In eigener Sache: Verfassungsblog und Rechtswissenschaft im (medialen) Wandel
Wie alles begann
Fast zwei Jahre sind nun vergangen, seit wir im November 2011 die Kooperation des Verfassungsblogs mit Recht im Kontext begonnen haben. Wir waren gespannt auf die neuen Gesprächs- und Lernräume, die neuen Möglichkeiten des Streits und der Selbstvergewisserung, die wir uns von der virtuellen Öffentlichkeit im Netz erhofften. Würde sich auf dem Verfassungsblog neu und anders über die Verfassung und die Politik diskutieren lassen? Über die Konstitution Europas und die Zukunft unserer Verfassung? Über Welt und Recht? Würden Wissenschaftler und Praktiker, Politiker und Professoren, Menschen unterschiedlicher Disziplinen und Rechtskulturen ins Gespräch über aktuelle Probleme des demokratischen Rechtsstaats eintreten? Über Grundlagen und Kontexte des Rechts?
Wo wir stehen
Wir wurden nicht enttäuscht. Im Gegenteil. Die eben noch so zögerliche Rechtswissenschaft (zumal die traditionsbewussten Staatsrechtslehrer) mischte bald kräftig mit, wenn es um die Schuldenkrise, die Beschneidungsdebatte oder die Zukunft Europas ging. Professoren und Studierende, Assistentinnen und MPI-Direktoren teilten ihre Beobachtungen und Argumente, protokollierten Verhandlungen vor dem US Supreme Court und Debatten im Europäischen Parlament, analysierten die ungarische Verfassung und die EU-Verträge, stritten und versöhnten sich, korrigierten Positionen und tauschten Argumente.
Der Verfassungsblog wird beobachtet und zitiert. Als Diskursraum verbindet er Wissenschaft und Praxis, macht der politischen Öffentlichkeit die Expertise der Wissenschaft zugänglich und verschafft dieser umgekehrt öffentliche Resonanz, integriert unterschiedliche akademische Statusgruppen, verknüpft wissenschaftliche Teilöffentlichkeiten und überwindet disziplinäre wie sprachliche und (rechts-)kulturelle Grenzen. Manchmal ist er im deutschsprachigen juristischen und verfassungspolitischen Diskurs debattenprägend. Die Symposien „Rettungsschirm für Grundrechte“ (in Kooperation mit dem MPI für Völkerrecht in Heidelberg), „Die rechtlichen Haken der Fiskalunion“, „Die Beschneidungsdebatte“ und „Europe 2023 – An Educated Guess“ (sämtlich als „Schwerpunkte“ auf dem Blog nachzulesen) werden inzwischen in wissenschaftlichen Aufsätzenund politischen Streitschriftenzitiert. Immer wieder werden wir gebeten, über unsere Erfahrungen mit dem Blog und dem Bloggen zu berichten und langsam hinzukommende weitere Projekte virtueller Kommunikation im juristischen Feld beratend zu begleiten.
Wir haben begonnen, Beiträge gezielt zweisprachig zu veröffentlichen – Schritte zur angestrebten reflexiven Mehrsprachigkeit, die wir im Rahmen des Forschungsvorhabens systematisch ausbauen wollen. Das soll einerseits durch Übersetzung geschehen, aber auch durch maßgeschneiderte Unterstützung von Autorinnen und Autoren, die in ihrer Kompetenz zu mehrsprachiger Publikation gestärkt werden sollen (z.B. durch Fachlektorat eines Muttersprachlers).
Was sich ändert
Was geschieht, wenn Juristen verfassungsrechtlich bloggen? Diese Frage beschäftigt uns inzwischen seit fast einem Jahrzehnt. Sie stand auch am Anfang unserer Kooperation. Ihr wollen wir systematisch nachgehen, in einem Prozess teilnehmender Beobachtung. Bislang fehlte es uns jedoch an personellen und finanziellen Ressourcen, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen und das unerwartet dynamische Experiment Verfassungsblog strategisch weiterzuentwickeln und wissenschaftlich zu begleiten. Das ändert sich jetzt: Der Verfassungsblog wird zum kommunikativen Versuchslabor des Forschungsprojekts „Verfassungsblog: Perspektiven der Wissenschaftskommunikation in der Rechtswissenschaft“. Eine Förderung der Humboldt-Universität aus Mitteln der Exzellenzinitiative erlaubt uns, bis zum Sommer 2015 genauer herauszufinden, was es mit unserem Blog und dem Verfassungsbloggen auf sich hat.
Für unsere Leser und Autoren ändert sich damit auf den ersten Blick nichts. Natürlich soll der Verfassungsblog noch besser, schöner und interessanter werden. Bunter und zugleich übersichtlicher. Ein Ort klarer Worte und forcierter Mehrsprachigkeit. Hinter den Kulissen ändert sich aber doch etwas: Wir wollen Öffentlichkeit und Forschung nicht nur ermöglichen, sondern diese Ermöglichung auch kritisch-reflexiv beobachten, beschreiben und analysieren.
Diese fortlaufende Reflexion aus juristischer und ethnographischer Perspektive wird von zwei wissenschaftlich Mitarbeitenden in der Qualifikationsphase getragen, die die Analyse der empirischen Erträge koordinieren, die Dokumentation der Ergebnisse des Forschungsvorhabens vorbereiten und bei Interesse und Begabung auch an der Gestaltung des Blogs mitwirken. Eine an Rechtswissenschaft und Rechtsforschenden interessierte Ethnologin haben wir bereits gewonnen. Einen Juristen oder eine Juristin mit eigenen Forschungsinteressen im Bereich der rechtswissenschaftlichen Kommunikation am Schnittpunkt von Recht, Politik und Öffentlichkeit suchen wird derzeit noch.
Als Forschungsprojekt wird der Verfassungsblog künftig einen realen Ort in der akademischen Welt haben. In der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin ist die kleine Geschäftsstelle zuhause, die künftig auch vor Ort Begegnungen mit unseren Autoren und Lesern und eine aktive Präsenz im Universitätsalltag ermöglichen wird.
Worum es geht
Kernanliegen des Forschungsprojekts ist es, in exemplarischer Weise in der elektronischen Publikationsform des Verfassungsblogs die Möglichkeiten und Grenzen eines rechtswissenschaftlichen Diskurses zu erproben und zu reflektieren, der vom deutschen und europäischen Verfassungsrecht ausgeht und dieses als Kernthema verhandelt, dabei Disziplinen verbindet und nationale Grenzen überschreitet. Ist das Medium des wissenschaftlichen Blogs geeignet, die intra- und interdisziplinäre Kommunikation im Bereich der Rechtswissenschaft und ihrer geistes- und sozialwissenschaftlichen „Nachbarwissenschaften“ zu verbessern? Wenn ja, wie? Lässt sich auf diesem Weg Wissensaneignung mit Reflexionskompetenz und Kritikfähigkeit verbinden und eine eng an die deutsche Sprache gebundene Disziplin dem mehrsprachigen transnationalen Austausch öffnen? Auf diese Fragen suchen wir mit unserem Projekt eine Antwort.
Wir nehmen damit auch die Empfehlungen des Wissenschaftsrates vom 9. November 2012 auf, von denen bereits jetzt starke Impulse zur Weiterentwicklung der Rechtswissenschaft als akademische Disziplin ausgehen. Darin heißt es unter anderem, dass elektronische Publikationsformen auch für die internationale Sichtbarkeit der deutschen Rechtswissenschaft immer wichtiger würden. Hier knüpfen unsere Fragen an: Inwieweit ist die Publikationsform des wissenschaftlichen Blogs dazu geeignet, den Kommunikationsraum deutschsprachiger Rechtswissenschaft nicht nur zu erweitern, sondern auch zu vertiefen? Welche Formate und Textsorten können die Konturen des Diskurses schärfen und zu größerer Vielfalt und gesteigerter Qualität beitragen?
Der Verfassungsblog und andere neue virtuelle Kommunikationsformen können und sollen klassische Publikationsformate nicht ersetzen. Vielmehr muss es darum gehen, „mit Hilfe des Netzes netzunabhängige Inhalte zu schaffen.“ Ein lebhafter und anspruchsvoller Diskurs hilft eine Publikationspraxis zu kultivieren, mit der die Rechtswissenschaft ihren Ansprüchen an Originalität, Relevanz sowie gedankliche Eigenständigkeit in der Erkenntnisproduktion gerecht werden kann. Forschung braucht Orte intensiver, kontroverser und gründlicher Auseinandersetzungen und Debatten, damit sie auch selbst ein solcher sein kann. Hier sehen wir eine der zentralen Aufgaben des Verfassungsblogs, die wir nicht nur wahrnehmen, sondern auch auf ein wissenschaftlich tragfähiges konzeptionelles Fundament stellen wollen. Dazu bietet uns die Förderung durch die Humboldt-Universität nun die Möglichkeit, und darüber sind wir sehr froh.
Wie kommen Sie zu der Feststellung, dass von den Empfehlungen des Wissenschaftsrats vom 9. November 2012 “bereits jetzt starke Impulse zur Weiterentwicklung der Rechtswissenschaft als akademische Disziplin ausgehen”?? Aus Gesprächen mit “Betroffenen” gewinnt man eher den Eindruck, dass diese Empfehlungen als vollständig irrelevant betrachtet werden.