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06 October 2022

Auto fahren oder Klima retten?

Ziviler Widerstand und die Zweck-Mittel-Relation

Vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten finden zurzeit Prozesse gegen Aktivist:innen von Letzte Generation statt. Diese hatten sich an verschiedenen Straßen in Berlin festgeklebt, um auf die unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen aufmerksam zu machen (die BZ prägte deshalb auch den Begriff „Klima-Kleber“). Dadurch kam es teilweise zu Straßensperren und Staus. Die jüngst ergangenen Urteile werfen die Frage nach den strafrechtlichen Grenzen von zivilem Widerstand (non-violent resistance) bzw. zivilem Ungehorsam (civil disobedience) auf: Kann Klimaschutz ein strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund sein?

Festkleben als Nötigung?

Bislang hat das Amtsgericht Berlin-Tiergarten den 20-jährigen Nils R. wegen Nötigung nach § 240 StGB und den 22-jährigen Henning J. wegen versuchter Nötigung (in seinem Fall kam es nicht zu einem Stillstand des Verkehrs) nach §§ 240, 22, 23 I StGB verurteilt. Die Richter:innen brachten in beiden Fällen ihr Verständnis für das Anliegen der Aktivist:innen – auf den Klimawandel aufmerksam zu machen – zum Ausdruck, hielten das Festkleben aber nicht für ein „geeignetes Mittel“. Man könne, so der Richter im Fall von Nils R., nicht „die Rechte eines anderen einfach verletzen, nur weil man glaube, das Richtige zu tun“. Es stellt sich also in den aktuellen Prozessen die im Rahmen der Sitzblockaden bekannte Frage, ob das Blockieren von Straßen zu politischen Zwecken eine strafbare Nötigungshandlung ist.

Dabei lässt sich bereits anzweifeln, ob „Festkleben“ als „Gewalt“ im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB zu werten ist. Die extensive Auslegung des Gewaltbegriffs ist schon seit der „Laepple-Entscheidung“ umstritten (hierzu Fischer, StGB 2022, Rn. 11 ff. m.w.N.). Auch die aktuelle „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs ist nicht unbedingt überzeugend. In den aktuellen Prozessen drehte sich die Diskussion aber darum, ob der Klimaschutz einen Rechtfertigungsgrund darstellen kann. § 240 StGB ist ein sogenannter „offener Tatbestand“: Der Grundsatz, dass die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit der Tat indiziert, gilt hier nicht. Vielmehr muss die Rechtswidrigkeit positiv festgestellt werden.

Klimaschutz als allgemeiner Rechtfertigungsgrund?

Allerdings wäre die Tat nicht rechtswidrig, wenn man annimmt, dass es angesichts des bereits stattfindenden Klimawandels eine Klimanotwehr oder einen Klimanotstand gibt. Ähnliche Fragen werden in Bezug auf den Schutz von Tieren bereits diskutiert: In einer viel beachteten Entscheidung von 2018 hatte das Oberlandesgericht Naumburg eine Strafbarkeit von Tierschützer:innen, die in einen Schweinemastbetrieb eingedrungen waren, um die dortigen Missstände zu dokumentieren, wegen Hausfriedensbruch nach § 123 StGB verneint. Dabei hatten die Vorinstanzen angeregt, Tiere als „ein anderer“ im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB anzusehen. Das Oberlandesgericht Naumburg ließ dies in seinem Urteil offen, wies aber darauf hin, dass jedenfalls § 34 StGB im Lichte von Art. 20a GG auszulegen und der Tierschutz ein notstandsfähiges Rechtsgut sei.

Die sich aus Art. 20a GG ergebende Schutzpflicht bezieht sich nicht nur auf Tiere, sondern auch „in Verantwortung für künftige Generationen [auf] die natürlichen Lebensgrundlagen“. Nach dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 stellt die Vereinbarkeit mit Art. 20a GG „eine Voraussetzung für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung staatlicher Eingriffe in Grundrechte“ dar, wobei „das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel“ zunimmt.

Eine strafrechtliche Verurteilung stellt einen der stärksten staatlichen Eingriffe dar, den man sich denken kann. Bereits die bloße Tatsache, einem Strafprozess ausgesetzt zu sein, bedeutet einen einschneidenden Eingriff in das Leben von Individuen. Insofern müssen auch die Normen des Strafgesetzbuches im Lichte von Art. 20a GG ausgelegt werden, zumindest solange, wie sich dies zugunsten der Beschuldigten auswirkt (zulasten der Beschuldigten verbietet das Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung).

Daher ließe sich überlegen, die Argumentation des Oberlandesgericht Naumburg und der Vorinstanzen auf das Klima zu übertragen und eine Klimanothilfe oder einen Klimanotstand als allgemeinen Rechtfertigungsgrund anzunehmen.

Eine solche erweiternde Auslegung der Nothilfe nach § 32 Abs. 2 StGB scheint aber mit dem Wortlaut („ein anderer“) kaum mehr vereinbar – zumindest solange nicht, wie man die Natur nicht als eigenes Rechtssubjekt anerkennt. Außerdem bestehen angesichts der „Schneidigkeit des Notwehrrechts“ (insbesondere: keine Verhältnismäßigkeitsprüfung der Notwehrhandlung) große Bedenken dagegen, eine Klimanothilfe anzunehmen. § 32 StGB lässt die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Abwägung zwischen Klimaschutz und anderen Verfassungsgütern nicht zu. Sinnvoller ist es daher, über einen möglichen Klimanotstand nach § 34 StGB nachzudenken. Hiernach könnte das Klima dem Wortlaut nach problemlos als „ein anderes Rechtsgut“ ein notstandsfähiges Rechtsgut darstellen. Auch beschränkt der Notstand zulässige Notstandshandlungen durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Allerdings ist nach § 34 StGB eine Notstandslage nur gegeben, wenn die Gefahr für das Rechtsgut gegenwärtig ist. Wie bestimmt sich also die Gegenwärtigkeit der Gefahr für das Klima? Hier würde wohl Unterschiedliches vertreten. Man könnte beispielsweise davon ausgehen, dass die Klimagefahr eine „Dauergefahr“ ist. Zu berücksichtigen ist jedenfalls der Leitsatz des Klimabeschlusses des Bundesverfassungsgerichts, wonach „das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel“ zunimmt. Damit würde also die Intensität der Klimagefahr kontinuierlich zunehmen. Diese zunehmende Intensität der Klimagefahr ist wiederum in die Verhältnismäßigkeitsprüfung der Notstandshandlung einzustellen. Diese ist in jedem Fall anhand der Umstände des konkreten Falles zu prüfen.

Verwerflichkeit vs. ziviler Widerstand

Selbst wenn man aber eine Rechtfertigung in unserem Fall nach § 34 StGB verneint, kommt als besonderer Rechtfertigungsgrund noch die Verwerflichkeitsklausel nach § 240 Abs. 2 StGB in Betracht. Hiernach ist eine Nötigungshandlung nur dann rechtswidrig, „wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist“. Zur Bestimmung der Verwerflichkeit sind „Nötigungsmittel und Nötigungszweck in ihrer Verknüpfung (sog. Zweck-Mittel-Relation) in einer Gesamtwürdigung in Beziehung zu setzen“ (Fischer, StGB 2022, § 240 Rn. 40 m.w.N.). Die Verwerflichkeitsklausel ist aufgrund der zunehmenden Ausweitung des Nötigungstatbestands 1943 als Korrektiv eingeführt worden, „um strafwürdiges von (noch) sozialadäquatem Verhalten abzugrenzen“ (Fischer, § 240 Rn. 38 m.w.N.). Die Abgrenzung von sozial gebilligtem und sozial missbilligtem Nötigungsverhalten ist auch in einem sozialstaatlichen System, das durch viele sichtbare und unsichtbare Abhängigkeitsverhältnisse strukturiert ist, schwer zu ziehen. Die Verwerflichkeit einer Nötigungshandlung muss daher immer im Einzelfall bestimmt werden, sowohl in der Variante des „Drohens“ (§ 240 Abs. 1 Var. 2 StGB) als auch der „Gewalt“ (§ 240 Abs. 1 Var. 1 StGB), insbesondere dann, wenn der Gewaltbegriff wie beim Festkleben weit ausgelegt wird. Die Verwerflichkeitsklausel funktioniert also als ein Einfallstor für gesellschaftliche Wertungen. Diese Wertungen sind heute allerdings durch die Verfassung bestimmt.

Nach der herrschenden Meinung ist eine Nötigung als verwerflich anzusehen, wenn sich der:die Täter:in „anmaßt, den Staat mit Nötigungsmitteln zu vertreten“ (Fischer, § 240 Rn. 41a). Dabei haben die Aktivist:innen von „Letzte Generation“, viele unter 25 Jahre alt, immer wieder betont, dass ihnen keine andere Möglichkeit bleibe, um auf die Belange der Umwelt aufmerksam zu machen, als sich Formen des zivilen Widerstands zu bedienen. Denn Klimademonstrationen gibt es schon seit über 50 Jahren. Geändert hat sich wenig. Es könnte hier also kein Fall der angemaßten, sondern der notwendigen Vertretung des Staates vorliegen: Die Aktivist:innen weisen gerade auf den aus ihrer Sicht bestehenden Missstand hin, dass der Staat sein Gewaltmonopol zu Unrecht nicht ausübt und nicht selbst die Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer:innen (zumindest in Städten wie Berlin) beschränkt. Ziviler Widerstand etwa in der Form von Sitzblockaden ist der Bruch des Rechts innerhalb des Rechts, laut Tim Wihl eine „Protestform von höchsten demokratischen Weihen“. Das Recht muss diesen Rechtsbruch notwendigerweise einpreisen Es geht also darum, zu bestimmen, welches Maß an zulässigem Widerstand das Recht noch verkraften kann und wo das staatliche Gewaltmonopol derart bedroht ist, dass der Staat, auch mit den Mitteln des Strafrechts, eingreifen muss, um die Geltung des bestehenden Rechts zu behaupten. Kurze Zwischenfrage: Ist „Klima-Kleben“ also ein plastisches Beispiel für das von Christoph Menke vorgeschlagene Gegenrechtskonzept?.

Fischers Fehlschluss

Thomas Fischer ist der Meinung, dass die Aktivist:innen es durch ihren Normbruch bewusst auf einen Strafprozess angelegt hätten. Wir sollten sie daher, so Fischer, „nicht wie Kinder behandeln“, sondern ernst nehmen und verurteilen. Richtig ist, dass es den Aktivist:innen tatsächlich um den Bruch der Normalität geht, denn es soll gerade ein Aufmerksamkeitsmoment erzeugt werden, aus dem eine revolutionäre Kraft erwachsen kann. Falsch ist aber die Annahme, dass kalkulierter Normbruch notwendigerweise kalkulierte Verurteilung bedeutet. Der Fehlschluss beruht darauf, dass Fischer das Stoppen des Klimawandels nach wie vor als bloßes „Fernziel“ ansieht, das im Kontrast zum „Tatziel“ (der Beeinträchtigung der Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer:innen) steht. Die Autofahrer:innen würden deshalb, so Fischer in Anlehnung an Kant, zu bloßen „Objekte[n] fremder (Täter)Interessen“ gemacht. An dieser Argumentation lässt sich so gut wie jeder Punkt anzweifeln: Werden die Autofahrer:innen zu „Objekten“, wenn sie für einen kurzen Zeitraum im Stau stehen? Handelt es sich wirklich um „fremde“ Interessen und wenn ja, um wessen Interessen geht es hier?

Es ist schon etwas pathetisch, zu behaupten, dass Autofahrer:innen, wenn sie für einen kurzen Zeitraum im Stau stehen, von Subjekten zu (willenlosen) Objekten werden. Die Fortbewegungsfreiheit von Autofahrer:innen (und nicht nur dieser) ist in einer Stadt wie Berlin ständig beeinträchtigt. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass das Tatziel – die Autofahrer:innen – nicht willkürlich gewählt wurden. Denn diese tragen ja durch ihr Autofahren zum Klimawandel ganz maßgeblich bei. Man könnte also genauso gut argumentieren, dass die Autofahrer:innen alle, insbesondere jüngere Menschen, die mit den Folgen des Klimawandels werden leben müssen, zum Objekt ihres Handelns machen. Es ist also die alte Frage der Rechtsform als Herrschaftsinstrument: Wer definiert, was die Norm ist und was ihr Bruch?

Es handelt sich beim Klimaschutz ferner, wie durch das Bundesverfassungsgericht nun ausdrücklich klargestellt, keinesfalls um „fremde (Täter)Interessen“, sondern um eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung des Staates auch in Bezug auf künftige Generationen.“

Klimaschutz stellt also nicht (mehr) ein Fernziel dar, das als politische Motivation der Aktivist:innen im Rahmen von § 240 Abs. 2 StGB nicht zu berücksichtigen ist (s. Fischer, § 240 Rn. 44). Es ist ein eigenes verfassungsrechtliches Schutzgut, das bei der Erfassung des „sozialen Sinngehalts sowohl des Nötigungsmittels als auch des abgenötigten Verhaltens“ (Fischer, § 240 Rn. 43a) einzustellen ist.

Die Zeiten ändern sich

Es gibt damit einen entscheidenden Unterschied zwischen den „Klima-Klebern“ von heute und früheren Sitzblockaden: Das gesellschaftliche Klima hat sich (mit der zunehmenden Veränderung des tatsächlichen Klimas) gewandelt. Das Bundesverfassungsgericht hat durch seinen Klimabeschluss für die in der politischen Philosophie und Rechtswissenschaft schon lange bestehenden Forderungen nach subjektiven Rechte für die Natur auch in der Rechtspraxis einen größerem Argumentationsspielraum eröffnet. Es kommt also bei der Frage der Strafbarkeit im Falle der vor Gericht stehenden Klimaaktivist:innen letztendlich auf genau die Abwägung an, die d