Gleichmacherei statt Gleichheit
Knapp drei Jahre nachdem die erste Kammer des Zweiten Senats mit der Entscheidung vom 27.6.2017 den Eilantrag einer Rechtsreferendarin gegen ein Kopftuchverbot abgelehnt hatte, liegt nun die lang erwartete Hauptsache-Entscheidung vor. Das Ergebnis der mit 7 zu 1 Stimmen ergangenen Entscheidung ist mit Blick auf die damalige Kammerentscheidung wenig überraschend, ihre Begründung birgt jedoch so manche Neuigkeit. Eine erste Bewertung bietet bereits der Beitrag von Anna-Katharina Mangold. Daran anschließend, werden nachfolgend vier Kernpunkte des Beschlusses kritisiert, die nicht überzeugen, und es wird gezeigt, warum die Entscheidung den Streit um das Kopftuchverbot langfristig nicht beilegen wird.
Hintergrund
Der Fall betraf eine Referendarin in Hessen, die unter Hinweis auf einen ministeriellen Erlass zum juristischen Vorbereitungsdienst zugelassen wurde. Dieser untersagte ihr aufgrund ihres Kopftuchs „insbesondere“ folgende Tätigkeiten im juristischen Vorbereitungsdienst: die richterliche Sitzungsleitung, Beweisaufnahmen, die staatsanwaltschaftliche Sitzungsvertretung und die Leitung von Anhörungsausschüssen in der Verwaltungsstation. Als Rechtsgrundlage gilt § 45 S. 1 und 2 HessBG, wonach Beamtinnen und Beamte insbesondere keine Kleidungsstücke tragen dürfen, die „objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen“ oder den religiösen Frieden zu gefährden. Dieses Verbot findet auf Referendarinnen gem. § 27 Abs. 1 S. 2 JAG entsprechende Anwendung. Die Klagen der Referendarin gegen das Verbot vor den Verwaltungsgerichten blieben erfolglos. Ebenso der Antrag auf einstweilige Anordnung vor dem BVerfG. Ihre Urteilsverfassungsbeschwerde wandte sich gegen den Beschluss des HessVGH und mittelbar gegen dessen gesetzliche Grundlage.
Sonderbereich Justiz aufgrund Formalisierung
Anders als noch in der einstweiligen Anordnung aus dem Jahr 2017 nimmt der Senat keine „Amalgamierung“ der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und der richterlichen Unparteilichkeit mehr vor, die zu Recht als solche kritisiert wurde, sondern prüft beide Verfassungsgüter getrennt. Dennoch will nicht einleuchten, warum zwar einerseits religiöse Symbole im richterlichen Dienst für sich genommen keine Zweifel an der Objektivität der Richterperson begründen können (Rn. 99), wohl aber eine Referendarin mit Kopftuch sich die Verletzung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates entgegenhalten lassen muss (Rn. 86 ff.). Der Senat hält zwar daran fest, dass sich der Staat nicht „jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen“ muss (Rn. 89). Sie soll jedoch dann zurechenbar sein, wenn der Staat „auf das äußere Gepräge einer Amtshandlung besonderen Einfluss“ nimmt (Rn. 90). Der Senat bemüht die Topoi vom „Selbstbildnis des Staates“ und von „überkommenen Traditionen“ im Verfahrensablauf als Begründung dafür, dass in der formalisierten Situation vor Gericht das äußere Auftreten der Amtsperson eine besondere Distanz schaffe, die durch das Tragen eines Kopftuchs durchbrochen werde (Rn. 90). Dabei stellt das Gericht auf die Sicht eines nicht näher definierten objektiven Betrachters ab, auf eine imaginierte „Allgemeinheit“, der diese Beeinträchtigung der Neutralität nicht zugemutet werden könne. Bereits an dieser Stelle grenzt sich der Zweite Senat vom Ersten Senat offen ab und bezieht sich ausdrücklich (Rn. 89) auf folgende Aussage im Minderheitenvotum der Richter Hermanns und Schluckebier in der Entscheidung zum Kopftuch in der Schule: Weil der Staat, um zu handeln, auf seine Amtsträger angewiesen sei, könne die Verpflichtung des Staates auf die Neutralität keine andere sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger zur Neutralität (Sondervotum, BVerfGE 138, 367 Rn. 14). Dadurch wird die Amtstracht mit dem Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates verknüpft, was aber zu inhärenten Widersprüchen in der Argumentation führt: Denn folgt aus der Feststellung, dass der Staat nur durch Personen handeln kann, nicht in der Konsequenz eine nur beschränkte Grundrechtsfähigkeit dieser Individuen und damit implizit eine Rückkehr zum besonderen Gewaltverhältnis? Andererseits lässt der Senat in Rn. 79 keine Zweifel daran, dass auch eine Referendarin im öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis trotz Eingliederung in den staatlichen Bereich grundrechtsberechtigt bleibt. Der Senat windet sich wohl durch diesen Kniff auf der Ebene der Zurechnung aus dem Dilemma, dass die Amtstracht nur gewohnheitsrechtlich anerkannt ist und verschafft ihr einen verfassungsimmanenten Anstrich.
Salvatorische Verfassungsrechtsprechung
Abweichend von der Entscheidung des Ersten Senats von 2015 bewertet der Zweite Senat die Privilegierungsklausel in § 45 S. 3 HessBG, die im Wesentlichen der in § 57 Abs. 4 S. 3 SchulG NRW entspricht. Der Erste Senat hatte § 57 Abs. 4 S. 3 SchulG für nichtig erklärt, weil er gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 und Art. 33 Abs. 3 GG verstieß. Einer verfassungskonformen Auslegung war die Norm aufgrund des eindeutigen Willens des Gesetzgebers zur Ungleichbehandlung nicht zugänglich. § 45 S. 3 HessBG ist ähnlich formuliert und bestimmt, dass bei der Entscheidung über ein Verbot religiös-konnotierter Kleidungsstücke nach dem HessBG „der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes angemessen Rechnung zu tragen“ ist. Die Norm wäre nach Maßgabe des Ersten Senats eindeutig „als Öffnung für eine diskriminierende Verwaltungspraxis“ und damit als Verstoß gegen das Gleichheitsgebot unwirksam (BVerfGE 138, 296, Rn. 136). Nicht so der Zweite Senat. Zwar erkennt er, dass die Norm „in engem Regelungszusammenhang“ mit der Verbotsgrundlage steht, weil bei der Beurteilung, ob ein neutrales Verhalten vorliegt, der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition angemessen Rechnung zu tragen ist. Er erachtet die Klausel dennoch einer verfassungskonformen Anwendung zugänglich, da sie christliche Bekundungen nicht explizit privilegiere, sondern lediglich anordne, dass die entsprechenden Traditionen zu berücksichtigen seien (Rn. 117). Er interpretiert die Klausel gleichheitsorientiert, obwohl er davon ausgeht, dass der Gesetzgeber eine Privilegierung christlicher Bekundungen generell für möglich gehalten habe.
Überzeugend ist der Senat in diesem Punkt nicht. Wenn die Dienstbehörde bei der Beurteilung, ob ein neutrales Verhalten vorliegt, christlich-abendländische Bekundungen berücksichtigen muss, geht damit implizit die Abwertung anderer, insbesondere muslimischer Wertevorstellungen einher. Der Wille des hessischen Landesgesetzgebers ist insofern unzweideutig. In der Gesetzesbegründung heißt es: „All jene Erkennungsmerkmale, die der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition Hessens entsprechen, bleiben zulässig“ (LT-Drs. 16/1897 neu, S. 4). Unmissverständlich ergibt sich der gesetzgeberische Wille auch aus den damaligen Landtagsdebatten zum Verbotsgesetz, die von Aussagen aus der CDU-Fraktion wie „Noch sind wir im christlichen Abendland, nicht im Orient!“ geprägt waren (PlenProt. 16/17 v. 16.10.2003, S. 987). Angesichts dieser eindeutigen gesetzgeberischen Intention überschreitet die verfassungskonforme Auslegung des Zweite Senats die Grenzen der zulässigen Norminterpretation und steht in einem Widerspruch zur Bindung der Judikative an Gesetz und Recht nach Art. 20 Abs. 3 GG. Das Gericht verhilft so einer offen gleichheitswidrigen Verbotsregelung durch salvatorische Verfassungsrechtsprechung zur Verfassungskonformität.
Die Mehrheitsidentität als „objektiver“ Standpunkt
Nach Ansicht des Senats gebietet die religiös-weltanschauliche Neutralität im Bereich der Justiz anders als in der Schule „eine klar definierte Distanz und Gleichmaß“ der Amtsträger (Rn. 90). Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege setze voraus, dass gesellschaftliches Vertrauen in die Justiz als Ganzes durch strenge Formalisierungsbestimmungen gewahrt werde. Der Staat dürfe Maßnahmen ergreifen, um die Neutralität der Justiz aus der „Sichtweise eines objektiven Dritten“ sicherzustellen (Rn. 91). Dem diene § 45 S. 2 HessBG, der Kleidungsstücke und Symbole im Dienst verbietet, die „objektiv geeignet“ sind, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung zu beeinträchtigen.
Offen bleibt aber die entscheidende Frage, auf wen hierbei abzustellen ist. Und warum haftet dem Anblick einer kopftuchtragenden Person für sich bereits abstrakt der „böse Schein“ mangelnder Objektivität (Rn. 98) an? Wann ist in mehr als zwanzig Jahren Verbotsdebatte der Moment eingetreten, in dem diese Prämisse beim Kopftuch so unhinterfragt zugrunde gelegt werden kann? Dem Kopftuch kann ein objektiver Betrachter zunächst lediglich die Information entnehmen, dass die betreffende Frau eine bestimmte subjektive Glaubensüberzeugung hat. Ob daraus zwingend Zweifel an ihrer Neutralität und Distanz folgen und das Vertrauen in die Justiz insgesamt ins Wanken geraten muss, hängt davon ab, auf welchen objektiven Betrachter abgestellt wird. Die Gesetzesbegründung spricht von der objektiven Wirkung, wobei es auf subjektive Empfindlichkeiten der Adressaten nicht ankomme (Hess. LT-Drs. 16/1897, S. 4). Maidowski stellt in seinem abweichenden Votum auf „Personen durchschnittlicher Empfindlichkeit“ ab, „die aufgrund nachvollziehbarer Überlegungen im Einzelfall die äußere Erscheinung einer Referendarin zum Anlass nehmen könnten, Misstrauen gegenüber deren Amtsführung zu entwickeln oder eine Störung insbesondere des religiösen und weltanschaulichen Friedens in ihrem Kontakt mit der Justiz zu empfinden“ (Rn. 23). Die Senatsmehrheit stellt zwar auf die Sichtweise des objektiven Dritten ab, verweist jedoch darauf, dass es bei der Aufgabe Recht zu sprechen auch darum gehe, die Werte durchzusetzen, auf denen das Grundgesetz gründet. Eine öffentliche Kundgabe von Religiosität sei geeignet, „das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen“ (Rn. 92). Doch welche Religiosität und wessen Bild? Referendare haben, so der Senat weiter, „die Werte, die das Grundgesetz der Justiz zuschreibt, zu verkörpern“ (Rn. 104). Die Landesgesetzgeber werden in den neueren Verbotsgesetzen im Bereich der Justiz teilweise recht explizit. So ist nach der Gesetzesbegründung des niedersächsischen Gesetzgebers auf den Eindruck eines fiktiven Dritten „aus dem Kulturkreis der Bundesrepublik Deutschland“ (LT Nds, Drs. 18/4394) abzustellen. Ein exklusiv definierter Kulturkreis grenzt von vornherein die Sichtweise jener aus, die von den Verboten betroffen sind und konterkariert den Gleichheitsschutz, den demokratische Gesetzgebung leisten müsste (s. hierzu auch Mangold).
Entwertung des Gesetzesvorbehalts
Der Entscheidung lag das Kopftuchverbot mit dem weitesten Anwendungsbereich aller Länderregelungen zu Grunde. Doch vergeblich sucht man im Beschluss nach einschränkenden Vorgaben für die Landesgesetzgeber. Das Erfordernis der hinreichend konkreten Gefahr, das zentral für die Verhältnismäßigkeit der Verbotsbestimmung im Kopftuch II-Beschluss (Rn. 80 ff.) war, findet keine Erwähnung. Stattdessen verweist der Zweite Senat großzügig auf den gesetzgeberischen Einschätzungsspielraum. Für den Bereich des Referendariats folge aus dem Verfassungsrecht weder ein zwingendes Ge- noch Verbot (Rn. 102). Der Gesetzesvorbehalt für Kopftuchverbote, die immerhin als schwerwiegender Grundrechtseingriff zu qualifizieren sind (Rn. 75; Sondervotum, Rn. 1), wird zur leeren Hülle, wenn er keinerlei konkretisierenden Anforderungen mehr standhalten muss. Lediglich das Sondervotum erkennt den weit gefassten Anwendungsbereich des HessBG als Problem (Sondervotum, Rn. 4). Die Senatsmehrheit hingegen legt dem Gesetz den Inhalt bei, den ihr der ministerielle Erlass gegeben hat. Die Verbotsgrundlage in § 45 HessBG, die eigentlich in Frage steht, erhält dadurch eine dem Anschein nach verträgliche Tatbestandsreduktion auf bestimmte einzelne Tätigkeiten, die das Gesetz aber nicht vorsieht. Auf diese Weise kommt der Senat zu dem Schluss, „dass sich das Verbot auf wenige einzelne Tätigkeiten beschränkt“ und deshalb verhältnismäßig sei (Rn. 104). Doch das hessische Kopftuchverbot ist eben nicht auf den Sitzungsdienst, die Beweisaufnahme, die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit oder die Leitung von Anhörungsausschüssen beschränkt. Es gilt dem Gesetzeswortlaut nach für Beamtinnen und Beamte „im Dienst“ und damit grundsätzlich uneingeschränkt, unabhängig von einer hinreichend konkreten Gefahr, unabhängig von einer Konfrontation mit Bürgerinnen und Bürgern und unabhängig von der wahrgenommenen Tätigkeit. Für Rechtsreferendarinnen kann dies trotz nur entsprechender Anwendbarkeit (§ 27 Abs. 1 JAG) in Zukunft theoretisch ein weitreichenderes Verbot bedeuten, als es sich dem ministeriellen Erlass entnehmen lässt.
Der Kopftuchstreit zwischen zwei Senaten
Zuweilen wirkt die Entscheidung stärker von dem Bemühen getrieben, sich von der Kopftuch II-Entscheidung des Ersten Senats abzugrenzen, als eine Streitbeilegung im Einzelfall zu leisten. Dies wird die Verbotsdebatte nicht langfristig befrieden, auch wenn der Zweite Senat vorgreiflich zum Kopftuch der Berufsrichterin, Staatsanwältin oder ehrenamtlichen Richterin Stellung nimmt – und das, obwohl der Fall nur eine Referendarin betraf. Allein das abweichende Votum des Richters Maidowski nimmt die Differenzierung vor, die hier fehlt und notwendig gewesen wäre. Er macht deutlich, dass es nicht um das Kopftuch der Richterin, sondern im Kern um die Gewährung einer „Ausbildung [geht], die all das bietet und enthält, was auch Referendarinnen und Referendare ohne eine äußerlich sichtbare Hinwendung zu ihrer Religion in Anspruch nehmen können“ (Rn. 17).
Es wäre nicht nur aus Gründen der richterlichen Zurückhaltung geboten gewesen, sich auf die aufgeworfene Rechtsfrage – die kopftuchtragende Referendarin – zu beschränken. Denn mangels empirischer Kenntnisse darüber, ob und inwiefern eine Beeinflussung Dritter durch den Anblick des Kopftuchs überhaupt möglich ist, besteht ein gravierendes Erkenntnisdefizit. Darauf weist auch das abweichende Votum des Bundesverfassungsrichters Maidowski hin (Rn. 26). Mehr richterliche Zurückhaltung würde zudem einer freieren gesellschaftlichen Entwicklung Raum gewähren und das Vertrauen in die staatliche Juristenausbildung stärken.
Aqilah Sandhu hat während ihres Referendariats 2015 im Freistaat Bayern gegen ein Kopftuchverbot geklagt (VG Augsburg). Die nach erfolgreicher Nichtzulassungsbeschwerde eingelegte Revision gegen das Urteil des BayVGH vom März 2018 ist derzeit beim BVerwG (2 C 5.19) anhängig. Die hier kommentierte Entscheidung des BVerfG betrifft eine andere Klägerin und ist unabhängig von dem Verfahren der Verfasserin.