Haft ohne Rechtsgrundlage
Zur Haftanordnung im Zuge von Binnengrenzkontrollen
Es ist ruhig geworden um die Grenzkontrollen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Österreich. Trotzdem hat Bundesinnenminister Seehofer angeordnet, dass die Grenzkontrollen bis Mai 2020 fortgesetzt werden. Bei diesen Grenzkontrollen werden immer wieder Personen aufgegriffen, die nicht direkt nach Österreich zurückgeschickt werden und daher zur Sicherung der Rückkehr inhaftiert werden. Für diese Inhaftierung gibt es in den allermeisten Fällen keine rechtliche Grundlage, so dass die Haft rechtswidrig ist: Denn anders als die bisherige deutsche Praxis annimmt, findet der als einschlägig angesehene § 15 Abs. 5 AufenthG an der Binnengrenze keine Anwendung.
Die Praxis ist aktuell davon geprägt, dass die Behörden, die die Haft beantragen, und die Untergerichte, die die Haft anordnen, davon ausgehen, dass an der Binnengrenze dieselben Haftmöglichkeiten bestehen wie an der Außengrenze (also am beispielsweise Frankfurter Flughafen). Gemäß § 15 Abs. 5 AufenthG soll Zurückweisungshaft angeordnet werden, wenn eine Zurückweisungsentscheidung ergangen ist und diese nicht unmittelbar vollzogen werden kann. In einer kürzlich öffentlich gewordenen Entscheidung hat das Landgericht Traunstein diesbezüglich die Argumentation der Ausländerbehörde übernommen, dass „der Zweck der wiedereingeführten Grenzkontrollen […] ad absurdum geführt“ würde, wenn eine mit der Einreiseverweigerung einhergehende Inhaftierung nicht statthaft wäre (S. 6).
Europarechtliche Verwirrungen
Im Europäischen Recht kommen in dieser Situation drei Rechtsquellen für die Inhaftierung in Betracht. Dies sind die Rückführungsrichtlinie (RRL), die immer dann zur Anwendung kommt, wenn die Person ausreisepflichtig ist; die Aufnahmerichtlinie (AufnahmeRL), die unter bestimmten Umständen die Inhaftierung von Asylsuchenden erlaubt, und die Dublin-Verordnung (Dublin-VO), die spezielle Regelungen für die Inhaftierung in Dublin-Fällen beinhaltet. Welche dieser Regelungen bei einer Binnengrenzkontrolle anwendbar ist, war im Verfahren streitig.
Die Beschwerdeführerin hatte vorgebracht, dass an der Binnengrenze keine Zurückweisungshaft angeordnet werden dürfe und sich dabei auf die Entscheidung des EuGH im Fall Arib vom 19. März 2019 berufen und zusätzlich, da es sich um einen Dublin-Fall gehandelt hat, auch auf die Entscheidung des EuGH im Fall Hassan vom 31. Mai 2018. Wäre dies richtig, wäre grundsätzlich an der Binnengrenze eine Zurückweisung nicht erlaubt, jedenfalls aber keine Haft, ohne zusätzlich die Voraussetzungen entweder nach der Rückführungsrichtlinie (dort Art. 15) oder der Dublin-Verordnung (dort Art. 28) zu erfüllen. Das Gericht geht auf diese Argumentation im Wesentlichen nicht ein, sondern geht von einer anderen Konstellation aus: Art. 8 Abs. 3 Bst. c AufnahmeRL ermöglicht es, eine Person zu inhaftieren, „um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden.“ Ob diese Bestimmung bei einer Binnengrenzkontrolle überhaupt anwendbar ist, wird in der Entscheidung gar nicht problematisiert, da der Bundesgerichtshof (BGH) im September 2017 bereits in einer ganz ähnlichen Konstellation entschieden hatte, dass eine Zurückweisungshaft rechtmäßig auf § 15 Abs. 5 AufenthG gestützt werden kann.
Wenn das also geklärt ist, warum also überhaupt noch etwas dazu schreiben? Weil in der Zwischenzeit der EuGH im Fall Arib geurteilt hat. Seither steht fest, dass sich der BGH über die europarechtlichen Voraussetzungen geirrt hat.
Die Entscheidung des BGH von 2017
Der BGH hatte seine Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, dass die Bundesrepublik Deutschland mit § 15 Abs. 5 AufenthG für „Fälle der unerlaubten Einreise auf dem Luft-, See- oder Landweg ein Sonderregime eingeführt [hat], das die Haftanordnung nicht von dem Vorliegen von Haftgründen abhängig macht“ und dieses Sonderregime „nach Art. 2 Abs. 2 [Bst. a] der Rückführungsrichtlinie zulässig“ sei (Rz. 12). Ein weiteres tragendes Argument der Entscheidung war (Rz. 13), dass Art. 14 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex (SGK) im Falle der Einführung von Binnengrenzkontrollen auf diese anwendbar sei, da dies von Art. 32 iVm Art. 14 Abs. 4 SGK angeordnet werde. Art. 14 Abs. 4 SGK regelt: „Die Grenzschutzbeamten stellen sicher, dass ein Drittstaatsangehöriger, dem die Einreise verweigert wurde, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht betritt.“ Daher sei in diesen Fällen bei asylsuchenden Personen Art. 8 Abs. 3 Bst. c AufnahmeRL und nicht Art. 28 Abs. 2 Dublin-VO einschlägig. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Normen besteht darin, dass Art. 28 Abs. 2 Dublin-VO eine bestehende erhebliche, individuelle Fluchtgefahr erfordert, während nach der Aufnahmerichtlinie in der genannten Sonderkonstellation nach Ansicht des BGH keine weiteren Voraussetzungen für die Haft zu prüfen sind.
Der Fall Arib
Der EuGH hat im Fall Arib im Wesentlichen entschieden, dass Binnengrenzkontrollen die Binnengrenze nicht zur Außengrenze macht und daher die Rückführungsrichtlinie ohne Rückgriff auf die Sonderkonstellationen angewendet werden müsse. Das bedeutet das § 15 Abs. 5 AufenthG, der vom BGH als rechtmäßige Ausnahmevorschrift auf Basis von Art. 2 Abs. 2 Bst. a RRL angesehen wurde, an der Binnengrenze nicht angewendet werden kann. Dies gilt erst recht für Konstellationen des Asylverfahren, für die eine solche Ausnahmevorschrift gar nicht existiert. Der EuGH sagt dazu (Arib, Rn. 62), dass Art. 32 SGK bei der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nur eine entsprechende Anwendung der Normen des SGK vorsieht, nicht aber, „dass in einem solchen Fall Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 [i.e. die Rückführungsrichtlinie] Anwendung findet.“ Die Nichtanwendbarkeit von Ausnahmevorschriften bestätigt auch das von der EU-Kommission erstellte Rückkehrhandbuch, das „bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist.“ Das Handbuch stellt (siehe Abl. 2017 L 338/83, 95 f.) klar, dass die Verweigerung der Einreise einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Überschreiten der Außengrenze erfordert, der an der Binnengrenze nicht gegeben ist:
„Die folgenden Personengruppen gelten nicht als „von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze … aufgegriffen bzw. abgefangen“, da kein UNMITTELBARER Zusammenhang mehr zu dem illegalen Grenzübertritt besteht: […] irreguläre Migranten, die eine Binnengrenze überschreiten — siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-47/15, Affum (Rn. 69),“
Das Handbuch verweist dabei auf den Wortlaut von „Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie, der auf die Außengrenzen Bezug nimmt, und Artikel 14 SGK, der an den Außengrenzen Anwendung findet.“ Damit ist ein Rückgriff auf § 15 Abs. 5 AufenthG an der Binnengrenze grundsätzlich ausgeschlossen, da die Ausnahmekonstellation, der die Norm ihre Geltung verdankt, auf Binnengrenzen nicht übertragbar ist. Eine Zurückweisungshaft ist also an der Binnengrenze generell rechtswidrig.
Haft nach Art. 8 AufnahmeRL?
Damit besteht auch die Haftmöglichkeit aus Art. 8 Abs. 3 Bst. c AufnahmeRL nur an der Außengrenze, da dieser eine Inhaftierungsmöglichkeit nur „im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet“ vorsieht. Ein solches Verfahren findet allerdings nach den EuGH-Entscheidungen in den Fällen Arib und Affum nur an den Außengrenzen statt und ist nicht auf die Binnengrenze übertragbar. „Das Hoheitsgebiet“ ist daher in Einklang mit dem EuGH als „Hoheitsgebiet des Schengen-Raumes“ zu lesen, da der Zweck der Haftmöglichkeit, der in der endgültigen Verweigerung der Einreise in den Schengen-Raum liegt, lediglich bei einem Grenzverfahren an der Außengrenze (vgl. Art. 43 der AsylverfahrensRL) erreicht werden kann.
Jede andere Auslegung würde in Dublin-Fällen an der Binnengrenze dazu führen, dass der Mitgliedstaat faktisch zwischen der Haft nach der Aufnahmerichtlinie und der Dublin-Haft nach der Dublin-Verordnung wählen könnte, denn auch die Haft nach Art. 28 Dublin-VO ist nicht davon abhängig, ob eine Aufnahmeersuchen an den für zuständig gehaltenen Staat bereits gestellt worden ist (vgl. EuGH, Hassan, Rn. 67). Eine solche doppelte Inhaftierungsmöglichkeit scheint zumindest im System nicht angelegt zu sein. Art. 8 AufnahmeRL ist daher restriktiv auszulegen, damit sich die Haftmöglichkeiten im System ergänzen und nicht überlappen.
Auch wenn man ein solches Wahlrecht annimmt, bliebe die Haft nach Art. 8 Abs. 3 Bst. c AufnahmeRL an die weiteren Voraussetzungen von Art. 8 AufnahmeRL geknüpft. So muss im Einzelfall geprüft werden, ob die Haft erforderlich ist und dass „sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.“ Damit kann auch die Haft nach Art. 8 Abs. 3 Bst. c AufnahmeRL nicht allein auf eine Zurückweisungsentscheidung und deren unmittelbare Nichtvollziehbarkeit gestützt werden.
Fehlen einer Rechtsgrundlage
Zusammengefasst bestehen also auch bei einer extensiven Auslegung des Wortlauts von Art. 8 AufnahmeRL keine Anhaltspunkte dafür, dass § 15 Abs. 5 AufenthG als Rechtsgrundlage für diese Haftmöglichkeit an der Binnengrenze gelesen werden könnte. Art. 8 Abs. 3 AufnahmeRL am Ende fordert aber, dass „Haftgründe […] im einzelstaatlichen Recht geregelt“ werden. Eine solche Grundlage für die Inhaftierung in einem Einreiseverfahren gibt es mit § 15 Abs. 5 AufenthG bisher nur an der (Schengen-)Außengrenze (also in Deutschland im Wesentlichen an internationalen Flughäfen, die eine Non-Schengen-Zone haben), da die Rückführungsrichtlinie solche Ausnahmen von der Verhältnismäßigkeitsprüfung (wenn überhaupt) nur an der Außengrenze zulässt.
Damit fehlt jedenfalls aktuell im deutschen Recht eine Rechtsgrundlage für eine europarechtskonforme Zurückweisungshaft an der Binnengrenze (so denn eine solche überhaupt möglich wäre). Eine Inhaftierung ohne weitere Voraussetzungen an der deutsch-österreichischen Grenze nach einer Zurückweisungsentscheidung ist schon deshalb nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes rechtswidrig.
Der Auslegung des EuGH liegt der Gedanken des gemeinsamen Schengen-Raumes zugrunde. Dass damit die europarechtswidrige deutsche Binnengrenzkontrollpraxis „ad absurdum“ geführt wird (siehe dazu weiterführend auch hier), ist aus europarechtlicher und europäischer Sicht eher zu begrüßen als zu bedauern. Es wird damit auch das europarechtliche Prinzip gestärkt, dass die Freiheit generell nur dann entzogen werden darf, wenn die Freiheitsentziehung verhältnismäßig ist und kein milderes Mittel besteht. Die Freiheitsentziehung, die lediglich der administrativen Erleichterung des Ablaufs von Verwaltungsverfahren dient, ist eben immer europarechtswidrig.
Es war gerade der Befund, dass asylsuchender Personen in Europa oft rechtswidrig inhaftiert werden (vgl. Evaluierungsbericht der EU-Kommission zur Aufnahmerichtlinie, insbes. S. 8, und Evaluierungsbericht zur Dublin-Verordnung, insbes. S. 9 beide aus dem Jahr 2007), der die EU-Kommission dazu bewogen hat, in beiden Neuvorschlägen die Inhaftierungsmöglichkeiten stark zu beschränken und klar zu definieren, dass eine Freiheitsentziehung nur als „letztes Mittel“ in Frage kommt. Schon aus diesem Grund müssen die in beiden Rechtsakten genannten Haftvoraussetzungen restriktiv ausgelegt werden und können eine Haft an den Binnengrenzen ohne weitere Voraussetzungen und ohne eine Einzelfallprüfung keinesfalls rechtfertigen.