01 December 2023

Im staatsorganisationsrechtlichen Reallabor

Was passiert nach einer gescheiterten Vertrauensfrage in Thüringen?

Nicht nur auf Bundesebene gibt es Streit ums Geld. Im Vorfeld der Haushaltsberatungen in Thüringen werden nun Gedankenspiele laut, die Verabschiedung des Haushalts mit der Vertrauensfrage zu verknüpfen, um eine Mehrheitsentscheidung zu erzwingen. Spätestens wenn CDU, FDP und AfD gegen die Stimmen der Minderheitsregierung einen Gegenhaushalt durchsetzen, würde sich Ministerpräsident Ramelow wohl genötigt sehen, die Vertrauensfrage zu stellen. So ließe sich die Wahlperiode vorzeitig beendigen und Neuwahlen herbeiführen – zumindest, wenn man der Ansicht einiger Autoren folgt, die die Vorschriften der Thüringer Verfassung für den Fall einer gescheiterten Vertrauensfrage einschränkend auslegen. Einer teleologischen Reduktion des eindeutigen Verfassungswortlauts bedarf es indes nicht. Politische Desiderate dürfen nicht zum Verbiegen der Verfassung führen.

Vertrauensfrage und Landtags-Neuwahl im Thüringer Verfassungsrecht

Anders als das Grundgesetz sieht Artikel 50 Abs. 2 Nr. 1 der Thüringer Verfassung, wie viele andere Landesverfassungen, vor, dass der Landtag mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder seine Auflösung beschließen kann. Eine zweite Möglichkeit ist die Parlamentsauflösung nach einer gescheiterten Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten. Diese Option kennt auch das Grundgesetz, hingegen aber nur wenige andere Landesverfassungen. In Artikel 50 Abs. 2 Nr. 2 der Thüringer Verfassung heißt es dazu:

„Die Neuwahl wird vorzeitig durchgeführt (…) wenn nach einem erfolglosen Vertrauensantrag des Ministerpräsidenten der Landtag nicht innerhalb von drei Wochen nach der Beschlussfassung über den Vertrauensantrag einen neuen Ministerpräsidenten gewählt hat.“

Weder hier noch in Artikel 74 der Thüringer Verfassung, der sich spezifisch mit der Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten befasst, findet sich ein bestimmtes Quorum für diese Ministerpräsidentennachwahl. Stattdessen bestimmt er lediglich eine dreitägige Karenzzeit zwischen Antrag und Abstimmung sowie das Quorum der absoluten Mehrheit des Parlaments, die notwendig ist, um dem Ministerpräsidenten das Vertrauen auszusprechen.

Einzig Artikel 70 Abs. 3 der Verfassung äußert sich – abseits vom konstruktiven Misstrauensvotum – zur Wahl des Ministerpräsidenten. Nach der Thüringer Verfassung ist zum Ministerpräsidenten gewählt, wer die Mehrheit der Stimmen des Landtags auf sich vereinen kann. Diese sogenannte „Kanzlermehrheit“ ist der Regelfall in der Bundes- und in den Landesverfassungen zumindest für den ersten Wahlgang. Auch für einen möglichen zweiten Wahlgang fordert die Thüringer Verfassung diese Mehrheit. Im dritten Wahlgang hingegen soll gewählt sein „wer … die meisten Stimmen erhält“. Wir erinnern uns: Nach der Landtagswahl 2014 und der knappen Mehrheit der Regierungskoalition befürchtete man einen dritten Wahlgang, in dem der damalige Kandidat Ramelow erheblicher Ablehnung gegenüberstehen könnte. Der darum entbrannte Streit,1) ob in diesem Wahlgang schlicht eine relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreiche oder ob man die Bestimmung als „mehr Ja- als-Nein-Stimmen“ lesen müsse, ist nicht Gegenstand dieser Betrachtung. Stattdessen befürchten nun einige Autoren,2) dass der dritte Wahlgang mit seiner Meiststimmenregelung dazu führt, dass sich der Landtag nach einer gescheiterten Vertrauensfrage nicht gem. Art. 50 Abs. 2 Nr. 2 ThürVerf auflösen kann, weil schon mit nur einer Ja-Stimme ein Kandidat zum nächsten Ministerpräsidenten gewählt werden kann, der politisch mindestens ebenso instabil ist. Bedarf es also einer teleologischen Reduktion des Artikel 70 Abs. 3 S. 3 ThürVerf?

Schließlich würde, so argumentieren die Befürworter dieser Verfassungsauslegung, genau dieses Verfahren den Zweck des Artikel 50 konterkarieren, eine Regierungskrise zu bewältigen, indem es zu Neuwahlen kommt. Ferner erforderten auch das Misstrauensvotum nach Artikel 73 – die andere Form der Abwahl des Regierungschefs – sowie der positive Ausspruch des Vertrauens in Artikel 74 eine absolute Mehrheit. Ein besonderer Wertungswiderspruch werde zudem dann deutlich, wenn eine mit einer Vertrauensfrage gescheiterte Regierung über die reguläre Wahl im dritten Wahlgang erneut als Minderheitsregierung ins Amt gewählt werden würde.

Eine gescheiterte Vertrauensfrage kann eine neue Minderheitsregierung hervorbringen

Die Anwendung des regulären Wahlverfahrens bei der gescheiterten Vertrauensfrage führt indes nicht zu einem Wertungswiderspruch. Die Thüringer Verfassung ist wie die anderen Landesverfassungen und das Grundgesetz darauf angelegt, dass sich Regierungen bilden können. Dementsprechend ist die Auflösung des Parlaments, ob durch eigenen Beschluss oder infolge einer verlorenen Vertrauensfrage, regelmäßig an hohe Voraussetzungen geknüpft. Die Möglichkeit mancher Verfassungen, mit der gescheiterten Regierungsbildung oder Vertrauensfrage das Parlament aufzulösen, wirkt insbesondere dadurch, dass sie äußerst selten zur Anwendung kommt: Die Option der Auflösung, mit der möglicherweise der Verlust des eigenen Mandats einhergeht, soll die Parlamentarier disziplinieren, durch Parlamentsbeschluss einen Regierungschef hervorzubringen oder zu bestätigen.

Natürlich entspricht eine Minderheitsregierung nicht dem Idealbild einer von einer Parlamentsmehrheit getragenen und ins Amt gewählten Regierung, die in der Wahrnehmung ihrer staatsleitenden, also tatsächlich regierenden Funktion, nicht unwesentlich beeinträchtigt ist. Eine Minderheitsregierung kann nicht mittels einer Parlamentsmehrheit „durchregieren“, sondern ist für jedes einzelne Projekt darauf angewiesen, eine Mehrheit zu beschaffen. Dies geht bisweilen mit stärkeren Zugeständnissen an und Kompromissen mit der politischen Opposition einher, als es wohl unter einer Mehrheitsregierung der Fall wäre. Parlamentarischen Systemen wie in Deutschland im Bund und in den Ländern, in denen die Regierung aus dem Parlament hervorgeht, ist es eigen, dass die regierungstragenden (Mehrheits-)Fraktionen im Parlament die Gesetzesvorhaben der Regierung beschließen. Statt Parlament und Regierung stehen sich in Wahrheit somit die regierungstragende parlamentarische Mehrheit und eine (Minderheiten-)Opposition gegenüber.

Das „parlamentarische Vertrauen“ gegenüber der Regierung ist zudem nur im politischen Sinne graduell abgestuft, nicht aber im staatsrechtlichen. Der Regierungschef einer Minderheitsregierung verfügt über die gleichen Kompetenzen wie ein durch die (absolute) Mehrheit des Parlaments gewählter. Er genießt das Vertrauen des aktuellen Parlaments, dass ihm auf Initiative des Parlaments nur durch die Wahl eines anderen Regierungschefs entzogen werden kann. Dass dafür regelmäßig die absolute Mehrheit nötig ist, verdeutlicht die auf Regierungskontinuität und -stabilität angelegte Wertung der Verfassung, ohne dass sie einer gewählten Minderheitsregierung einen niederen Rang oder eine geminderte Legitimation zuwiese. Wenn umgekehrt aber die Verfassung auch eine nur von einer Minderheit des Parlaments ins Amt gewählten Regierung zulässt, ist nicht ersichtlich, warum dies nicht im Fortgang der Legislaturperiode möglich sein soll, wenn der amtierende Ministerpräsident das vom Parlament initial gegebene Vertrauen seinerseits zur Abstimmung stellt. Den Artikel 70 Abs. 3 darauf zu reduzieren, dass der Landtag einen neuen Ministerpräsidenten nur mit absoluter Mehrheit wählen kann, würde schließlich nicht notwendigerweise stabilere politische Verhältnisse hervorbringen: Die bei Verfehlen dieser Mehrheit zwingend durchzuführende Neuwahl würde nicht automatisch zu einer anderen (stabileren) Mandatsverteilung als im bestehenden Parlament führen – schlimmstenfalls könnten sogar demokratiefeindliche Kräfte gestärkt hervorgehen. Hingegen würde die neu durchzuführende Wahl Ressourcen binden und die parlamentarische Arbeit auch vor dem Hintergrund parlamentarischer Diskontinuität beeinträchtigen.

Der Verweis auf andere Landesverfassungen, die für die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten nach gescheiterter Vertrauensfrage eine absolute Mehrheit fordern, um die Auflösung und Neuwahl abzuwenden, trägt ebenfalls nicht. Zum einen ist dort anders als in Thüringen die absolute Mehrheit explizit erwähnt. Mit Hamburg, Hessen, dem Saarland und Schleswig-Holstein finden sich darunter auch Verfassungen, die der Thüringer Verfassungsgesetzgeber vor gut dreißig Jahren vor Augen haben musste. Es fehlt mithin schon an der für eine teleologische Reduktion notwendigen Regelungslücke. Zudem folgen Vertrauensfrage und (mögliche) Parlamentsauflösung im Detail für die jeweilige Verfassung ganz eigenen Regeln.

Daneben gründet die vorgeschlagene teleologische Reduktion auf einem, zugegeben auch durch das Bundesverfassungsgericht statuierten, negativ konnotierten Bild der Minderheitsregierung, das diese als Ausnahme- oder gar Krisenfall charakterisiert. Gewiss ist die Mehrheitsregierung der staatsrechtliche Idealzustand. Die Minderheitsregierung ist im auf Regierungsbildung angelegten System indes ebenso vorgesehen. Das Verhältniswahlrecht bedingt eine durch Sperrklauseln nur zum Teil eingehegte parteipolitische Diversifizierung des Parlaments, die schlicht dazu führen kann, dass tradierte Koalitionsregierungen keine Mehrheiten mehr erringen. Auch wenn es gubernative Schwierigkeiten mit sich bringen mag, ändert sich im Fall einer Minderheitenregierung die realpolitische Ausprägung des parlamentarischen Systems lediglich dahingehend, dass der aus der Praxis bekannte und gewohnte Dualismus von Parlamentsmehrheit und Parlamentsminderheit in ein Gegenüber von Parlament und Regierung umschlägt. Parlamentarische Gesetzgebung wäre damit wieder ein – gewiss mühseligerer – Prozess der Kompromissfindung zwischen den Parteien über die Regierungskoalition hinweg, aber eben vom Parlament verhandelte Kompromisse. Unter Gesichtspunkten der Gewaltenteilung und demokratischen Repräsentation ist dies keine schlechte Vorstellung.

Es bestehen auch keine Friktionen mit dem Selbstauflösungsrecht des Landtags, das ein hohes Quorum von zwei Dritteln kennzeichnet. Nur bei einem breiten Konsens der Parteien wird sich eine entsprechende Mehrheit für die Selbstauflösung finden, deren Zustimmung zumindest auf der Annahme beruht, bei den anstehenden Neuwahlen mindestens genauso gut abzuschneiden wie bei den vorherigen. Drohender Mandatsverlust muss in der Regel zur Verweigerung der Selbstauflösung führen. Ebendieser Verlust von Stimmanteilen wird die Parlamentarier leiten, einer Regierung bei einer gestellten Vertrauensfrage das grundsätzliche Vertrauen auszusprechen oder durch eine neue Regierungskoalition zumindest einen neuen Minderheiten-Ministerpräsidenten ins Amt zu heben. Zwar erfragt der Ministerpräsident nach der Wertung des Artikel 74 das von der Mehrheit der Abgeordneten gegebene Vertrauen. Es ist aber nicht ersichtlich, warum in letzter Konsequenz nicht ausreichen soll, das von einer Minderheit ausgesprochene Vertrauen, das bei einem Minderheiten-Regierungschef zur Wahl geführt hat, erneut zu geben.

Haushaltsverhandlungen 2024 und das Spiel mit dem Feuer

Im Ergebnis bedarf es also keiner einschränkenden Auslegung für die Wahl eines Ministerpräsidenten nach verlorener Vertrauensfrage. Dass die politische Wirklichkeit aber bisweilen zu unvorhersehbaren Ergebnissen führen kann, ist spätestens seit der kurzzeitigen Ministerpräsidentschaft von Thomas Kemmerich offensichtlich. Der Freistaat Thüringen erscheint seither als staatsorganisationsrechtliches Reallabor. Sollten die anstehenden Haushaltsverhandlungen scheitern und der amtierende Ministerpräsident den Fortbestand seiner Regierung daran knüpfen, könnte leicht eine kritische Situation entstehen. Denn zunächst würde die Landtagspräsidentin darüber entscheiden, ob ein weiterer Wahlgang notwendig wäre, wenn im ersten die absolute Mehrheit für einen (neuen) Ministerpräsidenten vorhersehbar verfehlt wird. Rechtssicherheit könnte dann, so kürzlich der Präsident des Thüringer Verfassungsgerichtshofs, Klaus von der Weiden, nur durch einen Spruch des zuständigen Gerichts herbeigeführt werden – wenn es denn mit der Sache (ggf. im Eilrechtschutz) befasst wird. Ob man ein solches Wagnis durch ein Scheitern der Haushaltsverhandlungen eingehen möchte, sollten sich alle Beteiligten vor dem Hintergrund der derzeitigen Umfragewerte kritisch fragen.

References

References
1 Die zwei dazu eingeholten Gutachten wurden veröffentlicht als Morlok/Kalb, Die Wahl des Ministerpräsidenten nach Art. 70 Abs. 3 ThürVerf, ThürVBl. 2014, 153, und Zeh, Anforderungen der Verfassung des Freistaats Thüringen an die Wahl des Ministerpräsidenten durch den Landtag, ThürVBl. 2014, 161.
2 Dietze/Schleicher, Die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten nach gescheiterter Vertrauensfrage, ThürVBl. 2022, 278; Dette, in Brenner et al. (Hrsg.), Verfassung des Freistaats Thüringen, 2. Aufl. 2023, Artikel 50 Rn. 23 ff.; Dressel, in Dressel/Poschmann (Hrsg.), Kommentar zur Thüringer Verfassung, i.E., Artikel 50 Rn. 31.

SUGGESTED CITATION  Böttner, Robert: Im staatsorganisationsrechtlichen Reallabor: Was passiert nach einer gescheiterten Vertrauensfrage in Thüringen?, VerfBlog, 2023/12/01, https://verfassungsblog.de/im-staatorganisationsrechtlichen-reallabor/, DOI: 10.59704/cd7dd4b60f29628c.

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