Zwei Jahre sind nicht immer gleich zwei Jahre: wann beginnt der Brexit-Countdown?
Es ist Sommer 2026. Deutschland hat den Austritt aus der EU beschlossen. Auf der Grundlage eines verfassungsunmittelbaren Referendums nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG haben wenige Tausend Stimmen den Ausschlag gegeben. Der schottische Kommissionspräsident verlangt von Deutschland binnen 48 Stunden eine Mitteilung nach Art. 50 EUV, um den Austrittsprozess in Gang setzen zu können. In Deutschland beginnen indessen verfassungsrechtliche Diskussionen. Bayern weigert sich, das Votum anzuerkennen und drängt auf einen gegenläufigen Beschluss des Bundesrates, droht mit einem Austritt aus der Bundesrepublik nach Art. 23 GG aF analog. Unklar ist, ob im Bundestag ein Gesetzesbeschluss erforderlich ist, und mit welcher Mehrheit. Bundespräsidentin Claudia Roth kündigt an, sie werde ein Austrittsgesetz nicht unterschreiben. Peter Gauweiler ruft das BVerfG im Weg des Eilrechtsschutzes an weil er das immer tut, diesmal um der Bundesregierung untersagen zu lassen, ohne Bundestagsbeschluss und ohne bayerische Zustimmung den Austritt zu notifizieren. Der nach einer Verfassungsänderung noch immer im Amt befindliche Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle lässt aus dem Englandurlaub mitteilen, man werde frühestens im Oktober in der Sache entscheiden können. Die Bundeskanzlerin mahnt Besonnenheit an. Zugleich mehren sich die Stimmen, die eine Wiederholung des Referendums fordern, weil sich wegen der Fussball-Weltmeisterschaft in Nordkorea weniger als 50 % an der Abstimmung beteiligt haben.
Irgendwie war es absehbar: mit dem Brexit-Votum fangen die rechtlichen Probleme erst an und es scheint, als müssten einmal mehr vorrangig die Juristen die Dinge klären. Aber wie so oft geht es genau besehen dann doch nicht nur um juristische Fragen.
Art. 50 EUV gibt seit dem Vertrag von Lissabon (2009) Folgendes vor:
Art. 50 EUV
(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.
(2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ausgehandelt. Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.
(3) Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.
(4) Für die Zwecke der Absätze 2 und 3 nimmt das Mitglied des Europäischen Rates und des Rates, das den austretenden Mitgliedstaat vertritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der entsprechenden Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates teil.
Die qualifizierte Mehrheit bestimmt sich nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
(5) Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, muss dies nach dem Verfahren des Artikels 49 beantragen.
Ab wann beginnt der Countdown von 2 Jahren, nach dessen Ende die Mitgliedschaftsrechte des Vereinigten Königreichs automatisch enden, wenn nicht zuvor ein Austrittsvertrag in Kraft tritt?
Im Vorfeld waren hier keine Probleme zu erkennen, weil der britische Premierminister Cameron eine Sondersitzung des Parlaments noch am auf das Referendum folgenden Wochenende und eine unverzügliche Mitteilung nach Art. 50 EUV in den Tagen nach einem negativen Volksentscheid über die Mitgliedschaft angekündigt hatte. Am Tag nach dem Referendum hat Cameron nun aber mitgeteilt, dass er die Mitteilung und die Verhandlungen einem Nachfolger überlassen werde, ab Oktober. Frühestens.
Dass man sich über diese Richtungsänderung diesseits des Kanals aufregt, kann ich gut verstehen. Den Reflex hatte ich auch. Nach dem sachfremden Verlauf der von medial verbreiteten Gegenwahrheiten zersetzten innerbritischen Brexit-Debatte kann man nicht umhin, auch hier Unlauterkeit zu unterstellen. Dass Cameron die Verantwortung für diesen folgenreichen formalen Schritt, gegen den er ja wochenlang argumentiert hat, nicht übernehmen will, ist allerdings auch nachvollziehbar. Auch wenn sich damit ein letztes Mal die fehlende politische Konsequenz eines Parteiführers offenbart, der auf ganzer Linie gescheitert ist.
Nun könnte ER-Präsident Tusk in der ersten Sitzung des Europäischen Rates nach dem Brexit-Referendum nächsten Dienstag einfach den Kollegen Cameron fragen, ob er nicht irgendetwas Neues von zuhause mitzuteilen hat. Wenn Cameron dann den Ausgang des Referendums auch nur erwähnt, könnte man das als Mitteilung im Sinne von Art. 50 Abs. 2 EUV werten.
Gegen diese Brachialvariante spricht aber jedenfalls, dass ganz offenbar ein Beschluss über den Austritt aus der EU im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorschriften des Vereinigten Königreichs – das setzt Art. 50 Abs. 1 EUV voraus – noch nicht vorliegt. Das Referendum hatte keine rechtsgestaltende Wirkung, berührt also auch nicht die Geltung des European Communities Act 1972. Rechtlich gesehen war das Referendum nur ein Meinungsbild. Das Parlament muss noch tätig werden. Möglicherweise bestehen hier auch noch Komplikationen wegen der „Devolution“, Schottland verfügt ja auch über ein Parlament, ebenso wie Wales und Nordirland. Auf eine Mehrheit an eigenen Abgeordneten, die für einen Brexit wären, kann sich der amtierende Premierminister jedenfalls nicht stützen. Auf einer politischen Ebene ist aktuell zwar kaum vorstellbar, dass das Parlament sich dem Volkswillen entgegenstellt. Aber vielleicht ist sogar eine Parlamentsneuwahl erforderlich, wer weiß was das für Mehrheiten ergibt. Und, ganz formal: auch die Anfechtung und Überprüfung des Referendums ist noch möglich, man denke an die letzte Bundespräsidentenwahl in Österreich.
Das einleitende rechtlich und politisch völlig hypothetische Vergleichsszenario zeigt, dass wir auch in Deutschland nicht binnen weniger Tage Entscheidungen von der erheblichen Tragweite eines EU-Austritts abschließend beschließen könnten und würden und es auch bei uns eine Reihe von Verfahrensfragen und -voraussetzungen gäbe, die zugleich politisch überlagert würden.
Von erheblicher Tragweite ist diese Mitteilung nach Art. 50 Abs. 2 EUV nämlich ohne jeden Zweifel. Sie ist nicht nur Auslöser eines Zweijahrescountdowns. Mit dieser Mitteilung gibt der austrittswillige Mitgliedstaat die Kontrolle über seine Mitgliedschaft auf und setzt einen Prozess in Gang, der nicht mehr einseitig aufgehalten werden kann. Das Vereinigte Königreich könnte nicht mehr einseitig nach eineinhalb Jahren den Austrittsprozess stoppen und die Mitteilung gleichsam zurücknehmen. Nur mit einstimmigem Beschluss der anderen 27 Mitgliedstaaten könnte der Prozess noch gestoppt werden, und das könnte ein einziger missgünstiger Mitgliedstaat mit seinem Veto verhindern, mit der Folge, dass nach 2 Jahren automatisch die Mitgliedschaft endete. Und danach müsste das Vereinigte Königreich sich wieder neu um die Mitgliedschaft bewerben, so Art. 50 Abs. 4 EUV.
Beliebig hinausgezögert werden kann der Beginn des Zweijahreszeitraums auf der anderen Seite aber auch nicht. Die Begrenzung auf zwei Jahre für die Austrittsverhandlungen hat den Sinn, Rechtssicherheit herzustellen und setzt einen Anreiz für ein ausgehandeltes Austrittsabkommen, weil sonst der ungeregelte Austritt droht. Das mehrheitlich ablehnende Votum der Briten ist ja jetzt in der Welt und allgemein bekannt und zeitigt schon jetzt politische und ökomische Auswirkungen auf die Rest-EU. Andere als verfassungsrechtliche Gründe für die Verzögerung einer Mitteilung nach Art. 50 Abs. 2 EUV sollte die EU deswegen nicht akzeptieren. Das rechtliche Argument seitens der EU ist der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen Union und Mitgliedstaaten aus Art. 4 Abs. 3 EUV.
Hier ist auch an den Hintergrund der Einführung von Art. 50 EUV, übrigens ein britisches Anliegen, zu erinnern: Vor 2009 war ein einseitig beschlossener Austritt praktisch unmöglich, man hätte allenfalls sehr gewagt mit der Wiener Vertragsrechtskonvention (clausula rebus sic stantibus) argumentieren können. Ein Austritt wäre sonst nur einvernehmlich durch Aushandeln eines Austrittsabkommens zwischen allen Mitgliedstaaten möglich gewesen.
Art. 50 EUV kann demgegenüber die Union nicht völlig der einseitigen taktischen Entscheidungshoheit eines austrittswilligen Mitgliedstaates ausliefern, wenn die politische Entscheidung über einen Austritt innerstaatlich im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben offenkundig feststeht. Dann muss die Union mit Blick auf das Unionsinteresse an einer rechtlichen Klärung der Lage notfalls unter Berufung auf Art. 4 Abs. 3 EUV die Möglichkeit haben, die Zweijahresfrist in Gang zu setzen. Dagegen kann sich der austrittswillige Mitgliedstaat ja vor dem EuGH wehren. Man mag sich kaum vorstellen, dass Boris Johnson, oder wer immer dann die Verantwortung trägt, ausgerechnet den bei den Brexit-Befürwortern verhassten EuGH um Hilfe bittet.
Neben verfassungsrechtlichen Gründen sollte die EU für eine Verzögerung bei der Mitteilung nach Art. 50 EUV nur gelten lassen, es gebe Hinweise auf einen politischen Meinungsumschwung zum Brexit. Wer weiß, es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass auch im Vereinigten Königreich noch die politische Klugheit obsiegt, in einem nochmaligen Referendum oder in Neuwahlen.
Ich hoffe es ist deutlich geworden: mit einer formalen juristischen Argumentation um den Art. 50 EUV ist es nicht getan. Gefragt ist auch hier politische Klugheit. Einerseits ist die Tür zu einer möglichen Umkehr des Vereinigten Königreichs in den nächsten Wochen nicht sofort und endgültig zuzuschlagen. Andererseits ist das Anliegen einer möglichst zügigen Klärung der Lage voranzutreiben, ausgehend von einer Austrittslage und nicht etwa von einer von manchen Brexit-Befürwortern zusammenphantasierten Nachverhandlungslage, bei der die EU aus Angst vor einem Austritt noch mehr Sonderkonditionen für die Briten akzeptiert als bisher. Darum kann es nicht gehen. „In is in, out is out.”
Damit empfiehlt sich als eindeutiges Signal gegen eine Nachverhandlungslage jedenfalls eine sofortige Aufnahme von Vor-Austrittsverhandlungen auf vorläufiger Grundlage.
Diese könnten sich auf eine Vorbereitung der Verhandlungen über die technische Abwicklung der EU-Mitgliedschaft richten und gleichzeitig schon auf technische Vorarbeiten für eine Verständigung über die künftigen Beziehungen, mit einem Status in Richtung Norwegen oder Schweiz. Die Gründungsverträge müssten auch für die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten noch angepasst werden, vielleicht nimmt man das zum Anlass einer größeren Vertragsrevision (ohne das Vereinigte Königreich), vielleicht auch erst einmal nicht. Auch eine Übernahme der britischen EU-Mitgliedschaft durch ein unabhängiges Schottland, als Nachfolger, sollte sondiert und geprüft werden.
Die drei bis vier Monate bis zur Bildung einer handlungsfähigen Regierung mit entsprechender Mehrheit und einem förmlichen Parlamentsbeschluss könnte man freilich den Briten von vornherein auf die zwei Jahre durch Beschluss des Europäischen Rates nach Art. 50 Abs. 3 EUV dazugeben. Vielleicht könnte man sogar noch großzügiger mit dem Zeitzuschlag sein. Vielleicht wären damit die Briten sogar bereit, doch gleich eine eindeutige Mitteilung nach Art. 50 Abs. 2 EUV zu machen.
Oder man verständigt sich lediglich auf die Aufnahme der Vor-Austrittsverhandlungen in Erwartung der Mitteilung nach Herbeiführung der verfassungsrechtlich erforderlichen Schritte. Das könnte man auch befristen. Sollte sich dann im Laufe der Monate bzw. nach Ablauf der Frist herausstellen, dass die Mitteilung nach Art. 50 Abs. 2 EUV absprachewidrig unterbleibt, dann könnte man immer noch rückwirkend die Aufnahme der Verhandlungen als „Mitteilung“ werten und von da an den Countdown berechnen.
Auf ein paar Monate mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an, solange die Richtung stimmt. Aber vielleicht fragt vorsichtshalber ER-Präsident Tusk am Dienstag doch ganz ausdrücklich den britischen Premierminister, ob es irgendetwas mitzuteilen gibt…
Vielen Dank für die sehr hilfreiche Diskussion. Allerdings bin ich nicht überzeugt von Ihrer These, die EU könne ihrerseits ein Hinauszögern verhindern.
Ich frage mich schon, ob man es tatsächlich als Verstoss gegen die loyale Zusammenarbeit charakterisieren kann, wenn ein Staat sich weigert, auszutreten (jedenfalls sofern der Mitgliedstaat sonst seine Pflichten erfüllt). Selbst wenn man das so sieht, gibt aber doch Art. 4 Abs. 3 wohl kaum der EU die Kompetenz, ein Verfahren in Gang zu setzen, das der Vertrag an eine Benachrichtigung durch einen Mitgliedsstaat sieht. Das dürfte auch der EuGH nicht anders sehen, selbst wenn er einen Verstoß feststellte. Selbst für Verstösse gegen Art. 6 kann ja ein Mitgliedstaat nicht ausgeschlossen werden (Art. 7).
Ganz unabhängig davon sehe ich aber auch nicht, wie Sie die akzeptablen von den nichtakzeptablen Argumenten rechtlich trennen wollen. Um mit der Verfassung anzufangen: da ein Referendum das Parlament nicht bindet, ist das Fehlen eines Parlamentsbeschlusses nicht immer ein verfassungsrechtliches Argument? Zudem: lässt sich die Möglichkeit eines Meinungsumschwungs, die Sie auch für akzeptabel halten, nicht immer anführen? Genauer gesagt: soll wirklich die EU entscheiden, ob ein solcher Meinungsumschwung wahrscheinlich ist oder nicht? Das hätte noch ganz andere problematische Folgen: Art. 50 würde ausgehebelt, wenn man für die Mitgliedschaftsfrage unmittelbar den Willen des Volkes befragen wollte, anstatt das verfassungsgemässe Verfahren.
Schließlich: Es ist natürlich ausgesprochen misslich, dass jetzt das Schicksal auch der EU am innerparteilichen Streit der Tories hängt, und die EU nichts von sich aus tun kann, um eine Entscheidung zu forcieren. Aber langfristig ist es vielleicht ein Glücksfall, dass die EU diese Möglichkeit nicht hat und der Mitgliedstaat das Chaos, das er hervorgebracht hat, selbst auflösen muss.
Wenn die Frage lautet “wie könnte man die mitgliedsstaatliche Entscheidungshoheit über das Ob und das Wann der Notifikation verhindern” vermeiden, finden wir hier viele Antworten, denen man juristische Argumentsqualität zusprechen muss (Loyalität ist ja für vieles gut). Aber wäre eine solche Argumentation nicht vielleicht doch Wasser auf Mühlen derjenigen, die europäische Selbstautorisierung annehmen und nicht daran glauben, das vertraglich irgendetwas inhaltlich festgelegt werden kann?
Was ist ihrer Meinung nach den von dieser Sache hier zu halten:
http://services.parliament.uk/bills/2013-14/europeancommunitiesact1972repeal.html
Scheint gerade abzulaufen.