannten Rechtsgüter ausgeht (§ 6 Abs. 2 S. 2 und 3 FreizügG/EU).

Für diesen Fall bedeutet dies: Wer Dritte bedroht, verstößt gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Erst recht, wenn dabei Waffen zum Einsatz kommen. Hieraus folgt aber nicht zwingend die Gefahr einer weiteren Störung, die Voraussetzung einer Verlustfeststellung ist. Zum einmaligen Verstoß muss etwas Weiteres hinzukommen, solange nicht überragend hohe Rechtsgüter tangiert sind. Solche sind neben den universellen Rechtsgütern des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit diejenigen, für die die EU gemäß Art. 83 Abs. 1 AEUV die Gesetzgebungskompetenz besitzt, beispielsweise den Schutz vor Terrorismus und organisierter Kriminalität. Drohen weniger gewichtige Taten, steigt die für die Annahme der Gefahr weiterer Taten notwendige Wahrscheinlichkeit, denn nach der Rechtsprechung gilt ein differenzierender, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (BVerwG, Urt. v. 15.01.2013, 1 C 10.12, Rn. 15 ff.). Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Unionsbürger:innen „bewaffnet“ waren, die Bedrohungen von ihnen selbst ausgingen oder ihnen zumindest zuzurechnen sind, und sie sowohl Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet als auch verbotene Symbole und Parolen verbreitet haben, bewegt sich dieses Verhalten nicht im Bereich der schweren Kriminalität im Sinne von Art. 83 AEUV (die Höchststrafen betragen für Bedrohung gem. § 241 StGB 1 Jahr Freiheitsstrafe, für schweren Hausfriedensbruch gem. § 124 StGB zwei Jahre, für Landfriedensbruch gem. § 125 StGB und das Verwenden von Kennzeichen terroristischer Organisationen gem. § 86a StGB jeweils drei Jahre Freiheitsstrafe). Eine Verlustfeststellung darf aber nur aus schwerwiegenden Gründen im Sinne von § 6 FreizügG/EU (s. oben) verfügt werden.

Unionsrechtlich gefordert ist allerdings nicht, dass eine Verlustfeststellungsentscheidung erst und nur ergehen darf, wenn das zugrunde liegende Verhalten bereits strafrechtlich geahndet worden ist (so aber Meyer). Bereits die Formulierung in Art. 27 Abs. 2 S. 2 Freizügigkeits-RL belegt, dass eine geahndete Straftat nicht Voraussetzung einer Verlustfeststellung ist, obwohl eine solche – aus naheliegenden Gründen – allen mir bekannten Gerichtsentscheidungen zu § 6 FreizügG/EU zugrunde liegt. Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit kann vielmehr schon dann eine Verlustfeststellung begründen, wenn noch keine strafrechtliche Sanktion erfolgt ist, beispielsweise zulasten eines zu einem Anschlag bereiten Terroristen. Ob Behörden nicht in anders gelagerten Fällen – wie dieser einer sein könnte – trotzdem gut beraten wären, das Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen abzuwarten, steht auf einem anderen Blatt.

Um eine Wiederholungsgefahr bejahen zu können, müsste im Übrigen feststehen, dass nicht schon die – drohende – strafrechtliche Reaktion und/oder die bloße Androhung einer Verlustfeststellungsentscheidung die Unionsbürger:innen davon abhalten werden, erneut zu solchen Mitteln zu greifen. Dafür spricht eher wenig, weshalb das Verfahren an dieser Stelle zum Politikum wird, schlägt doch jetzt die Stunde der Verfechter der „Staatsräson“ und derjenigen, die gegen zunehmenden Antisemitismus ein „Zeichen setzen“ wollen. So verständlich dies ist, im Freizügigkeitsrecht sind solche Motive weder intendiert noch sollten sie hier eingeführt werden.

Übergesetzliche Eingriffsbefugnisse?

Die „Staatsräson“ ist nicht nur wegen der Unschärfe dieses Begriffs und der fehlenden rechtlichen Verankerung untauglich, einen Eingriff in ein Freizügigkeitsrecht zu rechtfertigen. Sie ist insbesondere nicht Teil der „Grundinteressen der Gesellschaft“ (§ 6 Abs. 2 S. 3 FreizügG/EU). Dabei handelt es sich um einen unionsrechtlichen Begriff, der in der gesamten Union einheitlich auszulegen ist. Dass die „deutsche Staatsräson“ auch in Finnland, Portugal oder Malta Gebrauch finden könnte, ist fernliegend. Für den Begriff „Grundinteresse der Gesellschaft“ ist vielmehr auf Art. 83 AEUV abzustellen, also auf die Begehung von Straftaten, die in der gesamten Union die weitgehend gleiche Bedeutung haben.

Auch sollte man die Staatsräson hier nur als politisch-moralischen Hintergrund verstehen: Ein „Zeichen setzen“ zu wollen, ist zwar politisch verständlich, aber ebenfalls keine legitime rechtliche Grundlage, in Freizügigkeitsrechte einzugreifen. Der EuGH sagt unmissverständlich, dass generalpräventive Aspekte, also im Wesentlichen das Ziel der Abschreckung anderer, niemals eine unionsrechtliche Verlustfeststellung rechtfertigen können. Diese darf nur wegen einer Gefahr verfügt werden, die vom Unionsbürger selbst ausgeht, also allein auf spezialpräventiven Erwägungen beruht (std. Rspr. des EuGH seit Urt. v. 26.2.1975 – 67/74).

Unterstellung statt Ermittlung eines Motivs?

Eine wichtigere Frage lautet zuletzt: Könnte das Skandieren von Parolen oder das Tragen von Symbolen einer Terrororganisation wie der Hamas das erforderliche „Grundinteresse der Gesellschaft“ an einer Verlustfeststellung erfüllen? Klar ist hier, dass die bloße Übernahme oder das Skandieren einer Parole, die auch, aber nicht nur eine Terrorvereinigung verwendet, keine Verlustfeststellung rechtfertigen kann. Auch das für sich stehende Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen tut dies nicht. Letzteres wäre zwar gemäß § 86a StGB strafbar, aber angesichts der Höhe der Strafandrohung ebenfalls keine hinreichend gewichtige Tat.

Weniger klar ist, ob gefolgert werden kann, dass die Unionsbürger:innen nicht nur eine – gegebenenfalls zweifelhafte – politische Meinung vertreten, sondern eine Terrororganisation (konkret die Hamas) aktiv unterstützt haben oder gegenwärtig unterstützen. In diesem Fall könnte die gefahrenabwehrrechtliche Schwelle der Verlustfeststellung und die Anordnung des Sofortvollzugs gegebenenfalls erreicht sein. Dies ist aber reine Spekulation und durch die öffentlich bekannten Informationen des Falles (basierend auf den Berichten des LKA und Aussagen der Senatsverwaltung selbst) nicht naheliegend. Eine Uni zu besetzen und dabei problematische Symbole zu benutzen, ist jedenfalls weit unter der Schwelle der Unterstützung einer Terrororganisation anzusiedeln. Das gilt selbst, wenn „Brecheisen“ im Spiel waren. Aktuell gibt es keine validen Anzeichen, dass in diesem Fall die „Grundinteressen der Gesellschaft“ betroffen sind und die Entscheidung auch verhältnismäßig ist. Hier sollte nicht zuletzt auch eine Gefahrenprognose auf Grundlage von psychologischen, integrativen und familiären Gesichtspunkten der Betroffenen eine größere Rolle spielen.

Trump’sche Muster

Angesichts der Unklarheiten im Zusammenhang mit der Feststellung des Sachverhalts eine Verlustfeststellung zu verfügen, birgt jedenfalls eine hohe Fehleranfälligkeit. Dies auszublenden und den Sofortvollzug der Entscheidung zu verfügen, steht der größten Ausländerbehörde Deutschlands, auch wenn sie von der Senatsverwaltung für Inneres und Sport hierzu gedrängt worden sein mag, nicht gut zu Gesicht. Das LEA wäre gut beraten gewesen, trotz politischen Drucks zunächst den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten, um sich für die eigene Position wenigstens auf dessen Ergebnis stützen zu können.

So erinnert der Vorgang doch sehr an aktuelle Ereignisse in den USA, wo palästinasolidarische Aktivist*innen willkürlich verhaftet und ohne rechtsstaatliches Verfahren deportiert werden. Diese autoritäre Stufe ist hier freilich (noch) nicht erreicht. Zugleich folgen die politische Anweisung der Verlustfeststellung durch die Senatsverwaltung und die Zweifelhaftigkeit der rechtlichen Grundlagen einem nicht allzu unähnlichen Muster. Dass sich die deutsche Exekutive ausgerechnet von der Trump’schen Administration derartige Kniffe abzuschauen scheint, ist besorgniserregend. Nur weil unter Umständen echte Brecheisen im Spiel waren, sollte in einem Rechtsstaat nicht mit „exekutiven Brecheisen“ reagiert werden.


SUGGESTED CITATION  Oberhäuser, Thomas: Exekutive Brecheisen: Zur Ausweisung von Unionsbürger:innen nach einer Besetzung an der Freien Universität Berlin, VerfBlog, 2025/4/11, https://verfassungsblog.de/exekutive-brecheisen/, DOI: 10.59704/b5bfe35b6450fbe4.

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