In Vielfalt geeinte Grundrechte
Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten Recht auf Vergessen sind bahnbrechende Weichenstellungen, die uns noch lange beschäftigen werden. Im Rahmen dieser ersten Einordnung möchte ich mich auf diejenigen Aspekte konzentrieren, die das Verhältnis zwischen den Unionsgrundrechten und den Grundrechten des Grundgesetzes betreffen. Der Sensationswert der Entscheidungen liegt nämlich darin, dass dieses auf völlig neue Gleise gestellt wird. Dafür eignen sich die beiden Fälle in der Zusammenschau deswegen, weil in dem einen das EU-Recht eine abschließende Regelung trifft, die Grundrechte des Grundgesetzes vollständig verdrängt (1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II), und in dem anderen das Unionsrecht zwar die Basis für eine mitgliedstaatliche Regelung ist, dem deutschen Gesetzgeber aber substantielle Handlungsspielräume verbleiben und dementsprechend auch die Grundrechte des Grundgesetzes uneingeschränkt anwendbar sind (1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I). Das Gericht spricht insoweit von „vollständig vereinheitlichtem“ und „gestaltungsoffenem“ Unionsrecht (Recht auf Vergessen II, Rn. 77).
Dogmatische Ausgangslage
Bisher wählte das Bundesverfassungsgericht in diesen beiden Grundkonstellationen völlig unterschiedliche Ansätze: Im Bereich des vollständig vereinheitlichten Unionsrechts hielt das Bundesverfassungsgericht Richtervorlagen im Rahmen der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) und Verfassungsbeschwerden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) seit dem sogenannten Bananenmarkt-Beschluss des Ersten Senats aus dem Jahr 2000 für unzulässig, wenn nicht mindestens in Dissertations-, eher in Habilitationsstärke Tatsachen und Argumente vorgelegt werden, die es nahelegen, dass der Grundrechtsstandard auf der EU-Ebene systematisch hinter den Stand des Solange II-Beschlusses (also Mitte der 80er) zurückgefallen ist. Das war immer schon so gut wie aussichtslos und spätestens mit Inkrafttreten der Grundrechte-Charta 2009 und dem neuen Grundrechtsimpetus am EuGH völlig unrealistisch. Deshalb machte der Zweite Senat 2015 die Tür wieder ein Stück weit auf, indem er die sogenannte Identitätskontrolle explizit in den Bereich des Grundrechtsschutzes ausdehnte. Seither ist es auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG möglich, die Verletzung der Menschenwürde – genauer: des Menschenwürdekerns der spezielleren Grundrechte – auch im Einzelfall als verletzt zu rügen und somit unabhängig von systematischen Schutzniveauvergleichen Rechtsschutz zu erlangen. Freilich ist das eine extrem hohe Hürde, da ein allzu freigiebiger Umgang mit der Menschenwürde deren besonderen Status relativieren und damit auf lange Sicht auch dessen Absicherung durch die Ewigkeitsgarantie schwächen würde. In den weitaus meisten Fällen – gerade auch in rein wirtschaftlich gelagerten Sachverhalten wie in der Fallkonstellation des Bananenmarktbeschlusses – würde dieses Schwert also stumpf bleiben, d.h. das Bundesverfassungsgericht hätte insoweit bis auf Variationen auf der Skala zwischen Mahnungen und Drohungen nur noch wenig zu sagen.
Anders ist die Ausgangslage in solchen Konstellationen, in denen das EU-Recht eher weiche Vorgaben macht, also im Spektrum zwischen Teilharmonisierungen (wie etwa bei der Vorratsdatenspeicherung) und eher diffusen Anknüpfungspunkten an das EU-Recht durch allgemein gehaltene Handlungspflichten (wie etwa im Fall Åkerberg Fransson die Pflicht der Mitgliedstaaten, Betrug und Steuerhinterziehung im Bereich der Mehrwertsteuer unter Strafe zu stellen, u.a. weil Teile des Aufkommens in den EU-Haushalt fließen). Hier vertrat das Bundesverfassungsgericht bisher die sog. Trennungs- oder Alternativitätsthese, d.h. es forderte vom EuGH, Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh so auszulegen, dass immer nur entweder die Charta oder die nationalen Grundrechte anwendbar seien. Der Höhepunkt dieser Abwehrhaltung war das Urteil des Ersten Senats zur Anti-Terror-Datei vom 24.4.2013 (dort Rn. 91), in dem er sich zu der Aussage verstieg, Fachgerichte, die dem EuGH Vorlagen zur Auslegung der Grundrechte-Charta außerhalb des Verdrängungsbereichs unterbreiteten, verletzten das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG – quasi in einer negativen Deutung als Grundrecht darauf, dass kein unzuständiges Gericht mit einer Rechtssache befasst werden dürfe. Dieses Postulat war angesichts der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des EuGH auf verlorenem Posten, wenn man keine Institutionenkrise zwischen Karlsruhe und Luxemburg heraufbeschwören wollte.
Neuausrichtung
Mit den Beschlüssen zum Recht auf Vergessen nimmt das Bundesverfassungsgericht Abschied von Grundpfeilern seiner Rechtsprechung in beiden Bereichen und geht eine Art Handel ein: Es tauscht mehr Einfluss im vollständig vereinheitlichten gegen mehr Toleranz im gestaltungsoffenen Bereich.
Im vollständig vereinheitlichten Bereich
Den größeren Innovationsgrad weist insoweit sicherlich der Beschluss 1 BvR 276/17 (Recht auf Vergessen II) auf. Der Erste Senat gibt seine Praxis, Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen wegen der Verdrängung der deutschen Grundrechte als unzulässig abzuweisen und zieht stattdessen die Grundrechtecharta selbst als Prüfungsmaßstab heran. Dazu braucht er – vorsichtig ausgedrückt – eine Dehnung der rechtlichen Grundlagen für seine Tätigkeit: Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG spricht davon, dass eine Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung erhoben werden könne, man sei „durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt“. Art. 100 Abs. 1 GG macht es zur Voraussetzung einer Richtervorlage, dass „ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig“ hält. Bisher galt es als unumstritten, dass mit Grundrechten im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG ausschließlich Abschnitt I des Grundgesetzes, also Art. 1-19 GG, gemeint ist, da dieser „Die Grundrechte“ heißt und auch die Aufzählung der anderen, dementsprechend als „grundrechtsgleich“ bezeichneten Rechte systematisch einen reinen Binnenverweis nahelegt. Ebenso galt es als gesichert, dass Verfassungswidrigkeit im Kontext des Art. 100 Abs. 1 GG – Reichsbürger müssen jetzt stark sein – ausschließlich den Verstoß gegen eine oder mehrere Normen des Grundgesetzes meint.
Damit ist es nun vorbei, da das Bundesverfassungsgericht einen Trumpf auspackt, der ähnlich mühelos über scheinbar eindeutige Auslegungsergebnisse und ständige Rechtsprechung hinweghilft, wie man es sonst nur vom effet utile (Art. 4 Abs. 3 EUV) auf EU-Ebene kennt: die Integrationsverantwortung aus Art. 23 Abs. 1 GG. Die ist eigentlich eine alte Bekannte aus dem Lissabon-Urteil und wurde dort vom Gericht in Leitsatz 2 so definiert, dass „neben der Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften eine besondere Verantwortung im Rahmen der Mitwirkung [obliegt], die in Deutschland innerstaatlich den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG genügen muss“. So schnell geht’s, jetzt liegt sie auch bei der dritten Gewalt in Karlsruhe (Rn. 245 des Lissabon-Urteils ist insoweit biegsamer als Leitsatz 2) und vollführt dort wahre Mirakel: „Grundrechte“ im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG sind jetzt auch die Grundrechte der Grundrechtecharta, und „verfassungswidrig“ im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG kann eine Norm auch dann sein, wenn sie gegen Unionsgrundrechte verstößt.
Karlsruhe ist also zurück im Spiel, kann sich mit Fällen beschäftigen, die bisher tabu waren, und kann zwischen den Fachgerichten und dem EuGH zu einer Drehscheibe für mehr Grundrechtsschutz werden. Das hilft dem Individuum vor allem in einer nicht so seltenen Konstellation: Wenn die Fachgerichte im vollständig vereinheitlichten Bereich bisher keine Grundrechtsverletzung sahen und den Fall dementsprechend dem EuGH nicht vorlegten, ließ sich eine Verfassungsbeschwerde nur auf den Entzug des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) stützen. Diese Möglichkeit soll zwar erhalten bleiben (Recht auf Vergessen II, Rn. 74 f.), wird aber in ihrer Bedeutung stark abnehmen bzw. im Bereich des Grundrechtsschutzes ganz verdrängt werden. Denn ab sofort kann das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen der Fachgerichte selbst wieder aufheben, wenn es ein Charta-Grundrecht für verletzt hält, und muss nicht auf die über die Jahre und zwischen den Senaten auch immer wieder umstrittene Frage ausweichen, ob es denn unvertretbar gewesen sei, den EuGH nicht im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens einzuschalten. Es gibt also wieder Brot statt Steine mit einem echten Rechtsbehelf, der auf Grundrechtsfragen zugeschnitten ist.
Auch die Grundrechte-Charta selbst wird gestärkt, denn in Zukunft werden sich Ausbildung und Rechtspraxis zunehmend auf die Feinheiten der Charta einstellen müssen. In den Worten des Senats (Rn. 71): „Zwar mögen sich der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes und derjenige der Charta oftmals decken und Auslegungsgrundsätze von einer Ordnung auf die andere übertragbar sein. Jedoch ist in Blick auf die Einheit des Unionsrechts hier Vorsicht geboten. Grundsätzlich muss die Auslegung unmittelbar an den Grundrechten der Charta selbst und der Rechtsprechung der europäischen Gerichte ansetzen und ist rückgebunden an das Grundrechtsverständnis in den Mitgliedstaaten der Union insgesamt.“ Wenn ein Gericht in diesem Bereich schlampig arbeitet, wird seine Entscheidung also zukünftig in Karlsruhe aufgehoben; man kann sich nicht mehr drücken, indem man den Fall einfach nicht vorlegt. Dies wird die Charta sichtbarer und auch außerhalb der Europarechts-Community präsenter machen.
Eine weitere Gewinnerin kann die Grundrechtsdogmatik deutscher Prägung sein, denn das Bundesverfassungsgericht hat sich – ganz im Geiste des Kooperationsverhältnisses – selbstverständlich zum Verwerfungsmonopol des EuGH bekannt und betrachtet sich sogar (neben den letztinstanzlichen Fachgerichten) als verpflichtet, neben Fragen nach der Gültigkeit unionsrechtlicher Normen auch ungeklärte Auslegungsfragen nach Luxemburg weiterzureichen. Dies bedeutet natürlich, dass solche Fälle den EuGH in der Form von Vorlagebeschlüssen erreichen, die sich im Maßstabsteil im Wesentlichen wie sonstige Urteile und Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts in Grundrechtsangelegenheiten lesen werden. Lediglich die Hausnummern und die Anlässe für dogmatische Exegesen werden sich ändern. Dies wird sich sicherlich auch in den Entscheidungen des EuGH bemerkbar machen, die auf solche Vorlagen folgen, denn er muss auf die Argumente aus Karlsruhe ja – egal, ob zustimmend oder ablehnend – reagieren. Dabei hilft es sicherlich, dass wesentliche Weichenstellungen in der Charta – allen voran der zentrale Art. 52 Abs. 1 GRCh – sehr nahe am deutschen Grundrechtsdenken sind.
Im gestaltungsoffenen Bereich
Weniger spektakulär, aber auch eine wichtige Entwicklung ist die Aufgabe der Trennungs- bzw. Alternativitätsthese im gestaltungsoffenen Bereich, den der Beschluss 1 BvR 16/13 (Recht auf Vergessen I) abdeckt. Der Erste Senat postuliert zwar, die Grundrechtsbindung sei „ein Korollar der politischen Entscheidungsverantwortung, entspricht also der jeweiligen legislativen und exekutiven Verantwortung“ (Recht auf Vergessen I, Rn. 42). Er erkennt aber ausdrücklich an, dass „daneben im Einzelfall auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Geltung beanspruchen kann“ (Rn. 43). Vielmehr schraubt er seine Kritik an der als expansiv empfundenen Rechtsprechung des EuGH auf die Forderung zurück, dass das Unionsrecht der Gestaltung durch die Mitgliedstaaten „einen hinreichend gehaltvollen Rahmen setzt, der erkennbar auch unter Beachtung der Unionsgrundrechte konkretisiert werden soll“ (Rn. 44). Das birgt zwar immer noch Konfliktpotential, etwa im Hinblick auf Konstellationen wie im Fall Åkerberg Fransson, zeugt aber von Augenmaß und ist mit einem subsumtionsfähigen Maßstab verbunden. Letztlich kommt es dem Senat darauf jedoch auch deshalb nicht mehr so stark an, weil sich sein Augenmerk stärker auf die inhaltliche Gestaltungsoffenheit und die Vielfalt der Grundrechtstraditionen richtet (Rn. 50 ff.). Insbesondere erinnert er zu Recht an den Fall Omega Spielhallen und die Anleihen, die der EuGH beim EGMR im Hinblick auf die Gewährung einer „margin of appreciation“ nahm (Rn. 54), und beschwört die Idee „einer übergreifenden Verbundenheit des Grundgesetzes und der Charta in einer gemeinsamen europäischen Grundrechtstradition“ (Rn. 56), auch und gerade unter Einbezug des „gemeinsamen Fundaments in der Europäischen Menschenrechtskonvention“ (Rn. 59). Dementsprechend kann nicht nur die EMRK (vgl. die Görgülü-Entscheidung), sondern auch die Charta in Zukunft als Erkenntnisquelle für die Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes dienen (Rn. 60).
Das bedeutet letztlich: Zahlen und Namen sind Schall und Rauch. Die verbissenen Kämpfe um exklusive Anwendungsbereiche dieser und jener Grundrechtskataloge gehören der Vergangenheit an. Dem Bundesverfassungsgericht ist es ab sofort im Zweifel egal, ob Art. 4 Abs. 1 GG oder Art. 11 Abs. 1 GRCh zitiert wird. Denn auch wenn es in Nuancen Unterschiede bei den Anwendungsbereichen geben mag, gilt die alte Binsenweisheit des rechtswissenschaftlichen Studiums, dass man sich in (fast) jeder öffentlich-rechtlichen Klausur nur sauber durch die Hindernisse kämpfen muss und der Fall letztlich in der Verhältnismäßigkeitsprüfung entschieden wird. Das ist auch in der grundrechtlichen Praxis oft genug nicht anders, gerade angesichts der strukturellen Ähnlichkeit zwischen Art. 52 Abs. 1 GRCh und der deutschen Rechtfertigungsdogmatik. Daher wird spätestens der Zweite Senat bei den anhängigen Fällen zum kirchlichen Arbeitsrecht darauf pochen, dass materiell die deutschen Traditionen zum Tragen kommen und den Rechtsalltag auch weiter bestimmen. Die Spannungen zwischen Karlsruhe und Luxemburg werden also nicht mehr auf einem Spielfeld ausgetragen, das den EuGH zu einem Gesichtsverlust zwingen würde – nämlich der Umkehrung seiner Rechtsprechung zu Art. 51 Abs. 1 GRCh –, sondern dorthin verlagert, wo in jedem Einzelfall eine neue Absteckung der Claims möglich ist: nämlich bei der richtigen Auslegung und dem Ausmaß der Spielräume bei den einzelnen Grundrechten und ihrer Schranken und Schranken-Schranken.
Fazit
Beide Beschlüsse sind, ob man ihre Begründung im Einzelnen mitgehen mag oder nicht, gute Nachrichten für die europäische Rechtsgemeinschaft, weil sie das Trennende überwinden und das Verbindende in den Vordergrund stellen. Ihre Bedeutung für die verfassungsrechtliche Dogmatik ist auf einer Höhe mit den Klassikern des 20. Jahrhunderts, etwa dem Lüth– und dem Apotheken-Urteil, zu sehen. Welche Schlussfolgerungen im Einzelnen sich daraus ergeben, werden erst die ersten Anwendungsfälle und ausführlichere Untersuchungen zeigen können. Unterschätzen sollte diese Weichenstellung jedoch niemand.