This article belongs to the debate » Kleben und Haften: Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise
16 November 2022

Gewaltfantasien und Gewaltmonopol

Zur Zulässigkeit der Notwehr gegen Straßenblockaden für den Klimaschutz

Auf Welt.de ist vor kurzem ein Stück Service-Journalismus der besonderen Art erschienen. Der Redakteur Constantin van Lijnden hat die „Rechte der ausgebremsten Bürger“ zusammengetragen. Was kann man tun gegen die Störenfriede der Letzten Generation, die sich fortwährend auf Straßen festkleben, um auf ihre Forderungen („Tempolimit von 100km/h auf Autobahnen und die Einführung eines 9-Euro-Tickets“) aufmerksam zu machen? Der Staat, jedenfalls in Berlin, leider nur wenig, so der Tenor. Dabei wird der Evergreen tendenziös-inkompetenter Kriminalberichterstattung gleich im ersten Satz des Berichts untergebracht: Die Angabe der absoluten Höhe der Geldstrafe anstatt der Berechnungsfaktoren Anzahl der Tagessätze und Tagessatzhöhe. Der Leser erfährt „die bislang verhängten meist dreistelligen Geldstrafen reichen offensichtlich nicht aus, um die Aktivisten von weiteren Aktionen abzuhalten“. Was der Leser nicht erfährt, ist dass sich die Angabe der absoluten Höhe von Geldstrafen zwar für das Schüren von Stimmungen eignet, nicht aber für seriösen Journalismus; ein solcher gibt jedenfalls die Anzahl der Tagessätze gemäß § 40 StGB an, denn nur anhand dieser lässt sich die Schwere des Schuldvorwurfs erkennen.

Auch jenseits des suggeriert zu milden Strafrechts steht es aber – so erfährt der Leser im Subtext – in Berlin nicht gut um die staatlichen Möglichkeiten, der Freiheit ihre asphaltierte Gasse freizuräumen. Während im gelobten Lande Bayern die Störer kurzerhand bis zu 30 Tage (verlängerbar um weitere 30 Tage) in Präventivhaft gesteckt werden können (und auch werden), um weitere Klebe-Proteste zu verhindern, ist die Lage in Berlin anders: Maximal 48 Stunden Präventivhaft erlaubt das Berliner Polizeigesetz und nicht einmal die werden ausgenutzt.

Dies dürfte dazu beitragen, dass Berlin „sich zum Epizentrum entsprechender Aktionen entwickelt hat“, resümiert der Artikel – und präsentiert unmittelbar im Anschluss das schneidige deutsche Notwehrrecht als Ausgang des im Stau stehenden Menschen aus seiner unverschuldeten Unbeweglichkeit, denn: „Die im Stau festsitzenden Bürger können sich allerdings auch selber helfen“. Zwar gibt es, so informiert der Artikel richtig, eine Grenze bei einem „extremen Missverhältnis zwischen Angriff und Verteidigung“ und auch Beleidigungen, Bedrohungen oder körperliche Angriffe seien verboten, „weil“ sie zur Beseitigung der Blockade nichts beitragen. Jedenfalls mit Bezug auf die körperlichen Angriffe ist statt „weil“ aber eher „falls“ gemeint, denn der Artikel liefert sodann folgende Handreichung zur Notwehr gegen Straßenblockaden:

„Die Aktivisten von der Fahrbahn loszureißen und wegzutragen ist hingegen eindeutig zulässig, auch wenn das wegen des Klebers zu erheblichen Handverletzungen führen sollte“, sagt Elisa Hoven, Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig. Dabei komme es auch nicht auf die Dauer der Blockade oder die Bedeutung der Termine an, die die im Stau Gefangenen andernfalls verpassen könnten. „Es gilt die klare Regel, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht – egal, ob man auf dem Weg zu einem wichtigen Geschäftstermin ist oder einfach nur die ‚Sportschau‘ nicht verpassen möchte.“

Das ist ein recht forscher Rechtsrat. Wer ihn beherzigt, läuft Gefahr, sich strafbar zu machen. Denn anders als behauptet ist hier so gut wie gar nichts „eindeutig“, höchstens der Anfang der Prüfung: Wer angeklebte Aktivisten so von der Fahrbahn losreißt, dass dadurch „erhebliche Handverletzungen“ entstehen, erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung; falls (was das realistischere Szenario sein dürfte) mehrere Leute aktiv werden, geht es um gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB.

Eine Strafbarkeit scheidet aber aus, falls das Von-Der-Straße-Reißen durch Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt ist. Hier wird nun der potenzielle Schutz der Demonstrierenden durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 GG relevant. Soweit ihr Verhalten im Einklang mit Art. 8 GG steht, dürfen sie nicht einfach von Privaten mit Gewalt und unter Zufügung „erheblicher Handverletzungen“ straflos von der Straße gerissen werden. Was Recht und was Unrecht ist, wer also wem nicht zu weichen braucht, ist dabei mitnichten so eindeutig, wie der Artikel suggeriert.

Sind die Proteste überhaupt rechtswidrig?

Anknüpfend an die Tatbestandsmerkmale des § 32 StGB ist zunächst zu klären, ob der in der Blockade der Fahrbahn liegende Angriff auf die Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer „rechtswidrig“ im Sinne des § 32 StGB ist. Dafür genügt grundsätzlich jede Form des Handlungsunrechts, es ist nicht erforderlich, dass das Festkleben einen Straftatbestand erfüllt (MüKo/Erb § 32 StGB Rn. 41, 53).

Es kommt deshalb für die Notwehrbefugnisse nicht darauf an, ob die Protestaktion als Nötigung gemäß § 240 StGB strafbar ist. Rechtswidrig im Sinne des § 32 StGB ist die Protestaktion aber dann nicht, wenn sich ihre Teilnehmer im Rahmen des ihnen von Art. 8 GG Erlaubten bewegen. Zumindest dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit unterfallen die Sitzblockaden, die Aufmerksamkeit für politische Forderungen erregen wollen, auch dann, wenn sie nach dem geschundenen Gewaltbegriff der Rechtsprechung „Gewalt“ im Sinne des § 240 II StGB sind: Für die Schutzbereichseröffnung maßgeblich ist nur, ob die Versammlung „friedlich“ im Sinne des Art. 8 GG ist, was mehr voraussetzt als “Gewalt” im Sinne des § 240 II StGB und etwa erst bei aggressiven Ausschreitungen nicht gegeben wäre (BVerfG, Beschl. v. 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90, Wackersdorf, Rn. 46 ff.; BVerfG, Beschl. v. 7. März 2011 – 1 BvR 388/05, Zweite Reihe, Rn. 33). Sodann sind zur Bestimmung der Rechtswidrigkeit das Grundrecht der Versammlungsfreiheit der Protestierenden und die Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer in praktische Konkordanz, also in möglichst schonenden Ausgleich, zu bringen. Dabei gibt es zwar eine überbordende, heftig umstrittene und über die Jahre wechselhafte Rechtsprechung zur Nötigung durch Sitzblockaden im Straßenverkehr (jüngst und maßgeblich die bereits genannten Beschlüsse); diese Rechtsprechung hatte aber stets die Frage zu klären, ob ein bestimmtes Verhalten der Protestierenden gemäß § 240 StGB strafrechtlich sanktionierbar ist. In der hiesigen Konstellation geht es hingegen nicht um die Strafbarkeit der Demonstrierenden, sondern umgekehrt um die Strafbarkeit derjenigen, die gewaltsam gegen sie vorgehen. Anders gewendet geht es um die Frage, ob Private die Demonstrierenden straffrei attackieren und damit faktisch die Versammlung auflösen dürfen. Dabei werden jedoch der Sache nach die gleichen Kriterien maßgeblich sein, wenngleich womöglich die unter Nutzung dieser Kriterien zu überschreitende Schwelle niedriger ist, da es nur um die Rechtswidrigkeit der Versammlung und nicht auch um deren strafrechtliche Sanktionierung geht. Ausgehend davon, dass es den Demonstrierenden offensteht Ort und Zuschnitt ihres Protestes selbst zu bestimmen, richtet sich die Zulässigkeit der damit verbundenen Beeinträchtigung Dritter maßgeblich nach dem Kommunikationszweck, der Dauer und Intensität der Aktion, einer etwaigen vorherigen Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten, der Dringlichkeit des blockierten Transports und dem Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand (Wackersdorf, Rn. 59 ff.; Zweite Reihe Rn. 39).

Die Behauptung, es komme „nicht auf die Dauer der Blockade oder die Bedeutung der Termine an“, steht damit nicht im Einklang. Ganz im Gegenteil sind beides zentrale Faktoren, um zu bestimmen, ob die konkrete Blockade notwehrfähig ist oder nicht. Natürlich macht es einen Unterschied, ob eine Person im Stau die Sportschau, ein Bewerbungsgespräch oder die letzten Atemzüge ihrer im Sterben liegenden Mutter verpasst. Darüber hinaus sind zahlreiche weitere Besonderheiten des Einzelfalles maßgeblich, die eine pauschale Bewertung verbieten, etwa welche Straße wie lange mit welcher vorherigen Ankündigung und welchen Ausweichmöglichkeiten gesperrt wird.

Jenseits dieser Einzelfallspezifika scheint das Grundkonzept der Demonstrationen im Übrigen eher für als gegen ihre Zulässigkeit zu streiten: „Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist.“ (Wackersdorf Rn. 64, Zweite Reihe Rn. 39). Der Zusammenhang zwischen den erhobenen Forderungen (Tempolimit und 9-Euro-Ticket) und der gewählten Protestform liegt dabei auf der Hand und das Anliegen der Demonstrierenden betrifft auch die vom Protest nachteilig Betroffenen, unabhängig davon, ob man dafür auf die konkreten Forderungen oder das übergeordnete Ziel des Klimaschutzes abstellt.

Damit ist jener Punkt der Abwägung angesprochen, in dem dogmatisch die meiste Musik steckt: Wie genau sind die erhobenen Forderungen in die Abwägung einzustellen? Die Berücksichtigungsfähigkeit solcher „Fernziele“ ist jedenfalls im Kontext der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB ungeklärt, wobei der BGH vor über 30 Jahren eine ablehnende Haltung eingenommen hat, während das BVerfG später in den erwähnten Entscheidungen durch das Abstellen auch auf den Kommunikationszweck jedenfalls eine gewisse Öffnung nahelegt, ohne dass es bisher zu einer Klärung der Frage gekommen ist (Einzelheiten bei MüKo/Sinn, § 240 StGB Rn. 142 ff.). Während es sich offensichtlich verbietet, die Fernziele nach dem Kriterium der „inhaltlichen Richtigkeit“ des Anliegens zu berücksichtigen, da diese inhaltliche Richtigkeit politischer Forderungen nicht gerichtlich festgelegt, sondern politisch und gesellschaftlich ausgehandelt wird, könnte eine Lösung in der Berücksichtigung der „sozialen Gewichtigkeit des verfolgten Anliegens“ liegen (Schönke/Schröder/Eisele § 240 StGB Rn. 29a). Zwar ist auch die Gewichtigkeit einzelner Anliegen eine für politische Aushandlungsprozesse offene Wertungsentscheidung – aber sofern bestimmten Zielen im Verfassungstext eine besondere Bedeutung zugewiesen wird, spricht dies durchaus für eine besondere Gewichtigkeit. Die Frage nach der genauen dogmatischen Berücksichtigung des Kommunikationsanliegens ist damit im Zusammenhang mit Klimaprotesten vor dem Hintergrund des kürzlich ergangenen Klimabeschlusses des BVerfG, der die Bedeutung des Art. 20a GG unterstrichen hat, von besonderer Bedeutung (s. auch hier). Es ist sehr wahrscheinlich, dass der BGH und später das Bundesverfassungsgericht hierzu Stellung beziehen werden, sobald die zahlreichen aktuell laufenden Strafverfahren den Instanzenzug nach oben geklettert sind. Ob die einzelnen Proteste tatsächlich rechtswidrig und damit grundsätzlich notwehrfähig sind, lässt sich damit zurzeit selbst im Einzelfall kaum verlässlich vorhersagen.

Erforderlichkeit und Gebotenheit der Notwehrhandlung

Dabei ist die Notwehrprüfung mit der „Rechtswidrigkeit“ des Angriffs noch nicht abgeschlossen. Vielmehr wäre – ohne dass dies hier vertieft werden kann – auch die Erforderlichkeit der Notwehrhandlung kritisch zu überprüfen. Die Handlung müsste dazu das mildeste, gleichgeeignete Mittel zur Verhinderung des Angriffs sein. Vorrangig dürfte in den hier üblichen Konstellationen jedoch die Inanspruchnahme hoheitlicher Hilfe sein, selbst wenn diese erst noch informiert und herbeigeholt werden muss. Ein solches Herbeiholen ist jedenfalls dann zumutbar, wenn es nicht zu einer maßgeblichen Risikoerhöhung für den Angegriffenen führt (str., Schönke/Schröder/Perron/Eisele § 32 Rn. 41 m.w.N.). Zwar werden hieran typischerweise nur geringe Anforderungen gestellt, aber die Situation bei verkehrsbehindernden Sitzblockaden ist atypisch: Anders als etwa bei einem schnell stattfindenden und die Schwelle von Gefahr zu Verletzung schlagartig überschreitenden Angriff auf die körperliche Unversehrtheit (etwa einer Messerattacke) handelt es sich bei der Verkehrsstauung um eine Dauerbeeinträchtigung, deren Intensität bei Zuwarten nicht kategorisch, sondern nur graduell verändert wird und die noch dazu als solche (also unabhängig von ihrer im konkreten Fall rechtswidrigen Ursache) alltäglich ist. Jedenfalls sofern die Polizei wie in Großstädten üblich innerhalb von Minuten anwesend sein kann, ist ihre Informierung vorrangig.

Denkbar wäre ferner die Gebotenheit der Notwehrhandlung in Frage zu stellen. Die Fallgruppe eines krassen Missverhältnisses der Abwehrmaßnahme angesichts eines nur geringfügigen Angriffs ist dabei zwar nicht einschlägig, denn diese Grenze wäre nach herrschender Auffassung erst bei tödlichen Verletzungen erreicht (und selbst das würden manche bestreiten). Denkbar ist aber eine neue Fallgruppe der Gebotenheit bei Notwehrmaßnahmen gegen (auch rechtswidrige) Versammlungen, sofern lediglich die Fortbewegungsfreiheit für absehbare Zeit, nicht aber auch die körperliche Unversehrtheit oder gar das Leben durch die Versammlung beeinträchtigt wird. Dafür spricht der besondere verfassungsrechtliche Schutz, den Versammlungen bis zu ihrer förmlichen Auflösung genießen (vgl. Wackersdorf, Rn. 50 f.). Es spricht einiges dafür, dass die Auflösung einer Versammlung der Staatsgewalt vorbehalten bleiben muss und nicht über den Umweg der Notwehr faktisch in die Hand Privater gelegt wird. Dies wird durch das erhebliche Eskalationspotenzial unterstrichen, das Versammlungen typisch ist, da sich üblicherweise größere Menschenmengen in politisch und persönlich aufgeheizter Stimmung und der festen Überzeugung jeweils im Recht zu sein, gegenüberstehen.

Der Aufruf zum Faustrecht ist doppelt unverantwortlich

Damit ist mitnichten gesagt, dass die einzelnen Klimaproteste der Letzten Generation rechtmäßig sind oder straffrei bleiben müssen – aber die Behauptung man könne gegen diese stets Notwehr üben, erscheint doch als reichlich steile These. Denn selbst wenn die hier vorgestellten Überlegungen zur Erforderlichkeit und Gebotenheit nicht allgemein konsentiert und teilweise neu sind, bleibt jedenfalls der Punkt, dass sich die Rechtswidrigkeit der Proteste nur im Einzelfall – und ad hoc meist gar nicht – beurteilen lässt.

Wer vor diesem Hintergrund massenmedial zum Faustrecht aufruft, handelt doppelt unverantwortlich. Einmal gegenüber den eigenen Lesern, die er der Gefahr der Strafbarkeit aussetzt. Wer sich wegen (gefährlicher) Körperverletzung angeklagt sieht, wird sich nicht darauf berufen können, wegen des pauschalen one-size-fits-all-Rechtsrats aus der Onlinezeitung einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB in Form eines Erlaubnisirrtums unterlegen zu sein. Unverantwortlich ist dieses Verhalten zweitens aber auch gegenüber dem gesellschaftlichen Klima und politischen Diskurs. Man kann die Straßenblockaden der Letzten Generation für eine unerträgliche Zumutung halten, die verhängten Strafen für zu gering und die Berliner Präventivhaft für zu lasch. Und man kann ausgehend davon natürlich neue, schärfere Gesetze fordern (wie Teile der Union) oder die schärfere Anwendung geltender Gesetze verlangen.

Aber wer erst die Unzulänglichkeit staatlicher Maßnahmen propagiert und sodann die private Rechtsdurchsetzung mittels Notwehr als Ausweg präsentiert, spielt mit dem Feuer. Die gesamtgesellschaftliche Stimmung ist gereizt genug und wird sich in absehbarer Zeit mit den durch die Inflation und wirtschaftliche Eintrübung hervorgerufenen und im Einzelfall bis zur Existenzgefährdung reichenden Wohlstandsverlusten weiter aufheizen. Sonstige Konfliktthemen wie drohende Energieversorgungsengpässe oder das Dauerreizthema Pandemie kommen hinzu. Egal warum in Zukunft Straßen blockiert werden – ob für oder gegen ein Tempolimit, für oder gegen höhere Spritpreise, für oder gegen die Verwendung von Atomkraft – die Lösung kann nicht sein, sich gegenseitig von der Straße zu prügeln. Man sollte sich davor hüten, das Ausleben persönlicher Gewaltfantasien gegenüber politisch Andersdenkenden oder schlicht störenden Mitbürgern über die Propagierung eines Notwehrrechts mit dem Signum der guten Tat der Rechtsbewährung zu versehen. Im Gegenteil: Wer meint, aus der empfundenen Unzulänglichkeit staatlicher Maßnahmen zur Lösung eines Problems folge die Berechtigung zur privaten Gewaltanwendung, begeht selbst den gleichen Fehler, den er den Demonstrierenden zum Vorwurf macht.

 

Anm. d. Red.: Die ursprüngliche Fassung dieses Textes enthielt wenige geringfügige Fehler, die korrigiert wurden.


SUGGESTED CITATION  Gafus, Tobias: Gewaltfantasien und Gewaltmonopol: Zur Zulässigkeit der Notwehr gegen Straßenblockaden für den Klimaschutz, VerfBlog, 2022/11/16, https://verfassungsblog.de/gewaltfantasien-und-gewaltmonopol/, DOI: 10.17176/20221116-215637-0.

18 Comments

  1. Constantin van Lijnden Wed 16 Nov 2022 at 18:36 - Reply

    Als Autor des anlassgebenden Beitrags freue ich mich ja, meinen Namen einmal im Verfassungsblog erwähnt zu finden, wenn auch in einem kritischen und, wie ich leider sagen muss, für meine Begriffe nicht besonders überzeugenden Beitrag. Eine kleine Replik, die ich zunächst auf Twitter (https://twitter.com/cobvl/status/1592921171250810881 ) verfasst habe (daher auch der Stakkato-Stil) füge ich nachstehend einmal ein:

    Oh je, liebe Kollegen, where to begin? Die ersten Absätze resümieren nur den Artikel bzw die Rechtslage, mit Ausnahme des Hinweises auf die Höhe der Geldstrafen (bei Ersttätern typischerweise 20-30 Tagessätze, hiermit nachgereicht).
    Es folgen Ausführungen zur Notwehr, die an denselben Kriterien zu messen sei wie bei 240, wobei “zu überschreitende Schwelle höher ist, da es nur um die Rechtswidrigkeit der Versammlung und nicht auch um deren strafrechtliche Sanktionierung geht.” Gemeint ist wohl: “tiefer”?! 2/
    Es wird Herstellung “praktischer Konkordanz” gefordert und behauptet: “Natürlich macht es einen Unterschied, ob eine Person im Stau die Sportschau, ein Bewerbungsgespräch oder die letzten Atemzüge ihrer im Sterben liegenden Mutter verpasst” 3/
    Das ist aber keineswegs natürlich. Eine solche Abwägung grundrechtlicher Positionen ist dem Notwehrrecht abseits extremer Schieflagen (Gebotenheit) und offensichtlicher Misbrauchsfälle fremd. 4/
    Es folgen wilde Spekulationen zu einer Umkehr der Rechtsprechung, die bislang stets betont hat, dass es nicht darauf ankommt, ob Fernziele der Blockade politisch wünschenswert erscheinen. Daran ändert auch Umbenennung in “soziale Gewichtigkeit” nichts. 5/
    Aus dem Klima-Beschluss, der selbst nicht mal irgendwelche konkreten klimapolitischen Vorgaben enthält, dürfte sich kaum ableiten lassen, dass Bürger ihre subjektiven Vorstellungen (9-Euro-Ticket, 100-kmh-Tempolimit) per Nötigung erpressen dürfen. 6/
    Auch die Schaffung eines neuen Ausnahmetatbestandes für Notwehr gegenüber Demonstrationen ist rein spekulativ. “Möglich” ist natürlich immer vieles, festhalten kann man vorerst aber nur: In der bisherigen Rechtsprechung existiert eine solche Ausnahme nicht. 7/
    Ein halbes Dutzend anderer stichhaltiger Erwägungen, die für die Verwerflichkeit der Blockaden im Rahmen des 240 (und, analog gedacht, für die Zulässigkeit von Notwehr) sprechen bleiben unerwähnt, sind aber hier nachzulesen: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus242146107/Letzte-Generation-Warum-Haftstrafen-fuer-radikale-Klima-Kleber-Wirkung-zeigen-duerften.html?icid=search.product.onsitesearch 8/
    Zum Schluss das Fazit, dass es unverantwortlich sei, auf nach unserer Rechtsordnung bestehende Möglichkeiten der Selbstbehauptung hinzuweisen. Die Lösung könne nicht sein, “sich gegenseitig von der Straße zu prügeln” 9/
    Das hat allerdings auch niemand gefordert (ich jedenfalls nicht), sondern ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Angriffe auf Blockierende verboten sind und bleiben. Mit Prügeln als Reaktion aufs Wegtragen wäre angesichts der stets beteuerten Friedlichkeit der 10/
    “Letzten Generation” ja wohl auch nicht zu rechnen. Dass Auflösung durch die Polizei vorzugswürdig ist und Notwehrrecht mit ihrem Eintreffen endet, bestreite ich nicht, und stellt der Artikel gleichfalls klar. /end

    • Martin Eigenberger Thu 17 Nov 2022 at 11:04 - Reply

      Die Grundrechtsabwägung steht und fällt für meine Begriffe jedenfalls damit, was unter “erheblichen Handverletzungen” verstanden werden soll. Jenseits aller grundrechtstheoretischen Dogmatik wird es ganz praktisch vor Gericht einen erheblichen Unterschied machen, ob ein Finger an der Fahrbahn kleben geblieben ist bei der Ausübung des (vermeintlichen) Notwehrrechts oder kein einziger Hautpartikel und es sich aufs reine Wegtragen beschränkt hat.

  2. Lisa Schmidt Wed 16 Nov 2022 at 19:19 - Reply

    Ich finde es angemessen, dass der Verfassungsblog diesem Thema einen Raum gibt, wundere mich aber doch sehr über die gewählte Tonalität (z.B. “tendenziös-inkompetente Kriminalberichterstattung”) und Ausrichtung des Beitrags. Man könnte fast auf die Idee kommen, der Autor habe ein persönliches Problem mit dem Welt-Redakteur und verfolge mit dem Beitrag primär das Ziel der Diskreditierung, und nicht das Ziel der sachlichen Auseinandersetzung.

    Inhaltlich stört mich an dem Beitrag, dass die Gedankengänge ausgerechnet an der entscheidenden Stelle (Erforderlichkeit und Gebotenheit der Notwehrhandlung) nur wenig Substanz haben. Die Tatsache, dass die Polizei in Minuten anwesend sein könnte, stellt die Erforderlichkeit etwaiger Notwehandlungen nicht per se in Frage. Die hierzu aufgestellten Thesen des Autors sind nach meinem Dafürhalten nicht mit den Grundprinzipien des Notwehrrechts vereinbar. Anders wäre eine Situation nur dann zu beurteilen, wenn die Polizei bereits in Sicht- oder Hörweite wäre.

    Die flankierenden Ausführungen zur Gebotenheit sind legitime Ideen zur Weiterentwicklung des Rechts, aber nicht in der Literatur und Rechtsprechung verbrieft. Ich finde die Überlegungen (mindestens in Teilen) nicht überzeugend; das gilt insbesondere für das Argument des erheblichen Eskalationspotenzials: Wenn man diesen Ansatz in ähnlichen Konstellationen verfolgen würde und die Gebotenheit von Notwehrhandlungen deswegen ausschließen würde, besteht die Gefahr, dass das Notwehrrecht komplett ausgehöhlt wird. Ich habe jedenfalls meine Schwierigkeiten damit, wenn ausgerechnet derjenige, der eine rechtswidrige Notwehrlage schaffen wird, durch die Exzessivität seiner Handlungen das Instrumentarium von Gegenmaßnahmen beschränken könnte.

    • Marx Glättli Fri 18 Nov 2022 at 14:19 - Reply

      Vielen Dank für diesen Beitrag. Ich fürchte, dass der Ton dieses Artikels schlicht und einfach unangemessen und dieses Blogs nicht würdig ist. Ich hätte mehr von einer Platform mit einem Anspruch auf eine gesittete Diskussionskultur gehofft.

  3. Tobias Gafus Thu 17 Nov 2022 at 11:28 - Reply

    Vielen Dank für Ihren Kommentar hier auf dem Verfassungsblog – da ich nicht auf Twitter bin, vereinfacht das die Diskussion sehr. Völlig recht haben Sie damit, dass es bezüglich der erwähnten Schwelle „niedriger“ statt „höher“ heißen muss; ich habe darum gebeten, den Artikel entsprechend anzupassen.

    Zu den rechtlichen Punkten, ebenfalls in aller Kürze:

    1.
    „Es wird Herstellung ,praktischer Konkordanz‘ gefordert und behauptet: ,Natürlich macht es einen Unterschied, ob eine Person im Stau die Sportschau, ein Bewerbungsgespräch oder die letzten Atemzüge ihrer im Sterben liegenden Mutter verpasst‘ 3/
    Das ist aber keineswegs natürlich. Eine solche Abwägung grundrechtlicher Positionen ist dem Notwehrrecht abseits extremer Schieflagen (Gebotenheit) und offensichtlicher Misbrauchsfälle fremd.“

    Das trifft nicht den relevanten Punkt: Es geht ja an dieser Stelle nicht um die Notwehrhandlung (die in der Tat idR ohne Abwägung zu beurteilen ist) – sondern darum, ob überhaupt eine Notwehrlage vorliegt. Das setzt einen rechtswidrigen Angriff voraus und die „Rechtswidrigkeit“ bestimmt sich in den vorliegenden Fällen anhand einer Abwägung der widerstreitenden Grundrechte.

    2.
    „Es folgen wilde Spekulationen zu einer Umkehr der Rechtsprechung, die bislang stets betont hat, dass es nicht darauf ankommt, ob Fernziele der Blockade politisch wünschenswert erscheinen. Daran ändert auch Umbenennung in ,soziale Gewichtigkeit‘ nichts. 5/“

    Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Es gibt nicht „die Rechtsprechung“, sondern eine über 30 Jahre alte BGH-Entscheidung, die in einer gewissen Spannung zu jüngeren BVerfG-Entscheidungen steht. Irgendein Klimaprotest-Fall wird sicherlich in der kommenden Zeit vom BVerfG entschieden werden, das dann vermutlich auch dieses Spannungsverhältnis in die eine oder andere Richtung auflösen wird. Das Gericht hat eine hohe Sensibilität für die Kommunikationsgrundrechte und deren Beschränkung durch das Strafrecht, wie es jüngst immer wieder bei der Meinungsfreiheit gezeigt hat (s. nur 1 BvR 2433/17; 1 BvR 362/18; 1 BvR 2397/19; 1 BvR 2459/19; 1 BvR 1094/19; 1 BvR 2249/19; 1 BvR 1024/19; 1 BvR 2805/19; 1 BvR 1073/20).

    3.
    „Aus dem Klima-Beschluss, der selbst nicht mal irgendwelche konkreten klimapolitischen Vorgaben enthält, dürfte sich kaum ableiten lassen, dass Bürger ihre subjektiven Vorstellungen (9-Euro-Ticket, 100-kmh-Tempolimit) per Nötigung erpressen dürfen.“

    Ob es sich um Nötigung handelt, ist ja gerade die zu klärende Frage. Und bei der dabei vorzunehmenden Abwägung der widerstreitenden Verfassungsgüter könnte der Klimabeschluss durchaus von Relevanz werden. Rn. 190 des Beschlusses lautet: „Die Vereinbarkeit mit Art. 20a GG ist daher Voraussetzung für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen.“ Eine Verurteilung wegen Nötigung ist ein Grundrechtseingriff.

    4.
    „Auch die Schaffung eines neuen Ausnahmetatbestandes für Notwehr gegenüber Demonstrationen ist rein spekulativ. ,Möglich‘ ist natürlich immer vieles, festhalten kann man vorerst aber nur: In der bisherigen Rechtsprechung existiert eine solche Ausnahme nicht.“

    Richtig, aber ohne inhaltliche Gegenargumente. Nachtragen möchte ich an dieser Stelle, dass ich (was ich als Twitter-Abstinenzler leider erst nach Veröffentlichung meines Beitrags erfahren habe) mit meiner Auffassung nicht ganz allein stehe: https://twitter.com/m_kubiciel/status/1592260857656147968

    5.
    Letztlich ist für mein eigentliches Anliegen egal, ob eine solche neue Fallgruppe der Gebotenheit anerkannt wird und wie sich die Rechtsprechung in Zukunft zu „Fernzielen“ verhalten wird. Denn völlig unabhängig von all diesen Punkten ist es schon jetzt möglich, dass im Einzelfall eine „Klimablockade“ nicht rechtswidrig ist. Und damit gibt es auch nicht in jedem Fall ein Notwehrrecht.

    • Constantin van Lijnden Thu 17 Nov 2022 at 13:23 - Reply

      Danke für die Antwort in nunmehr sehr viel sachlicherem Ton. Da Ihre Argumente unter 1-5 letztlich alle auf eine Abwägung zwischen der Versammlungsfreiheit der Aktivisten und der Fortbewegungsfreiheit der blockierten Autofahrer hinauslaufen, erlaube ich mir, nachstehend meine in dem verlinkten Welt-Artikel angestellten Überlegungen einzufügen. Dort stehen sie allerdings im Kontext der Frage nach der Strafbarkeit / angemessenen Strafhöhe und sind aufgehängt am Merkmal der “Verwerflichkeit” im Sinne des § 240, wobei wir uns ja einig sind, dass die Kriterien für den rechtswidrigen Angriff bei § 32 sogar noch niedriger liegen, und dass das Notwehrrecht, sofern man diesen bejaht, nur noch an der Gebotenheit (hier abwegig), dem (unmittelbar bevorstehenden) Eintreffen der Polizei (von mir im Text erwähnt) oder einer hypothetischen neu zu schaffenden Ausnahme scheitern kann.

      Letzteres Szenario halte ich auch deshalb für abwegig, weil sich bei der Schaffung einer solchen Ausnahme vom Notwehrrecht wiederum Wertungsfragen stellen dürften, die jenen ähneln, die bereits bei der nachfolgenden Abwägung zur Verwerflichkeit bzw. Rechtswidrigkeit eine Rolle spielen. Hier käme außerdem noch erschwerend hinzu, dass man den Betroffenen die Hinnahme eines zuvor als (mindestens) strafbar festgestellten Angriffs wohl nur unter besonders hohen Hürden wird aufbürden können. Schließlich wäre in einem solchen, m.E. abwegigen Szenario sogar an einem unvermeidbaren Verbotsirrtum der Autofahrer zu denken, die in Übereinstimmung mit den jedenfalls bis dahin anerkannten Grundsätzen des Notwehrrechts gehandelt hätten.

      Zutreffend ist schließlich Ihre Anmerkung, dass jeder Einzelfall gesondert zu betrachten ist. Das ist in Artikelform aber schon aufgrund der schieren Fallzahl unmöglich – im Übrigen handelt es sich hier ja auch nicht um isoliert und zufällig nebeneinander stehende Einzelfälle, sondern um ein systematisches Vorgehen der Aktivisten, bei dem die einzelnen Blockaden, jedenfalls in Berlin, in allen für die Beurteilung wesentlichen Punkten ähnlich bis identisch gelagert sein dürften. Mit dieser Vorrede hier der Auszug aus dem Artikel zum Thema Verwerflichkeit:

      Diese Zurückhaltung wird gemeinhin mit dem Hinweis auf die großzügige Linie des Bundesverfassungsgerichts in früheren Entscheidungen zu Protestaktionen etwa gegen Atomkraftwerke oder den Irak-Krieg erklärt. Demnach sind Verkehrsblockaden nicht pauschal „verwerflich“ und somit strafbar. Sondern nur vorbehaltlich einer Abwägung, in die die „Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand“ einzubeziehen sind.

      Wie genau die Karlsruher Richter diese anhand anderer Konstellationen geprägten Kriterien auf die systematische Störung des zivilen Automobilverkehrs übertragen würden, weiß niemand.

      Plausibel scheint aber in etwa der folgende Ansatz: Die Dauer, bis der Verkehr wieder fließt, beträgt oft mehrere Stunden und wäre ohne Eingreifen der Polizei noch erheblich länger. Die Intensität ist durch die Wahl besonders befahrener Strecken und die Häufung der Aktionen vor allem im Berliner Stadtgebiet ausgesprochen hoch. Vorher bekannt gegeben werden die Aktionen nur in allgemeiner Form, aber nie nach Zeit und Ort. Ausweichmöglichkeiten gibt es mal mehr und mal weniger, keinesfalls aber für die vorne im Stau stehenden Fahrzeuge.

      Auch die Dringlichkeit des Verkehrs variiert, wird aller Wahrscheinlichkeit nach aber zumindest bei einigen der betroffenen Fahrten hoch sein. Das gilt besonders für Einsatzfahrzeuge von Polizei, Feuerwehr und gesundheitlichen Notdiensten, die in der Vergangenheit bereits etliche Male behindert wurden. Dabei können die Aktivisten sich auch nicht darauf berufen, dass die Bildung einer Rettungsgasse Sache der Autofahrer sei, wenn die Erfahrung zeigt, dass dies in der Praxis regelmäßig nicht gelingt und ohne die Blockaden auch nicht nötig wäre.

      Einen Sachbezug zum Protestgegenstand gibt es schließlich allenfalls insofern, als Autofahren zum CO₂-Ausstoß beiträgt. Das gilt allerdings in ähnlichem und teils größerem Ausmaß auch für zahllose andere alltägliche Handlungsweisen: etwa das Beheizen der eigenen Wohnung, den Einkauf von Fleisch oder Auslandsimporten, Urlaubsreisen und so weiter, sodass man von einem hinreichend engen Sachbezug (anders als etwa bei der Blockade eines Kohlekraftwerks) kaum wird sprechen können.

      Hinzu kommt, dass die Blockaden den Sportwagenfahrer, der nur zu Vergnügungszwecken unterwegs ist, genauso behindern wie die Fahrgemeinschaft im Elektroauto, die mangels tauglicher ÖPNV-Anbindung ins Stadtgebiet pendelt.

      Besonders „verwerflich“ – im alltagssprachlichen wie rechtstechnischen Sinn des Wortes – sind die Blockaden schließlich deshalb, weil sie einfache Bürger treffen, die die politischen Forderungen der Aktivisten nicht einmal erfüllen könnten, wenn sie wollten. Unbeteiligte ihrer Freiheit zu berauben und sie zur Erpressung der eigentlichen Entscheidungsträger zu instrumentalisieren, ist eine Methode, die man sonst eigentlich nur von Geiselnahmen kennt.

      Angesichts der nahezu universellen Verurteilung durch die Politik – mit Ausnahme der Linkspartei, aber einschließlich der Grünen – steht zudem fest, dass die als „Vertrauensbeweis“ geforderten Maßnahmen (Tempolimit 100 km/h auf Autobahnen und ein 9-Euro-Ticket für den ÖPNV) nicht kommen werden. Mangels jeglicher Aussicht auf Umsetzung wandelt der Charakter der Aktionen sich vom Versuch, politischen Wandel zu erzwingen, zur Sabotage um der Sabotage willen. Oder um es in den Worten der „Letzten Generation“ zu sagen, zur „maximalen Störung der öffentlichen Ordnung“.

      Für Milde bei der Strafzumessung spricht hingegen, dass die Blockaden in aller Regel friedlich verlaufen und die Demonstranten sich auch bei Wutausbrüchen von genervten Bürgern sowie gegenüber der Polizei ruhig verhalten. Ob ihr Anliegen sinnvoll und politisch wünschenswert ist, darf für die Strafhöhe zwar grundsätzlich keine Rolle spielen.

      Hier kommt allerdings auch die Erwägung zum Tragen, dass selbst das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber zu einer ambitionierten Klimapolitik ermahnt hat. Konkrete Vorgaben, wie diese umzusetzen sei, enthält der Karlsruher Klima-Beschluss vom vergangenen Jahr freilich nicht – und erst recht keine Befugnis einzelner Bürger oder Gruppierungen, ihre Vorstellung von angemessener Klimapolitik mittels Straftaten durchzusetzen.

      Kurzum: Trotz des toleranten Karlsruher Umgangs mit „zivilem Ungehorsam“ liegt diese Form des Protests nicht einmal mehr im Grenzbereich zulässiger Grundrechtsausübung, sondern weit und eindeutig dahinter. Es ist insofern folgerichtig, dass die Berliner Gerichte – von einer Ausnahme abgesehen – sämtliche bisher beantragten Strafbefehle verhängt haben

      • Constantin van Lijnden Thu 17 Nov 2022 at 13:31 - Reply

        “(mindestens) rechtswidrig” sollte das im zweiten Absatz heißen, nicht “(mindestens) strafbar” (richtigerweise allerdings gleichwohl auch: strafbar ;))

  4. Constantin van Lijnden Thu 17 Nov 2022 at 13:54 - Reply

    Als weiteren Gedanken würde ich übrigens noch ergänzen, dass es nun weiß Gott nicht so ist, als ob irgendwelche systemischen Gründe eine Einspeisung von Klimaschutzbelangen in den demokratisch-politischen Prozess verhindern würden, sodass den Aktivisten praktisch kein anderer Ausweg bliebe, als mit solchen Aktionen auf das Thema aufmerksam zu machen. Im Gegenteil ist Klimaschutz ein praktisch omnipräsentes Thema in den Medien, im Wahlkampf, und in der Politik, und es bestehen sowohl politisch als auch zivilgesellschaftlich schier endlose und durchaus aussichtsreiche Möglichkeiten, sich auf legalem Weg für mehr Klimaschutz zu engagieren. Sich angesichts dessen dennoch unter 1000 Wegen ausgerechnet für den einen zu entscheiden, der massiv und rechtswidrig in die Rechte anderer Bürger eingreift, ist m.E. Ausdruck einer antidemokratischen Haltung, die die Wege politischer Entscheidungsfindung bewusst missachtet und ihren eigenen Lösungsweg ohne Rücksicht auf Verluste erpressen will. Auch das ist m.E. noch ein weiterer Faktor, der für die Verwerflichkeit / Rechtswidrigkeit spricht.

    • Daniel Koch Thu 17 Nov 2022 at 17:18 - Reply

      Wenn das Problem aber seit Jahrzehnten bekannt und im allgemeinen Bewusstsein angekommen ist, warum ist dann deutlich zu wenig passiert? Wir hatten 16 Jahre lang eine Bundeskanzlerin, der als ehemaliger Bundesumweltministerin (und Physikerin) die Klimaschutzproblematik nicht verborgen geblieben sein dürfte. Es gab die Hitzewelle 2003, die weltweiten Proteste von Fridays for Future und die Stellungnahme der Scientist for Future und anderes mehr. Das Ganze hat sicher mehrere Gründe, etwa psychologische (Stichwort: kognitive Dissonanz, näher der sehr lesenswerte Beitrag von Katrin Höffler im Verfassungsblog von heute), aber auch systematische (Stichwort: Lobbyismus, siehe auch das Interview mit dem Klimaforscher Stefan Rahmstorf im Tagesspiegel vom 3.11.2022: Er komme immer mehr zu dem Schluss, dass Lobbygruppen „nachweislich hunderte Millionen Dollar ausgegeben haben, um Zweifel an der Klimawissenschaft zu wecken“.
      Die (hauptsächlich) jungen Leute haben eben begriffen, dass in unserer real existierenden Demokratie auf absehbare Zeit kein halbwegs ambitionierter Klimaschutz möglich ist. Dass die Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht zur Nachbesserung der Klimaziele gezwungen werden musste (und dafür noch dankbar war, als hätte sie nie etwas anderes gewollt), sagt doch schon alles.

      • Constantin van Lijnden Thu 17 Nov 2022 at 19:47 - Reply

        Auch wenn man Rahmsdorfs Zahlen einfach mal großzügig als wahr unterstellt, würde ich annehmen, dass sich die staatlichen Fördergelder und privaten Spenden zugunsten von Klimaschutzorganisationen und -kampagnen auf ein Vielfaches dessen belaufen. Es ist auch keineswegs klar, dass “deutlich zu wenig passiert” wäre. Das stimmt allenfalls dann, wenn man die Erreichung der längst allseits als unrealistisch erachteten und nur noch in Lippenbekenntnissen bejahten Pariser Klima-Ziele als “genug” definiert, und ihre Unterschreitung als “zu wenig”. Aus Perspektive des BVerfG mag es schlüssig sein, eindimensional auf diese abzustellen, zur politischen und gesellschaftlichen Realität gehört allerdings auch, dass völkerrechtliche Verträge sich bisweilen als unpraktikabel erweisen und gebrochen werden, wie es in diesem Fall unter Garantie durch viele, wenn nicht alle Vertragsstaaten passieren wird.

        Für die politisch-gesellschaftliche Debatte ist es ohnehin sinnvoller, auf die aktuellen Prognosen des IPCC abzustellen, denn das Szenario, das wir eigentlich vermeiden wollen, ist ja nicht ein Bruch des Völkerrechts, sondern eine katastrophale Erwärmung des Weltklimas. Wenn man also vielmehr die unterschiedlichen Szenarien zu dieser Frage aus dem aktuellen IPCC-Bericht zum Maßstab erhebt, sich die damit jeweils verknüpften, oft ungewissen und zudem durch ebenfalls ungewisse Anpassungsmechanismen im Lebenswandel künftiger Generationen vollends verunklarten Auswirkungen anschaut, ist keineswegs so deutlich, was genau eigentlich “genug”, “zu viel” oder “zu wenig” ist.

        Das heißt nicht, dass man sich auf einem “Ach, wir wissen’s ohnehin alles nicht so genau, wird schon irgendwie gut gehen” ausruhen dürfte. Die möglichen, teils wahrscheinlichen, teils nahezu sicheren Folgen der verschiedenen Szenarien sind jedenfalls unschön genug, um das Problem ernst zu nehmen und große Anstrengungen anzustellen, um die Erwärmung so weit wie zumutbar möglich zu begrenzen. Umgekehrt sollte man die bestehenden Unsicherheiten aber auch nicht einfach ignorieren und nach Art der Klima-Kleber fernab jeder wissenschaftlichen Realität so tun, als sei ohne 9-Euro-Ticket die Apokalypse vorprogrammiert, mit der selbst das pessimistischste IPCC-Szenario nicht rechnet. Diese Abwägung von langfristigem Risiko, mittelfristiger Opferbereitschaft, zumutbaren und praktikablen Alternativen etc. findet bei uns – zum Glück – in einem demokratischen Diskurs statt.

        Wer seine eigenen Prognosen und Lösungswege über das Ergebnis dieses demokratischen Aushandlungsprozesses stellt und Politik und Gesellschaft durch die serielle Verübung von Straftaten zu erpressen versucht, der handelt im Kern zutiefst undemokratisch und, um zum Ausgangspunkt dieser Debatte zurückzukehren, verwerflich.

  5. Siegbert Nagl Sun 27 Nov 2022 at 05:25 - Reply

    Es mag ja sein, dass das BVG in der Vergangenheit einzelne Blockaden als in Ausübung des Demonstrationsrechts rechtlich zulässig angesehen hat. Im konkreten Fall handelt es sich aber nicht um eine einzelne Blockade sondern um eine konzertierte Organisation vieler Blockaden. Dieses Vorgehen wird von den Behörden offensichtlich als so krass rechtswidrig beurteilt, dass sogar Präventivhaft als angemessen gesehen wird. Wenn Präventivhaft zur Verhinderung einer Tat rechtmässig ist wird eine weniger einschneidende Massnahme in Ausübung der Notwehr bei Ausführung der Tat wohl auch rechtmässig sein. Oder wie würden Sie diesen ansonsten offensichtlichen auftretenden Wertungswiderspruch lösen?

  6. Stefan Müller-Römer Mon 28 Nov 2022 at 20:30 - Reply

    Ich danke dem Kollegen Gafus für seine aus meiner Sicht angesichts der Thematik und der journalistischen Ausfälle des Welt-Journalisten sehr sachlichen Ausführungen. Ich hätte es deutlich härter ausgedrückt.

    Auch wenn ich Straßenblockaden der Demonstranten nicht toll finde, weil ich der Meinung bin, dass ein Tempolimit für den Klimaschutz nicht relevant ist und auch das Auto nicht unser Hauptproblem sondern immer noch ein sinnvolles Fortbewegungsmittel ist, kann nur festgehalten werden, dass diese Demos eine friedliche und durchaus legitime Form des Protests sind, die zudem, wie der Kollege richtig schreibt, auch noch einen unmittelbaren inhaltlichen Zusammenhang zum Demonstrationsanliegen aufweisen.
    Ein Abreißen von angeklebten Demonstranten unter Inkaufnahme von Verletzungen an den Händen hingegen ist meines Erachtens völlig unverhältnismäßig und ein Musterbeispiel für einen Notwehrexzeß. Dass das von einigen Juristen scheinbar anders gesehen wird, ist wieder einmal erschreckend.
    Bemerkenswert finde ich, dass die momentane Diskussion um Notwehrrecht und (offensichtlich rechtswidrige) Präventivhaft bis hin zu (abstrusen) Terrorismus-Vergleichen – gerade in Bayern von der CSU – nie geführt wurde, wenn Bauern mit ihren Traktoren Straßen blockiert haben, um für ihre Anliegen zu streiten, obwohl es da überhaupt keinen inhaltlichen Zusammenhang zum Demo-Anliegen gab.

    • Jendrik Wüstenberg Mon 17 Apr 2023 at 00:54 - Reply

      “Ein Abreißen von angeklebten Demonstranten unter Inkaufnahme von Verletzungen an den Händen hingegen ist meines Erachtens völlig unverhältnismäßig und ein Musterbeispiel für einen Notwehrexzeß. Dass das von einigen Juristen scheinbar anders gesehen wird, ist wieder einmal erschreckend.”

      Das haut aber in Anbetracht des § 32 StGB nicht hin. Dem Notwehrrecht ist die Verhältnismäßigkeit des Notwehrmittels egal, es muss nur “erforderlich” und “geboten” sein. Geboten ist das Mittel nur dann nicht, wenn ein krasses Missverhältnis besteht. Der hierfür oft zu lesende Musterfall “Mann schießt auf Jungen, der Äpfel vom Baum des Mannes klaut” ist hier aber nicht gegeben – die Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer ist tiefgreifend verletzt (die können das Auto ja nicht einfach stehenlassen und abhauen, ohne sich selbst erheblichen Konsequenzen auszusetzen) durch die Nötigungen und die Einbuße an körperlicher Unversehrtheit angesichts der nur sehr begrenzten ärztlichen Behandlungsbedürftigkeit der zu erwartenden Hautabschürfungen recht überschaubar.

      Bei den Bauern liegt der Fall völlig anders, weil die ihre Proteste vorher ankündigen und die Versammlung auch anmelden, sodass man ja gerade ausweichen kann.

  7. L.A. Mon 5 Dec 2022 at 03:23 - Reply

    Herr Fischer sieht es jedenfalls, in meinen Augen gut begründet, anders: https://www.lto.de/recht/meinung/m/frage-an-fischer-notwehrrecht-klimaaktivisten-blockade/

  8. David Lat Sun 23 Apr 2023 at 22:29 - Reply

    Der Autor hält es für “sehr wahrscheinlich, dass der BGH und später das Bundesverfassungsgericht hierzu Stellung beziehen werden, sobald die zahlreichen aktuell laufenden Strafverfahren den Instanzenzug nach oben geklettert sind.“

    Dass der BGH sich zu den konkreten Fällen äußert, scheint mir dann doch etwas unwahrscheinlich. Aber mal schauen, vielleicht darf ja doch irgendwann mal eine große Strafkammer ran…

    • Tobias Gafus Mon 12 Jun 2023 at 12:57 - Reply

      Dann übersehen Sie die Divergenzvorlage gem. § 121 Abs. 2 GVG. So kam es schon zu BGHSt 35, 270.

      • David Lat Mon 12 Jun 2023 at 15:26 - Reply

        Dazu wird es nicht kommen. Die zugrunde liegenden Rechtsfragen sind geklärt. Kein OLG-Vorsitzende/r wird so etwas vorlegen.

  9. David Lat Mon 12 Jun 2023 at 15:41 - Reply

    Ich sagte: “doch etwas unwahrscheinlich”, nicht: “vollkommen ausgeschlossen.”
    Ihre Aussage, es sei sogar “sehr wahrscheinlich”, dass der BGH sich zu diesen konkreten Fällen äußern wird, halte ich für weit hergeholt.

Leave A Comment Cancel reply

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Klimaaktivismus, Klimakrise, Klimaprotest, Notwehrrecht, Strafrecht, Versammlungsrecht


Other posts about this region:
Deutschland