Gestaltung und Verantwortung − Asyl-Entscheidungen des EuGH als Rückspiel an die Politik?
Den jüngsten Urteilen des EuGH im Umfeld des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gingen stets menschenrechtlich grundierte Schlussanträge von Generalanwälten voraus, die geeignet waren, ebenso grundlegende wie dysfunktionale Rechtsstrukturen desselben auf den Kopf zu stellen. Ein Blick auf drei jüngere und bedeutende Entscheidungen zeigt, dass der EuGH zumeist zu abweichenden dogmatischen Begründungen und auch Ergebnissen gekommen ist. Steckt dahinter das Gespür des Gerichtshofs, mit Blick auf den Gedanken der Gewaltenteilung nicht zu weit zu gehen, aber dennoch den Handlungsdruck auf die verantwortliche politische Ebene zu erhöhen? Diese Ausgangsthese soll die kurzen Urteilsbesprechungen durchziehen, um am Ende zu einem gemischten Ergebnis zu kommen.
Der Entscheidung der Großen Kammer zu Erteilung von Visa aus humanitären Gründen vom März 2017 (C-638/16 PPU) gingen weitreichende Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi voraus. Der Generalanwalt sah die betreffenden belgischen Behörden durch die Anwendung des Visakodexes im Anwendungsbereichs des Unionsrechts, damit der Unionsgrundrechte (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GRC, Rn. 82-95). Hieraus leitete er mit Blick auf die belgische Visabehörde in der Botschaft im Libanon eine grund- und menschenrechtlich, insbesondere aus Art. 4 und 52 Abs. 3 GRC in Verbindung mit Art. 3 EMRK begründete Ermessensreduzierung auf Null ab, die zur verpflichtenden Erteilung humanitärer Visa auf Grundlage einer Ausnahmeklausel führen sollte (Art. 25 Abs. 1 Visakodex; insbes. Rn. 132-141 und 155-163). Demgegenüber stellte der Gerichtshof fest, dass ein formaler Antrag auf ein allein im Visakodex geregeltes zeitlich begrenztes Visum (Art. 1 Abs. 1 Visakodex: 90 Tage), zu dem offensichtlichen Zweck, darüber hinaus im Ankunftsstaat einen Asylantrag zu stellen, also länger dort zu bleiben, aus dem Anwendungsbereich des Kodexes herausfalle und es gerade − offenbar bewusst − an einer Regelung des Unionsgesetzgebers über langfristige humanitäre Visa und Aufenthaltstitel (die nach Art. 79 Abs. 2 lit a AEUV möglich ist) fehle (Rn. 44). Der Gerichtshof wendet sich hier nicht nur gegen eine menschenrechtliche Extension sachbereichsspezifischer Sekundärrechtsakte. Er spielt den Ball mit dem Hinweis auf eine mögliche Regelung durch den Unionsgesetzgeber auch an diesen zurück − unter zweimaliger Betonung, so lange von der unionsrechtlichen Regelungsmöglichkeit kein Gebrauch gemacht worden ist, sei für die in Frage stehenden Sachverhalte „allein das nationale Recht“ zuständig (Rn. 44 und 51 a.E.). Die Entscheidung steht damit, verkürzt, für das Verdikt, dass menschenrechtliche Argumentationsstränge allein eine gesetzgeberische Komplementärfunktion der Judikative weder auslösen noch tragen können.
In dieses Bild gilt es nun die zwei Entscheidungen vom 26. Juli 2017 einzufügen, die sich um Sekundärmigration und Rückübernahmersuchen im GEAS drehen.
Die Fälle A.S. (C-490/16) und Jafari (C-646/16) betreffen die Auslegung und Anwendbarkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen zur Ermittlung des für die Prüfung auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaates in der Situation eines außergewöhnlichen Massenzustroms, wie es seit Herbst 2015 der Fall war. Hier stellt sich mit Blick auf Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO insbesondere die Frage, ob bei einem faktisch geduldeten Gebietszutritt und einer zum Teil unterstützten Reise durch (in den Fällen kroatisches und slowenisches) Hoheitsgebiet noch von einer illegalen Grenzüberschreitung im Sinne der Norm ausgegangen werden kann, die zur Zuständigkeit des dies duldenden Staates führt. Generalanwältin Sharpston sah in ihren Schlussanträgen mit Blick auf Unionsgrundrechte und überforderte Dublin-Grenzstaaten schwierige Abwägungsfragen (Rn. 171-175), die sie dahingehend entschied, dass der Grenzübertritt zwar nicht legal sei, aber mit Blick auf Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO auch nicht illegal im Sinne der Norm, weil die Vorschrift für die krisenhaften Umstände − einen zur faktischen Duldung von Grenzübertritten folgenden Massenzustrom und überforderte Asylsysteme einzelner Mitgliedstaaten − nicht zugeschnitten sei (Rn. 186-190). Mit Blick auf Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK passen die Dublin-Vorschriften über die Zuständigkeitsverteilung in dieser Ausnahmesituation schlicht nicht. Deshalb liege im Ansteuern eines anderen Mitgliedstaates auch kein von der Dublin III-Verordnung ungewolltes “forum-shopping” im Sinne einer Sekundärmigration vor (Rn. 234-237). Letztlich soll deshalb nicht der Mitgliedstaat, der die eigentlich illegale Grenzüberschreitung duldet zuständig sein, sondern jener, in dem die Betroffenen ihren Antrag auf internationalen Schutz stellen (Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO), in den konkreten Fällen Österreich und Slowenien.
Der EuGH stellt hiergegen in seiner Entscheidung klar, dass eine faktische Einreisegestattung (auch inklusive behördlich angeleitetem „Durchwinken“) keine Visaerteilung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO darstelle (und damit nicht hieraus zur Zuständigkeit des gestattenden Mitgliedstaats führt, Rn. 53-58). Eine Verantwortungsverschiebung vom die Grenzüberschreitung duldenden Ersteinreisestaat auf den Wunsch- oder jedenfalls abweichenden Zielstaat der Antragssteller aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse widerspricht der Gerichtshof aber deutlich, weil ein solches Ergebnis „mit der allgemeinen Systematik und den Zielen“ der Dublin III-VO „unvereinbar“ wäre (Rn. 79-84, 89). Es gibt mithin keine notstandsähnliche Einreisegestattung unter Außerkraftsetzung des Tatbestandsmerkmals „illegale Grenzüberschreitung“ im Sinne des Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO, selbst wenn die betreffenden Mitgliedstaaten zur Entlastung ihrer Asylsysteme die Einreise duldeten und durch Busse oder ähnliches sogar noch beförderten (Rn. 92 f.). Methodisch begegnet der EuGH hier erneut einer grundrechtlich inspirierten Marginalisierung von Tatbestandsmerkmalen, politisch hält er an derzeit klar dysfunktionalem, aber gleichwohl vom Unionsgesetzgeber nicht ersetztem Sekundärrecht des GEAS fest und betont dessen Geltungsanspruch. Diesem erneuten Rückspiel an die (zerstrittene) politische Gestaltungsebene werden zum Ende obiter dicta-ähnliche Hinweise beigegeben, die offenbar den politischen Handlungsdruck erhöhen sollen und die Unionsgrundrechte kohärenter platzieren, als es in den Schlussanträgen der Generalanwältin geschah: Der EuGH weist auf Instrumente, die aus politischen Gründen und ihrem (unzureichenden) materiellen Gehalt nicht genutzt werden (MassenzustromRL, Rn. 97) ebenso hin wie auf primärrechtlich mögliche (und z.T. genutzte) vorläufige Reaktionsmöglichkeiten (Art. 78 Abs. 3 AEUV, dazu Rn. 98 f.). Darüber hinaus könnten eigentlich unzuständige Mitgliedstaaten fakultativ vom Selbsteintrittsrecht aus Art. 17 DublinIII-VO − unter Hinweis auf den in Art. 80 AEUV bereichsspezifisch verankerten Solidaritätsgrundsatz − Gebrauch machen, um der Überforderungssituation anderer Mitgliedstaaten rechtskonform abzuhelfen (Rn. 100). Die Beachtung der Grund- und Menschenrechte („Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass…“, Rn. 101) in Gestalt von Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK erfordert zuletzt, dass Rücküberstellungen bei einer drohenden Beeinträchtigung der genannten Grundrechte ausbleiben (zum „chain-refoulement“ mit Blick auf Ungarn und Serbien zuletzt der EGMR hier).
Neben diesen Erkenntnissen hat die Große Kammer des EuGH ebenfalls am 26. Juli in der Rechtssache Mengesteab (C-670/17) entschieden, dass Rechtsbehelfe von Betroffenen nach Art. 27 Dublin III-VO sich auch auf die Möglichkeit erstrecken, den Ablauf von Überstellungsfristen an aufnahmebereite, eigentlich zuständige Staaten anzufechten (Rn. 45-47 und 55-58), selbst wenn diese über den eigentlichen Fristablauf hinaus zur Aufnahme bereit seien (Rn. 59 f.). Die zuletzt genannte Bereitschaft ändere insoweit nichts an der Subjektivierung der Überstellungsfrist und dem Zuständigkeitsübergang aus Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO, die mit Blick auf einen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen keine bloße Verfahrensregel darstellen (Rn. 56-58).
Ist mit diesen Entscheidungen ein Rückspiel an die Politik, insbesondere den Unionsgesetzgeber gelungen? Nach meiner Lesart ist sie es, soweit es dem EuGH möglich war. Die Rechtsprechung zu Art. 13 Abs. 1 und 17 Dublin III-VO macht in ihrer handwerklichen Begründung deutlich, dass es bei der ursprünglichen Zuständigkeitsverteilung und damit bei der vollen Geltung des Dublin-Systems bleibt, auch in krisenhaften Zuständen. Von einer unionsgrundrechtlich begründeten Selbsteintrittspflicht hat der Gerichtshof bewusst abgesehen − die Zuständigkeit wechselt entweder durch unilateralen Selbsteintritt oder, wenn im eigentlich zuständigen Staat die Standards der Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK unterschritten werden, aufgrund des Refoulement-Verbots, oder durch schlichten Zeitablauf (Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO). Es liegt letztlich in den Händen des nationalen Rechts oder des Unionsgesetzgebers, humanitäre Visa einzuführen und ebenso in der Ausstattung und Kraft mitgliedstaatlicher Verwaltungen, den Vollzug des Dublin-Systems unter Einhaltung konventions- und unionsgrundrechtlicher Standards sicherzustellen − was offensichtlich nicht gelingt.
Der EuGH hat letztlich, bis auf die Subjektivierung der Überstellungsfristen, keine generalanwaltliche Vorlage aufgegriffen und sich auf das geltende, wenn auch oft nicht angewandte Recht bezogen (oder zurückgezogen, wie manche meinen werden). Dass der Ball weit im Feld des zerstrittenen Unionsgesetzgebers (in Form des Rates) liegt, wird auch bei einem Blick auf leistungsstarke Verwaltungsstaaten wie Deutschland deutlich: Hier treffen unionsrechtliche Normen zum Verantwortungsübergang und konventionsrechtliche refoulement-Testate auf schnell und unzureichend geschulte BAMF-Mitarbeiter, das Verfehlen ambitionierter Zielvorgaben der dortigen Entscheider, wobei der Druck sich auf die Qualität der Entscheidungen auswirkt und letztlich die Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgrund der schieren Menge der auflaufenden Verfahren nicht nur erheblich überlastet wird, sondern ihrerseits händeringend nach personeller Verstärkung sucht.
Man mag die EuGH-Rechtsprechung in ihrer Zusammenschau mit den konventionsrechtlichen Einwirkungen normativ vertretbar finden. Politisch gehört dieses Thema − jenseits von unproduktiven Spielchen um Schuldzuweisungen für die seit 2015 in der Öffentlichkeit angekommene „Migrationskrise“ − auf eine zukunftsgerichtete Weise in den Bundestagswahlkampf. Das von Fristabläufen, fakultativen Ausnahmeregeln und menschenrechtlichen Stoppschildern überlagerte System ist in seiner jetzigen Form für keinen Mitgliedstaat auf Dauer tragfähig. Die Politik steht vor der schwierigen Aufgabe, multiple kollektive Belange, sowohl in den Herkunfts- wie Zielstaaten, mit individuellen von Flüchtlingen und Migranten abzuwägen und in ein neues rechtliches System zu gießen. Sie sollte uns wahlberechtigte Bürger eingehender und sachlicher mit dem Thema belasten.