12 October 2020

Kein rechtsfreier Raum

Völkerrechtliche Aspekte der angedrohten US-Sanktionen gegen die Fährhafen Sassnitz GmbH

In einem Brief vom 5. August dieses Jahres drohten die US-Senatoren Cruz, Cotton und Johnson der Fährhafen Sassnitz GmbH mit nichts anderem, als der totalen wirtschaftlichen Zerstörung. Der Grund für diesen Einschüchterungsversuch: hier werden russische Rohrverlegungsschiffe für das Erdgas-Pipeline-Projekt Nord Stream 2 umgebaut und so für die Fertigstellung des Projekts vorbereitet. Die Rechtmäßigkeit der angedrohten extraterritorialen Sanktionen ist völkerrechtlich umstritten. Deshalb hat der wissenschaftliche Dienst des Bundestages am 8. September eine Ausarbeitung veröffentlicht, die überprüfen soll, ob solche Maßnahmen völkerrechtskonform sind. Die Argumentation des wissenschaftlichen Dienstes überzeugt dabei jedoch weder auf der Ebene des Allgemeinen Völkerrechts, noch auf der des Völkervertragsrechts.

Allgemeines Völkerrecht, Jurisdiktion und Schutzprinzip

Die von den US-Senatoren angedrohten Sanktionen beinhalten Einreiseverbote für Führungspersonal, das Einfrieren aller Vermögenswerte der Gesellschaft auf US-Territorium, inklusive der Blockade aller Bankgeschäfte, die über die Vereinigten Staaten abgewickelt werden. In ihrer Argumentation stellen die USA zentral auf das sogenannte Schutzprinzip ab („the U.S. government […] considers it a grave threat to […] American national security“, Brief der Senatoren Cruz, Cotton & Johnson an die Fährhafen Sassnitz GmbH vom 5. August 2020, 3). Der wissenschaftliche Dienst vertritt die Ansicht, dass dies „nicht ganz von der Hand zu weisen“ sei (Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vom 8. September 2020, WD2-3000-075/20, 13). Diese Aussage ist in Frage zu stellen.

Zum einen sind bei der Diskussion über die angedrohten Maßnahmen die Grundlagen der zulässigen völkerrechtlichen Jurisdiktionsausübung nicht hinreichend klar. Zum anderen vermengt der wissenschaftliche Dienst Fragen darüber, ob die Ausübung von Wirtschaftssanktionen mit extraterritorialen Bezug zulässig ist, mit extraterritorialen Aspekten des sogenannten internationalen Strafrechts (siehe die Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, Seite 13, Fn. 45, 47).

Völkerrechtlich ist zunächst streng zwischen den drei möglichen Konstellationen der Jurisdiktionsausübung zu differenzieren. Ein Staat übt Hoheitsgewalt durch Rechtsetzung (jurisdiction to prescribe), Rechtsdurchsetzung (jurisdiction to enforce) und Rechtsprechung durch staatliche Gerichte (jurisdiction to adjudicate) aus. Rechtsdurchsetzung und Rechtsprechung sind dabei streng an das Territorialitäts- und das Personalitätsprinzip gebunden, das heißt, sie müssen sich auf dem Staatsterritorium vollziehen oder an staatsangehörige natürliche oder juristische Personen richten. Bei der Rechtsetzung hingegen kann ein Staat unter bestimmten Voraussetzungen Rechtsakte erlassen, die eine tatbestandliche Anknüpfung an Sachverhalte vorsehen, die sich außerhalb des Staatsterritoriums abspielen bzw. an Personen richten, die nicht die Staatszugehörigkeit des handelnden Staates haben. Auch wenn diese extraterritoriale Anknüpfung dem Grunde nach zulässig ist, muss sie das völkerrechtliche Interventionsverbot achten. Danach bedarf die extraterritoriale Rechtsetzung, „[s]oll sie nicht eine völkerrechtswidrige Einmischung in den Hoheitsbereich eines fremden Staates sein, hinreichende sachgerechte Anknüpfungsmomente“ (BVerfGE 63, 343, 369). Ein entsprechender völkerrechtlicher Anknüpfungsmoment muss völkergewohnheitsrechtlich anerkannt sein, um eine rechtmäßige extraterritoriale Rechtsetzung zu ermöglichen. Außerhalb des Strafrechts ist neben dem Territorialitäts- und Personalitätsprinzip nur die sogenannte Auswirkungslehre (effects doctrine) anerkannt. Ein Beispiel für das Auswirkungsprinzip im internationalen Wettbewerbsrecht findet sich in § 185 Abs. 2 GWB („Die Vorschriften […] dieses Gesetzes sind auf alle Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden, die sich im Geltungsbereich dieses Gesetzes auswirken, auch wenn sie außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes veranlasst werden“). Ob es daneben weitere völkergewohnheitsrechtliche Anknüpfungsmomente gibt, ist mehr als unklar und im Ergebnis abzulehnen.

Eine grundlegende Ratio des Interventionsverbots ist es, Stabilität im klassischen koordinationsrechtlichen Sinne des Völkerrechts zu gewährleisten. Dazu gehören auch klar voneinander abgegrenzte staatliche Jurisdiktionsräume. Insofern geht es auch nicht um die „Reichweite“ des Schutzprinzips, die völkerrechtlich strittig ist (so aber wissenschaftlicher Dienst, 11), sondern bereits um die Frage, ob das Schutzprinzip überhaupt völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist. Das lässt sich kaum vertreten. Notwendig wäre hierfür im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. b) IGH-Statut der Nachweis entsprechend weitreichender Staatenpraxis und korrespondierender Rechtsüberzeugung. Ein solcher Nachweis wird schon allein deshalb kaum gelingen, da extraterritoriale Rechtsetzungsmaßnahmen regelmäßig Proteste und Vorwürfe der Völkerrechtswidrigkeit seitens anderer Staaten hervorrufen (zum Protest der EG im Pipeline-Fall: Lowe, ICLQ 33 (1984), 517 f.). Eine weitreichende Überzeugung der internationalen Gemeinschaft, dass extraterritoriale Maßnahmen auf der Grundlage des sogenannten Schutzprinzips zulässig sind, wird sich jedenfalls im Wirtschaftsbereich deshalb nicht nachweisen lassen. Im Strafrecht, das hier allerdings nicht interessiert (anders allerdings wissenschaftlicher Dienst, 11, 13), mag dies anders sein. Darauf kommt es bei den angedrohten Sanktionen der USA im Hinblick auf North Stream 2 allerdings nicht an.

Auch Sicherheitsmaßnahmen sind überprüfbar

Auf der Ebene des Völkervertragsrechts prüft der wissenschaftliche Dienst vor allem, ob die Sanktionen mit dem WTO-Recht und dem bilateralen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag von 1954 vereinbar sind. Gerade im Hinblick auf das WTO-Recht zeigen sich bei der Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes argumentative Schwächen.

Die angedrohten Einreisebeschränkungen für Führungskräfte sind kaum mit den Verpflichtungen aus dem GATS bezüglich der Dienstleistungserbringung durch physische Präsenz (Art. I:2 GATS) vereinbar. Der Ausschluss vom Zugang zu staatlichen Beschaffungsverträgen wiederum könnte gegen Vorschriften aus dem Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (GPA) verstoßen. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags geht davon aus, dass sich etwaige Verstöße gegen das Welthandelsrecht durch die im System verankerten, allgemeinen Sicherheitsausnahmen, insbesondere Art. XIVbis GATS und Art. XXI GATT, rechtfertigen ließen und deren Geltendmachung kaum überprüfbar wäre („sollte jeder Staat im Zweifel selbst Herr über die Entscheidung sein, ob die eigene Sicherheit gefährdet [ist]“, Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes, 6).

Tatsächlich braucht es aber auch innerhalb der allgemeinen Sicherheitsausnahmen einer fundierten Begründung und Argumentation, um entsprechende Maßnahmen zu rechtfertigen. So hatte das Panel im Fall Saudi Arabia – Measures concerning the protection of IPR ((WT/DS567/R), para 7.4.3.3 ff.) an die Formulierung der konkret bedrohten Sicherheitsinteressen zwar niedrige Anforderungen gestellt und Saudi-Arabien damit eine weite Einschätzungsprärogative gewährt. Das Panel untersuchte jedoch ausführlich, ob die Maßnahmen überhaupt dazu geeignet sind, die angeführten Sicherheitsinteressen zu schützen (para 7.4.3.3.4 ff). Zudem hat das Panel auch im Fall Russia – Measures Concerning Traffic in Transit (WT/DS512/R) para. 7.76) deutlich gemacht, dass gewisse Anforderungen an das Vorliegen einer „sonstigen ernsten Kris[e] in den internationalen Beziehungen“ im Sinne der genannten Sicherheitsausnahmen zu stellen sind. Zudem hat das Panel festgehalten, dass die „Krise“, auf die sich berufen wird, einen direkten Bezug zu dem Staat haben muss, der durch die Maßnahmen (in diesem Fall Sanktionen) adressiert wird (para. 7.119 ff.). Deshalb erscheint es gut vertretbar, dass extraterritoriale Sanktionen generell nicht unter die angeführten Sicherheitsausnahmen des Welthandelsrechts fallen können (so auch hier und hier).

Vor dem Hintergrund der einschlägigen WTO-Rechtsprechung, hält die Beurteilung der Rechtslage durch den wissenschaftlichen Dienst einer näheren Betrachtung daher nicht stand. Zuzustimmen ist dem wissenschaftlichen Dienst allerdings in dem Punkt, dass ein Verfahren innerhalb des WTO-Streitbeilegungsmechanismus – zumindest für den Moment – unwahrscheinlich ist.

Aus dem Westen nichts Neues?

Maßnahmen, wie die US-Senatoren sie angedroht haben, sind nicht unüblich, weshalb sich völkerrechtshistorische Entsprechungen finden lassen. Auch im Pipeline-Fall aus den frühen 1980er Jahren spielten extraterritoriale Sanktionen eine zentrale Rolle. Die Sowjetunion war dringend auf Devisen angewiesen, die u. a. durch die Ausbeutung eigener Erdgasvorkommen und deren Export nach Westeuropa erwirtschaftet werden sollten. Da die Sowjets den Bau einer Erdgas-Pipeline von Sibirien bis nach Westeuropa technisch nicht umsetzen konnten, sollte der Westen die zum Bau notwendige Technologie liefern, die Sowjetunion wiederum den Bau der Leitung in Erdgas bezahlen.

Die USA befürchteten, dass Europa sich von russischem Gas abhängig und damit erpressbar mache. Zudem hatten die USA die Sorge, dass die UdSSR die gelieferten Technologien im Sinne von Dual-Use-Gütern „ausschlachten“ und damit ihre eigenen, minderwertigen Militärtechnologien anreichern könnten. Die USA dehnten die Sanktionen gegen das Projekt aus, die schließlich auch die am Bau der Pipeline beteiligten Tochtergesellschaften von US-Unternehmen umfassten (ILM 21 (1982), 853 (864 f.)) Das bedeutete das vorläufige Ende des europäisch-sowjetischen Pipeline-Projekts.

Die Europäische Gemeinschaft (EG) war davon überzeugt, dass die Ausweitung der Sanktionen gegen Völkerrecht verstößt. Stein des Anstoßes waren, wie jetzt im Fall von Nord Stream 2, die von den USA gewählten Anknüpfungspunkte. Im Gedanken des Grundsatzes der souveränen Gleichheit aller Staaten (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta), entfalten staatliche Hoheitsakte ihre Wirkung gemeinhin nur auf dem eigenen Territorium (Territorialitätsprinzip) und gegenüber den eigenen Staatsangehörigen (Personalitätsprinzip).

Zwar hatten die USA ihre Sanktionen auf diese Prinzipien gestützt aber das Personalitätsprinzip wurde so interpretiert, dass nicht nur Staatsangehörige, sondern auch Personen mit Aufenthaltserlaubnis und tatsächlichem Aufenthalt als „United States persons“ galten und somit der US-Hoheitsgewalt unterfielen. Zudem wurde der Kreis der „U.S. persons“ auch auf Unternehmen ausgeweitet, deren Eigentümer Personen sind, die der personalen Hoheitsgewalt der USA in dieser weiten Auslegung unterfallen oder von ihnen geleitet werden. Dieses Verständnis widerspricht jedoch der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs im Fall Barcelona Traction, wonach sich die Staatsangehörigkeit eines Unternehmens nach der Gründungs- oder Sitztheorie bestimmt und eben nicht nach der Kontrolltheorie.

Damals standen anders als heute also das Personalitäts- und Territorialitätsprinzip im Mittelpunkt der US-amerikanischen Argumentation – und waren rechtlich nicht weniger umstritten. Der Pipeline-Fall konnte letztlich durch diplomatische Bemühungen beigelegt werden.

Klare rechtliche Vorgaben

Das Völkerrecht macht also auch im Bereich extraterritorialer Sanktionsmaßnahmen durchaus klare Rechtsvorgaben. Anders als in der aktuellen Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages suggeriert, ist das Völkerrecht nicht unklar und gleichsam machtlos gegenüber extraterritorialen Sanktionen.

Das völkerrechtliche Interventionsverbot gibt eine klare rechtliche Ausgangssituation vor. Unklar wird die Rechtslage nur dann, wenn nicht hinreichend genau zwischen Tatbestand und Rechtsfolge differenziert wird. Auf der tatbestandlichen Ebene der Frage der Anerkennung des Schutzprinzips als zulässigem Anknüpfungspunkt für die extraterritoriale Rechtsanwendung hat nicht nur die EU über viele Jahre hinweg immer wieder vertreten, dass es sich hier gerade nicht um ein völkergewohnheitsrechtlich anerkanntes Prinzip handelt. Auch wenn es damals nicht zu sehr im Vordergrund stand, hat die (damalige) EG schon im Pipeline-Fall darauf hingewiesen, dass eine Argumentation mit dem Schutzprinzip ausscheide (Lowe (1984), 518). Hieran hat sich bis heute nichts geändert.

Im Bereich des WTO-Rechts überzeugt die Einschätzung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages ebenso wenig. Die gerichtliche Überprüfung der allgemeinen Sicherheitsausnahmen durch die Einschätzungsprärogative der Staaten ist zwar tatsächlich eingeschränkt, aber es handelt sich auch hier keineswegs um „rechtsfreie“ Räume, wie die zitierten Panel-Entscheidungen belegen. Stattdessen fügen sich auch die welthandelsrechtlichen Sicherheitsausnahmen in ein durch Rechtsprechung, Praxis und Wissenschaft eingehegtes und austariertes multilaterales Rechtsregime ein.