Kein Startschuss für Abschiebungen nach Syrien
Laut OVG Nordrhein-Westfalen besteht für Zivilpersonen in Syrien keine ernsthafte, individuelle Lebensgefahr mehr aufgrund des Bürgerkriegs; Rückkehrer:innen hätten außerdem keine zielgerichteten Menschenrechtsverletzungen zu befürchten. Nicht nur der Flüchtlingsschutz, der bereits seit Jahren kaum noch an Syrer:innen vergeben wird, sondern auch der subsidiäre Schutz sei deshalb ausgeschlossen. Das Politik- und Medienecho, das auf die am 22. Juli 2024 veröffentlichte Pressemitteilung des Gerichts folgte, war gewaltig. Das Urteil sei bahnbrechend, werfe weitreichende Fragen für alle Syrer:innen in Deutschland auf und ermögliche gar die Wiederaufnahme von Abschiebungen nach Syrien. Nun wurden die Urteilsgründe veröffentlicht und zeigen: Die politische und mediale Aufmerksamkeit, die die Entscheidung erfahren hat, steht in keinem Verhältnis zu deren Inhalt. Denn erstens hat bereits das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem Kläger ein Abschiebungsverbot zugesprochen, er hat also durchaus Schutz erhalten. Zweitens hat das Gericht grundsätzlich nichts Neues zur Bewertung der Bürgerkriegsgefahr festgestellt. Und drittens stützt es sich an den zentralen Stellen der Lagebewertung auf eine sehr dünne Tatsachengrundlage.
Der Kläger ist schutzberechtigt
Was aus der Pressemitteilung nicht hervorgeht und deshalb auch medial nicht aufgegriffen wurde: Der syrische Kläger hat bereits in seinem ursprünglichen Asylverfahren vom BAMF Schutz erhalten, nämlich ein sogenanntes Abschiebungsverbot. Das ist nicht zu verwechseln mit dem „Abschiebungsstopp“, der von der Innenministerkonferenz für einen ganzen Herkunftsstaat verhängt wird. Vielmehr handelt es sich um den dritten individuellen Schutzstatus neben Flüchtlings- und subsidiären Schutz, der in Asylverfahren geprüft wird. Er wird vergeben, wenn eine Abschiebung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt (§ 60 Abs. 5 AufenthG). In der Praxis handelt es sich häufig um Fälle, in denen im Herkunftsstaat eine lebensgefährliche humanitäre Notlage droht. Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 haben beispielsweise tausende afghanische Schutzsuchende deshalb diesen Status erhalten. Wie das BAMF im ursprünglichen Verfahren den Schutz begründet hat, ist unklar. Fest steht, dass eine Abschiebung die Menschenrechte des Klägers verletzt hätte, obwohl er wegen seiner Aktivität als Schleuser von Flüchtlingsschutz und subsidiärem Schutz ausgeschlossen war.
Damit wird auch deutlich: Die Debatte über die Abschiebung von Straftätern muss getrennt werden von der Frage, wie sicher Syrien oder auch Afghanistan sind. Ein Straftäter mag zwar gesetzlich von einem gesetzlich höheren Schutzstatus ausgeschlossen sein, ein Abschiebungsverbot muss bei Gefahren im Herkunftsstaat dennoch verhängt werden. Die Aussage des Bundeskanzlers, wer als Schleuser tätig sei, könne „selbstverständlich“ auch nach Syrien zurück, entbehrt daher nicht nur einer logischen, sondern auch einer gesetzlichen und, angesichts des im konkreten Fall vergebenen Abschiebungsverbots, einer faktischen Grundlage.
Das OVG Nordrhein-Westfalen verhandelte also lediglich über eine sogenannte Aufstockungsklage. Der Mann hatte bereits Schutz und wollte diesen verbessern. Die Debatte, wie sicher Syrien ist, wird damit anhand eines Verfahrens geführt, in dem grundsätzlich festgestellt wurde: Der Kläger ist schutzberechtigt; seine Abschiebung würde gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen.
Keine Neubewertung der Lage in Syrien
In seinem Urteil stellt das OVG fest, dass für Zivilpersonen in Syrien keine ernsthafte, individuelle Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt aufgrund des Bürgerkriegs mehr besteht. Der Krieg in Syrien habe keine ausreichende Intensität, um damit subsidiären Schutz zu begründen. Durch die Formulierung in der Pressemitteilung (keine Gefahr „mehr“) impliziert das Gericht, dass es sich hier um eine Änderung der Rechtsprechung bzw. eine Neubewertung der Lage in Syrien handelt. Beides ist falsch.
Erstens haben sich die Gerichte in den letzten Jahren kaum zum syrischen Bürgerkrieg geäußert. Da bereits das BAMF allen Syrer:innen mindestens subsidiären Schutz zuspricht, müssen die Gerichte lediglich über Aufstockungsklagen entscheiden, also über die Klagen von subsidiär Schutzberechtigten auf eine Flüchtlingseigenschaft. Um subsidiären Schutz geht es in den Urteilen deshalb so gut wie nie, der wurde ja bereits erteilt. Eine umfassende Rechtsprechung zu der Gefahr, Opfer willkürlicher Kriegsgewalt zu werden, gibt es nicht.
Zweitens und vor allem ist diese Lagebewertung des OVG alles andere als neu: Das BAMF hat den syrischen Bürgerkrieg bereits 2020 stillschweigend für beendet erklärt, indem es seitdem subsidiären Schutz gar nicht mehr aus diesem Grund vergibt. Zuletzt erhielten nur 0,1 Prozent der subsidiär Schutzberechtigten diesen Status aufgrund der Bürgerkriegsgefahr. Alle anderen erhalten den Schutz, weil das BAMF davon ausgeht, dass Rückkehrer:innen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Denn der subsidiäre Status schützt auch vor der Gefahr der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung.
Allerdings verneint das OVG auch diese Gefahr. Die zentrale Information des Urteils liegt deshalb in den (deutlich knapperen) Ausführungen dazu, warum Rückkehrer:innen keine Menschenrechtsverletzungen zu fürchten hätten. Laut dem Gericht hätten Menschen, die das Land illegal verlassen und sich länger im Ausland aufgehalten haben, bei ihrer Rückkehr nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche Behandlung zu befürchten, auch dann nicht, wenn sie durch ihre Ausreise den Wehr- oder Reservedienst verweigert haben oder aus einem ehemaligen Rebellengebiet stammen. Auch diese Ansicht ist keinesfalls neu, das OVG Nordrhein-Westfalen geht davon bereits seit mehreren Jahren aus. Es bezog diese Lagebewertung bislang allerdings nur auf den Flüchtlingsschutz, weil es über den subsidiären Schutz aufgrund der Aufstockungsklagen (siehe oben) nicht entscheiden musste. In dem neuen Verfahren war das anders. Deshalb lohnt sich ein genauer Blick, wie das Gericht seine sehr weitreichende Einschätzung begründet.
Eine dünne Tatsachengrundlage
In der zentralen Passage bezieht sich das Gericht einleitend auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes, in dem davon die Rede ist, dass Rückkehrer:innen als „Verräter“ betrachtet würden und sich deshalb „mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert“ sähen (S. 24 f.). Laut Auswärtigem Amt gebe es „keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter“. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibe unvorhersehbar. Für diese Einschätzung bezieht sich das Auswärtige Amt unter anderem auf internationale Organisationen (UNHCR, IKRK und IOM) und auf Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch, die Rückkehrer:innen über einen längeren Zeitraum befragt haben. Das OVG Nordrhein-Westfalen lehnt diese Lagebeurteilung allerdings vollends ab: Die Aussagen des Auswärtigen Amtes seien nicht ausreichend durch Tatsachen gedeckt und stammten teilweise von „nicht näher bezeichnete[n] Menschenrechtsorganisationen“ (S. 28), während die Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch nicht ausreichend repräsentativ seien (S. 24).
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Gericht stattdessen seine gesamte Lagebewertung auf die Protokollnotizen eines Gesprächs des Danish Immigration Service mit einer namentlich nicht näher bezeichneten Menschenrechtsorganisation stützt, in denen keine einzige Quelle angegeben wird und die das Gericht darüber hinaus nur selektiv wiedergibt. Obwohl der Bericht also keines der Kriterien erfüllt, die das Gericht an die anderen Erkenntnismittel anlegt, bewertete es seinen Inhalt als „plausibel, weil realitätsnah“ (S. 26). Dass deutsche Gerichte in der Syrienrechtsprechung selektiv auf Länderberichte zugreifen, deren Inhalte modifiziert wiedergeben und ihren Hintergrundannahmen anpassen, ist kein Geheimnis. So freimütig wie hier geschah das allerdings selten.
Die Möglichkeit der Tatsachenrevision und die Reaktion des BAMF
Oberverwaltungsgerichte sind seit 2023 nicht mehr die höchste Tatsacheninstanz in Asylverfahren. Weichen sie in ihrer allgemeinen Lagebeurteilung voneinander ab, kann die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zugelassen werden. Dieser Weg scheint hier wegen der Besonderheit des Verfahrens blockiert: Weil alle anderen Oberverwaltungsgerichte bislang gar nicht über den subsidiären Schutz entscheiden mussten, kann es keine abweichende Rechtsprechung geben. Das ändert allerdings nichts daran, dass andere Oberverwaltungsgerichte die Lage de facto anders beurteilen. So geht das OVG Bremen davon aus, dass zumindest jungen Männern, die sich durch ihre Ausreise dem Wehrdienst entzogen haben, bei der Rückkehr unmenschliche Behandlung und sogar politische Verfolgung droht. Das OVG Berlin-Brandenburg verneint mittlerweile für diese Gruppe zwar die politische Verfolgung, nicht aber die unmenschliche Behandlung. Auch andere Oberverwaltungsgerichte urteilten, dass zielgerichtete Menschenrechtsverletzungen bei der Rückkehr wahrscheinlich sind.
Wie andere Gerichte die Bürgerkriegslage beurteilen würden, ist unklar. Es fällt auf, dass das OVG Nordrhein-Westfalen für einige Provinzen (darunter auch die Heimatregion des Klägers) explizit von der Gefahrenbewertung Europäischen Asylagentur abweicht. Andere Gerichte könnten sich dieser Bewertung anschließen und zumindest für einige Regionen feststellen, dass subsidiärer Schutz weiterhin auch aufgrund des Bürgerkriegs vergeben werden kann.
Offen ist nun, ob das BAMF seine Herkunftsländerleitsätze dem Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen anpasst und sich der Bewertung einer gefahrlosen Rückkehr nach Syrien anschließt. Angesichts der dünnen Tatsachengrundlage, auf der diese Einschätzung beruht und angesichts der Deutlichkeit des Lageberichts des Auswärtigen Amtes, der für die Bewertung des BAMF in der Regel zentral ist, ist davon kaum auszugehen. Da für den Kläger außerdem bereits eine Schutzberechtigung festgestellt wurde, ging es in der Entscheidung zu keinem Zeitpunkt darum, ob er nach Syrien abgeschoben werden kann. Diese Information hätte das OVG in seiner Pressmitteilung nicht verschweigen sollen. Die öffentliche Debatte um die generelle Möglichkeit von Abschiebungen nach Syrien hat das Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen jedenfalls zu Unrecht angefacht.
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