Gut gemeint, nicht gut gemacht
Frankfurt am Main, EZB-Hauptsitz, Mai 2020. Es treten auf: Angela Merkel, Bundeskanzlerin, Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident (beide mit Lehrbüchern zum Verfassungsrecht auf dem Arm). Bereits anwesend: Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, Jens Weidmann, Präsident der Bundesbank.
Angela Merkel (seufzt): Christine, das ist Wolfgang und mir ein bisschen peinlich. Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns verpflichtet, bei Dir „auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hinzuwirken“. Kein Grund, den Raum zu verlassen; das hört sich schlimmer an, als es ist, wir haben Dir Bücher dazu mitgebracht. Also: Die Verhältnismäßigkeit hat drei Stufen. Die ersten beiden kannst Du getrost vergessen, die nimmt Karlsruhe auch nicht ernst. Wichtig ist die dritte, und dass Ihr in Euren Beschlüssen bitte den Begriff „wertende Gesamtbetrachtung“ erwähnt. Dann müsste es eigentlich passen. Wenn Ihr das nicht tut, dann darf der Jens unsere Staatsanleihen nicht mehr kaufen. Das wollen wir, glaube ich, alle vermeiden (ironisches Grinsen von Jens Weidmann).
Gewiss, das Szenario ist Satire, die – so hat es das BVerfG entschieden – von der Übertreibung lebt. Der Sache nach verlangt das Urteil vom 5. Mai aber ähnliches. Mit bindender Wirkung für alle Staatsorgane (§ 31 BVerfGG). Bereits dies muss bei Verfassungsrechtlern inner- und außerhalb des Zweiten Senats für Stirnrunzeln sorgen, das dann auch beim Blick auf die Urteilsgründe nicht verschwinden will. Vieles spricht dafür, dass sich sieben Richter des Bundesverfassungsgerichts auf einer Mission für die Europäische Rechtsgemeinschaft wähnten, dabei aber gehörig verrannt haben.
Hauptziel des Urteils ist nicht die EZB, sondern der EuGH: Sechseinhalb von zehn Leitsätzen befassen sich nicht mit dem streitigen Anleihenkaufprogramm PSPP, sondern rammen Pflöcke im Verhältnis Karlsruhe-Luxemburg ein. Weite Teile der Urteilsgründe lesen sich wie eine fachaufsichtliche Prüfung des Gerichtshofs (Rn. 124 ff.). Selbst in Passagen, die eigentlich dem PSPP gewidmet sind, schweift der verfassungsrichterliche Blick unwillkürlich ab auf die vermeintlichen Unbotmäßigkeiten, die man sich auf dem Kirchberg erlaubt (Rn. 184 ff.).
Dies wirft die Frage auf, welch gravierendes Versäumnis dem EuGH unterlaufen ist, dass sein Urteil der Senatsmehrheit als „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ (Rn. 116), „methodisch nicht mehr vertretbar“ (Rn. 119) und „objektiv willkürlich“ (Rn. 118) gilt. Im Kern lautet der Vorwurf, der EuGH habe den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verkannt. Dessen Prüfung laufe leer, weil ihr Kern – die Abwägung kollidierender Belange – fehle (Rn. 138). Der Gerichtshof blende die wirtschafts- und sozialpolitischen Folgen des PSPP aus. Dies widerspreche der ansonsten gepflegten Vorgehensweise (Rn. 146) und berge die Gefahr einer kontinuierlichen Erosion der mitgliedstaatlichen Kompetenzen und der demokratischen Legitimität (Rn. 157). Schwere Geschütze also.
Indes ergeben sich bei näherem Hinsehen erhebliche Zweifel am so drastisch formulierten Befund: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zwar im EUV als Kompetenzausübungsschranke angesprochen, seine primäre Funktion entfaltet er allerdings – wie im deutschen Recht – bei der Prüfung von Eingriffen in subjektive Rechte. Dementsprechend bezieht sich die zum Beleg eines „Methodenbruchs“ angeführte EuGH-Judikatur primär auf die EU-Grundrechte und -Grundfreiheiten (Rn. 147 ff.). Dass die dort geprägten Maßstäbe unbesehen auf die Kompetenzabgrenzung zu übertragen seien (Ls. 6a), mag man gewiss vertreten; nahe liegt es nicht: Insbesondere die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeit ist eigenen Wertungen besonders zugänglich. Nimmt man ihr nun auch noch den Bezugspunkt zu subjektiven Rechten, bleibt wenig anderes als Dezision. Zudem: Eine andere Auffassung als „willkürlich“ anzusehen, erfordert seinerseits eine besonders stichhaltige Begründung – die der Senat schuldig bleibt: Nach Art. 5 Abs. 5 EUV „gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus“. Die vom BVerfG vermisste dritte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist im Vertragswortlaut also nicht enthalten. Ein Umstand, den man sicher einordnen kann, den das Urteil aber nicht für erwähnenswert hält.
Ferner lässt sich bezweifeln, ob eine umfassende Abwägung widerstreitender Belange wirklich das Instrument der Wahl sein sollte: Einzelne Maßnahmen infolge der Corona-Pandemie mögen sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen als unverhältnismäßig und damit grundrechtswidrig erweisen; unter den Kompetenztitel für das „Recht der Wirtschaft“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) fallen sie dadurch nicht. Und die Senatsrechtsprechung zur „Erforderlichkeit“ einer bundeseinheitlichen Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG operiert zwar durchaus mit Folgenerwägungen, aber eben nicht mit der von der Verhältnismäßigkeit bekannten Abwägung. Damit sollen hier weder ein Tu-quoque-Einwand erhoben, noch die strukturellen Unterschiede zur EU verwischt werden. Indes liegt die Frage nahe, ob sich die Herangehensweise des EuGH nicht vielleicht doch auf gute, „objektive Willkür“ ausschließende Gründe stützen kann.
Vor diesem Hintergrund ist von besonderem Interesse, was die Karlsruher Richter anstelle ihrer Luxemburger Kollegen besser gemacht hätten. Und in der Tat wartet das Urteil mit einer Fülle ökonomisch begründeter Einwände gegen das PSPP auf. Mit guten Argumenten bezweifelt es die Sinnhaftigkeit des Programms (Rn. 169) und hinterfragt die Aussagen der EZB stärker als dies der EuGH getan hat (Rn. 198 ff.). Bedauerlich ist freilich, dass sich der Senat primär auf den deutschen Diskurs stützt – der Anleihenkäufen durch die EZB weit kritischer gegenübersteht als der in anderen Mitgliedstaaten (Rn. 137, 139, 166, 173). Erwägungen, ob dies die einzig selig machende Lehre ist, enthält das Urteil nicht. Mag die EZB in Luxemburg nur wenig Widerspruch erfahren, in Karlsruhe werden ihre Gegner ähnlich geschont.
Auch und vor allem handelt es sich eben um ökonomische Einwände, die sich zwar möglicherweise in juristischen Prüfungsmaßstäben operationalisieren lassen, dadurch aber nicht zu subsumtionsfähigen Rechtsnormen werden. Dementsprechend scheut auch der Senat vor einer eigenständigen juristischen Bewertung des PSPP zurück. Er wirft der EZB einen „Abwägungs- und Darlegungsausfall“ vor (Rn. 177) und gibt ihr auf, in einem neuen Beschluss „nachvollziehbar“ die geldpolitischen Ziele gegen die wirtschaftlichen Folgen des PSPP abzuwägen (Rn. 235). Welche das konkret sind, wagt das Urteil selbst auch nicht zu sagen, betont es doch, seine Ausführungen seien „keineswegs vollständig“ (Rn. 176). Und an späterer Stelle referiert es Argumente gegen das PSPP, nur um diesen dann Argumente dafür folgen zu lassen (Rn. 180 ff.). All dies mag zur Rationalisierung der Geldpolitik beitragen. Im Ergebnis liegt es aber nicht weit weg von der Einsicht des EuGH, dass „geldpolitische Fragen gewöhnlich umstritten sind“ und der EZB deshalb de iure nicht mehr als der sorgfältige Einsatz ihres Sachverstands abverlangt werden kann. Zudem – Stichwort: methodisch vertretbar – sucht man eine dogmatisch schlüssige Herleitung der vom Senat verquickten Prüfung von Ultra-vires-Maßstab, Verhältnismäßigkeit und Begründungspflicht vergebens.
Was bleibt?
Erstens zeigt sich mehr denn je, dass Ultra-vires- und Identitätskontrolle nicht nur auf dogmatisch wackligen Beinen stehen, sondern strukturell ungeeignet zur Überprüfung von Unionsakten sind: „Äußerungsberechtigt“ sind gemäß § 94 Abs. 1 BVerfGG Bundesregierung und Bundestag, die sich nicht immer dazu durchringen mögen, auf EU-Ebene beschlossene Maßnahmen mit aller Entschlossenheit zu verteidigen. Die betroffenen Unionsorgane sind auf die Rolle als „sachkundige Dritte“ verwiesen, formal gleichrangig neben (deutschen) Wirtschaftsverbänden und (deutschen) Wissenschaftlern. Stimmen aus anderen Mitgliedstaaten werden gar nicht gehört. So bleibt der bittere Beigeschmack, dass hier ein Kreis von acht Richtern eines Mitgliedstaats, zusammen mit den stets gleichen Beschwerdeführern im eigenen Saft schmorend, gegenüber dem Rest Europas überlegenes Wissen beansprucht.
Hinzu kommt eine Wortwahl, die einer Rechtsgemeinschaft unangemessen ist. Die Feststellung „objektiver Willkür“ ist (auch) den prozessualen Besonderheiten geschuldet; deutsche Fachgerichte können ein Lied davon singen. Etwas Sensibilität dafür, dass dem europäischen Publikum solche Feinheiten entgehen, darf man aber von einem Verfassungsgericht erwarten. So steht zu erwarten, dass man sich in Warschau und Budapest ermuntert sehen wird, unliebsamen EU-Maßnahmen ebenfalls eine „wertende Gesamtbetrachtung“ als Ausdruck von Volkssouveränität (Ls. 6.a) angedeihen zu lassen.
Zweitens dürften die unmittelbaren Auswirkungen auf die Geldpolitik voraussichtlich gering sein. Das Urteil selbst zeigt auf, wie das PSPP – wenn nur sorgfältig begründet – in verfassungskonformer Weise durchgeführt werden kann. Die Flexibilität der EZB wird so zu einem gewissen Grad eingeschränkt, etwa im Hinblick auf die Kommunikation eines Ausstiegsszenarios (Rn. 212) und nachträgliche Mitteilung von Sperrfristen (Rn. 189); beseitigt wird sie nicht. Der Sache nach verlangt das BVerfG schlicht, dass man in Frankfurt die eigenen Entscheidungen besser erklären und begründen möge. Dagegen ist nichts einzuwenden. Dafür ein EuGH-Urteil für unbeachtlich zu erklären, verrät aber ein bemerkenswertes Verständnis von Verhältnismäßigkeit.
Weitgehend unberührt dürfte das anlässlich der Corona-Pandemie aufgelegte Pandemic emergency purchase programme (PEPP) der EZB bleiben. Insoweit wirft das Urteil zwar einige Zweifel auf, indem es die Verteilung von Anleihenkäufen nach dem Kapitalschlüssel der EZB zum zentralen Kriterium zu erheben scheint (Rn. 217). Das PEPP folgt diesem Schlüssel zwar grundsätzlich, behält sich aber Abweichungen vor. Indes betont der Senat zugleich, dass sich die Verfassungskonformität einer EZB-Maßnahme „nicht an der Einhaltung eines einzelnen Kriteriums“ entscheidet, „sondern nur auf Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung“ (Rn. 215). Zudem dürfte das PEPP nicht denselben (Verhältnismäßigkeits-)Bedenken wie das PSPP unterliegen, da es an eine spezifische Situation anknüpft und daher weniger dem Verdacht der „monetary dominance“ (Rn. 171) ausgesetzt ist. Im Übrigen hat das BVerfG mit den sogenannten OMT bereits ein höchst selektives Anleihenkaufprogramm (zähneknirschend, aber eben doch) gebilligt. Eine Abweichung von den dortigen Leitsätzen – neue Verfassungsbeschwerden sind, Kostenentscheidung sei Dank, gewiss – dürfte nicht zu erwarten sein.
Drittens könnte das Urteil mittelbare Folgen haben, die der eine oder andere Richter noch bedauern mag. Die Unabhängigkeit der EZB, in Art. 130 AEUV und Art 88 GG festgeschrieben, galt gerade in Deutschland als conditio sine qua non für die Teilnahme an der Währungsunion. Im Maastricht-Urteil des Zweiten Senats wurde sie eigens hervorgehoben. Vor diesem Hintergrund enthält die jetzige Entscheidung nicht weniger als einen Tabubruch: Es verpflichtet Bundesregierung und Bundestag zu einer Intervention in die Geldpolitik – sei es im Ergebnis auch nur, „auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken“ (Rn. 231). In Zeiten erbitterter Streitigkeiten über die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion wird ein gravierender Vorwurf nicht auf sich warten lassen: Dass eine unabhängige Zentralbank für Deutschland offenbar nur so lange Verfassungsgebot ist, wie sie die eigenen Erwartungen erfüllt.
Wohlgemerkt: Wir bezweifeln nicht, dass man im Zweiten Senat im besten Interesse der europäischen Sache zu handeln glaubte. Zu Recht sieht sich das BVerfG als „Bürgergericht“, das einen wesentlichen legitimatorischen Beitrag zum politischen System Deutschlands leistet. Vom Beifall des Publikums begleitete Urteilsverkündungen zeugen davon. Die augenscheinliche Annahme, dieses Erfolgsmodell schlicht auf die europäische Ebene übertragen zu können, wirkt aber gleichermaßen naiv wie vermessen.
Die Autor_innen geben ausschließlich ihre persönliche Auffassung wieder und waren am Verfahren nicht beteiligt.
Der kritischen Bewertung des Urteils stimme ich grundsätzlich zu.
Was mich aber ratlos zurück
lässt, ist dieser Teil:
“Der Sache nach verlangt das BVerfG schlicht, dass man in Frankfurt die eigenen Entscheidungen besser erklären und begründen möge. Dagegen ist nichts einzuwenden. Dafür ein EuGH-Urteil für unbeachtlich zu erklären, verrät aber ein bemerkenswertes Verständnis von Verhältnismäßigkeit.”
Wie genau hätte das BVerfG die genauere Erläuterung der Art und Weise der Entscheidungsfindung der EZB gegen ein EuGH-Urteil, dass diese für unionsrechtrechtskonform erklärt, anders herbeiführen können?
Ohne die Feststellung, dass der EuGH hier ultra vires gehandelt hat, wäre dies wegen der Bindungswirkung doch gerade nicht möglich gewesen.
Nachdem das BVerfG in unzähligen Entscheidungen “Ja, aber…” gesagt hat, konnte es in diesem Fall kaum auf anderem Wege “Nein, aber…” sagen – oder?
Interessanter Kommentar. Sollte sich der Zweite Senat auch diese Gedanken gemacht haben, so hätte er just den Fehler begangen, den er dem EuGH vorwirft: Als Ergebnis der auf der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeit anzustellenden Abwägung muss eine Maßnahme unterbleiben, wenn sie – gemessen an den Zielen – zu großen Schaden anrichtet.
Vielen Dank für diesen Beitrag!
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Kompetenzabgrenzungskriterium erscheint mir als springender Punkt in der Argumentation des Gerichts. Ob er dafür wirklich geeignet ist, würde ich wie Sie zumindest bezweifeln. Wie soll man auch Kompetenzen abwägen und in Auslgleich bringen?
Erstaunlich finde ich aber vor allem, dass das BVerfG dem EuGH unterstellt, derart vorzugehen. Wenn es zu der vom EuGH in Gauweiler, Rn. 66-72, vorgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfung ausführt “Dahinter steht die Vorstellung, dass eine großzügige Interpretation der Einzelermächtigung durch eine valide Verhältnismäßigkeitskontrolle bis zu einem gewissen Grad kompensiert werden kann”, dann deckt sich das wohl kaum mit einer unbefangenen Lesart dieses Urteils. Die Abgrenzung von Währungs- und Wirtschaftspolitik wird dort ja gerade in den vorangegangen Rn. 46ff. nach dem – sicherlich auch kritisierbaren – Motto “Währungspolitik ist, wo Währungspolitik draufsteht” vorgenommen. Vielmehr scheint es dort um eine “normale” Verhältnismäßigkeitsprüfung zu gehen.
Vielen Dank für die Aufarbeitung.
Ja, Verhältnismäßigkeit bei GR-Eingriffen – das BVerfG verhält sich allerdings wie ein kleines VG, das eine Ordnungsverfügung eines Bauamtes überprüft – das ist hier nicht angemessen, die EZB hat – wie richtig erwähnt – einen viel größeren eigenen Spielraum. Zudem sind JuristInnen nie die besseren Ökonomen.
Deutlich wird wieder einmal – wie bei den Entscheidungen zum EU-Wahlrecht -, dass offenbar einige Richter das Funktionieren der EU nicht verstanden haben – oder nicht verstehen wollen, um ihre eigene Bedeutung nicht eingeschränkt zu sehen. Allerdings wäre etwas mehr “Blick über den Tellerrand” auf die Wirkungen der Entscheidungen angebracht. “Fiat iustitia et pereat mundus” ist für ein deutsches Verfassungsgericht kein gutes Motto.