Klassismus und Grundgesetz
Verfassungsrechtlicher Schutz vor klassistisch-intersektionaler Diskriminierung als Antwort auf steigende Armut
Das Vorhaben der Ampel-Regierung, mit dem Bürgergeld „Hartz IV“ abzulösen und durch die Corona- und Energiekrise ausgelöste Debatten um soziale Entlastungsmaßnahmen (zuletzt auch hier) bestätigen, dass Armut in Deutschland ein Maß erreicht hat, das strukturelle sozialstaatliche Korrekturen erfordert. Um Armut effektiv zu begegnen, bedarf es jedoch auch eines Umdenkens auf Verfassungsebene.
Denn Armut ist das Abbild einer strukturellen Benachteiligung aufgrund der sozioökonomischen Lage, die als Klassismus bezeichnet (und unter anderem hier, hier sowie hier geschildert) wird und häufig in Verschränkung mit anderen Ungleichheitsdimensionen (Intersektionalität) auftritt. Bleibt man beim vorherrschenden Verständnis des Verfassungsrechts, bietet das Grundgesetz keinen Schutz vor klassistisch-intersektionaler Diskriminierung. Weder das Sozialstaatsprinzip noch die Gleichheitsgarantien in Art. 3 GG können die Benachteiligung erfassen. Beide verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkte enthalten allerdings Ansätze eines materialen Gleichheitsverständnisses, die ausgeschöpft werden können. Eine Zusammenschau des Sozialstaatsprinzips und der Gleichheitsgarantien bietet Schutz vor klassistisch-intersektionaler Diskriminierung.
Während in der politischen Debatte um Armut das Sozialleistungsrecht im Fokus steht, sollte bereits das zur sozialen Absicherung vorrangige Sozialversicherungsrecht in den Blick genommen werden. Eine klassistisch-intersektionale Benachteiligung wird aber dort und überhaupt im Recht nur aus der Perspektive materialer Gleichheit sichtbar.
Materiales Gleichheitsverständnis als Grundbedingung für Sichtbarkeit von und Schutz vor klassistisch-intersektionaler Diskriminierung
Das materiale Gleichheitsverständnis wurde vor allem in der modernen Critical Feminist Theory entwickelt; und zwar aus der Erkenntnis, dass Ungleichheit auf gesellschaftlichen Machtasymmetrien gründet, die sich auch in Abwesenheit offensichtlicher Diskriminierungen im Recht manifestieren.1) Ungleichheit im Recht wird nach diesem Verständnis nicht nur als Frage der rechtlichen Unterscheidung behandelt, sondern auch als Frage der faktischen Benachteiligung.
Die Critical Race Theory hat das materiale Gleichheitsverständnis insoweit ergänzt, als sie auf Machtasymmetrien innerhalb benachteiligter beziehungsweise privilegierter Gruppen hingewiesen hat, etwa unter „Frauen“ als typischerweise Benachteiligte. In diesem Kontext ist das Konzept der Intersektionalität geprägt worden, das sich folgendermaßen veranschaulichen lässt: Wenn eine Person beispielsweise sowohl weiblich als auch Schwarz gesehen wird, ist ihre Ungleichheitserfahrung multidimensional, sie ist an der Intersektion oder Schnittstelle mehrerer Ungleichheitsdimensionen (Geschlecht und race) positioniert. Die spezifische Ungleichheitserfahrung kommt dadurch zustande, dass sich die Ungleichheitsdimensionen kreuzen (siehe Crenshaw oder Harris).
Ein weiterer Aspekt des materialen Gleichheitsverständnisses besteht darin, dass sich die Machtasymmetrie zwischen Benachteiligten und Privilegierten als Bedingungsverhältnis darstellt. Dies wird von einer weiteren Strömung der kritischen Rechtstheorie, den ClassCrits, hervorgehoben (siehe Mutua hier und hier). Mit ihrem Fokus auf die Ungleichheitsdimension Klasse bringen sie verstärkt den ökonomischen Aspekt ein und unterstreichen, dass ökonomische Ungleichheit kein abstraktes, sondern ein relationales Phänomen ist. Mit anderen Worten: Die Einen können nur deshalb ökonomisch benachteiligt sein, weil die Anderen ökonomisch privilegiert sind und umgekehrt. Eine faktische Benachteiligung im Recht kann man insofern auch dadurch erkennen, dass eine Personengruppe durch das Recht privilegiert wird.
Die bisher genannten Ansätze beziehen sich auf im Recht verankerte Gleichheitsgarantien und Diskriminierungskategorien. Aber was ist eigentlich mit dem Sozialstaat, wenn es doch um sozioökonomische Ungleichheit geht? Hier halte ich einen Ansatz von Sandra Fredman für fruchtbar, die zunächst herausgestellt hat, dass statusbasierte Ungleichheit sowie sozioökonomische Ungleichheit und damit Gleichheitsgarantien und der Sozialstaat regelmäßig getrennt betrachtet werden: Statusbasierte Ungleichheiten etwa aufgrund von Geschlecht oder race werden grundsätzlich als Frage subjektiver Rechte behandelt. Dagegen wird sozioökonomische Ungleichheit grundsätzlich als Handlungsfeld der Sozialpolitik betrachtet. Fredman weist aber darauf hin, dass die jeweils dahinterstehenden Anliegen, nämlich Anerkennung und Umverteilung, ineinander greifen. Dies spiegele sich im Konzept materialer Gleichheit, welches anerkennt, dass nicht (mehr) Statusdifferenzierungen aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe oder eines anderen Gruppenmerkmals die Ungleichheit ausmachen, sondern die damit einhergehende soziale und ökonomische Benachteiligung. Allerdings können selbst mit einem materialen Gleichheitsverständnis unter den Gleichheitsgarantien allein keine Statusunterschiede angegangen werden, für deren Beseitigung Ressourcen erforderlich sind. Auf der anderen Seite können sozialstaatliche Maßnahmen, die eigentlich auf Umverteilung abzielen, statusbasierte Ungleichheiten mitunter verfestigen. Es reicht also nicht aus, isoliert Anerkennungsfragen im Rahmen der statusbasierten Gleichstellung und Verteilungsfragen unter dem Sozialstaat zu behandeln. Vielmehr bedarf es einer Zusammenschau von Sozialstaat und Gleichheitsgarantien mit der Brille materialer Gleichheit.
Das materiale Gleichheitsverständnis, das also relationale Machtasymmetrien fokussiert, zwischen und innerhalb von Personengruppen, und den Sozialstaat einbezieht, ist meines Erachtens auch grundlegend für den Schutz vor klassistisch-intersektionaler Diskriminierung im Verfassungsrecht. Für die verfassungsrechtliche Betrachtung kommt es auf die konkrete Benachteiligungskonstellation an.
Benachteiligung durch die Beitrags-Leistungs-Äquivalenz im Sozialversicherungsrecht
Sozialwissenschaftliche Forschung zeigt, dass Frauen und Migrant*innen (hier kommt es nicht auf die Staatsbürgerschaft an, sondern auf eine Rassifizierung) stärkeren Erwerbsrisiken ausgesetzt sind. Sie haben durchschnittlich schlechtere Arbeitsmarktchancen. In Bereichen, die von prekären Arbeitsbedingungen betroffen sind, arbeiten auffällig viele Frauen und Migrant*innen. Viele machen sich selbstständig, um solchen Bedingungen oder der Arbeitslosigkeit zu entkommen, ohne dass sie ihre Existenz damit sichern können. In Krisensituationen wie Corona verschärfen sich nicht nur die Erwerbsrisiken, sondern auch ihre ungleiche Verteilung.
Die Gründe dafür, dass typischerweise Frauen und Migrant*innen Ungleichheitserfahrungen auf dem Arbeitsmarkt und im Job machen, sind zum Teil tatsächliche Umstände wie die Anerkennung von Berufsabschlüssen, Sprachhürden sowie Sorgearbeit; zum Teil aber auch Zuschreibungen, zum Beispiel einer geringeren Qualifikation oder einer eingeschränkten Arbeitsfähigkeit. Dabei bedingen und verstärken sich die betreffenden Diskriminierungsdimensionen (Geschlecht, race, Klasse). Wir können uns die Ungleichheitserfahrungen einer in dieser Weise intersektional betroffenen Person an einem Fallbeispiel vorstellen: Eine Frau wandert mit 30 Jahren aus der Türkei zu und möchte in Deutschland eine Erwerbstätigkeit aufnehmen – beziehungsweise ist darauf angewiesen. Weil sie die deutsche Sprache erst lernt, begegnet sie sprachlichen Irritationen und Abwertungen; weil ihr Berufsabschluss nicht anerkannt wird, wird ihr eine geringere Qualifikation unterstellt; weil sie Sorgearbeit leisten könnte, nehmen Arbeitgeber an, sie sei eingeschränkt arbeitsfähig. Dass sich die einzelnen Ungleichheitsmomente letztlich auf ihre sozioökonomische Situation auswirken, dürfte daraus bereits deutlich werden. Wegen ihres spezifischen Migrationshintergrunds wird ihr Berufsabschluss nicht anerkannt und von Arbeitgebern verstärkt angenommen, dass sie durch Sorgearbeit eingeschränkt arbeitsfähig sei. Ihr geringerer (formaler) Bildungs- und Einkommensstand und das damit verbundene Auftreten verstärken wiederum Abwertungen ihrer kulturellen Kompetenz.
Die erhöhten Erwerbsrisiken von Migrantinnen, die sich regelmäßig durch weniger oder kein Einkommen äußern, wirken sich auf ihre soziale Absicherung aus. Im deutschen Sozialstaatsmodell sollen in erster Linie beitragsfinanzierte Sozialversicherungen die soziale Absicherung gewährleisten (Vorrang der Vorsorge). Schaut man sich die gegenwärtige Ausgestaltung des Sozialversicherungsrechts an, muss man feststellen, dass es für die soziale Absicherung in hohem Maße auf das Einkommen der Versicherten ankommt. Denn zum einen besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Einkommen der Versicherten und Sozialversicherungsleistungen. Zum anderen ist das Einkommen für die Bemessung von Sozialversicherungsbeiträgen zentral. Nun ist zu unterscheiden zwischen gesetzlichen Sozialversicherungen (prinzipiell für abhängig Beschäftigte) und privaten oder freiwilligen Sozialversicherungen (prinzipiell für Selbstständige). Bei privaten Sozialversicherungen gilt grundsätzlich das Äquivalenzprinzip, das heißt die Beiträge und Leistungen stehen äquivalent zueinander. Bei den gesetzlichen Sozialversicherungen gilt das für Einkommensersatzleistungen (z.B. Kranken- und Arbeitslosengeld) sowie bei der Rente.
Besteht – etwa bedingt durch die Einkommenslage – kein Anspruch auf diese beitragsäquivalenten Sozialversicherungsleistungen oder nicht in ausreichender Höhe, muss die Existenzsicherung über die steuerfinanzierte Grundsicherung erfolgen. Dadurch, dass hier das staatliche Interesse an einer sparsamen Haushaltsführung zum Tragen kommt, stellt die Grundsicherung für Betroffene eher eine Überlebenssicherung dar – mit Folgen wie Armut, Stigmatisierung und reduzierten Möglichkeiten der sozialen Teilhabe.
Das Sozialversicherungsrecht knüpft also mittelbar an die Erwerbstätigkeit an und basiert dabei offenbar auf der Fiktion, dass alle Menschen gleichen Zugang zu Erwerbstätigkeit haben. Strukturelle Ursachen der Einkommenslage werden nur teilweise berücksichtigt. So finden zum Teil geschlechtsspezifische Nachteile Berücksichtigung (z.B. Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung, § 56 SGB VI). Insoweit wird die Fiktion eines gleichen Zugangs zu Erwerbstätigkeit durchbrochen. Intersektionale Ungleichheitserfahrungen bleiben jedoch unsichtbar, sodass eine Ausgleichsregelung wie der § 56 SGB VI nicht ausreichend ist. Um dies im Bild des vorher genannten Fallbeispiels an zwei Aspekten zu zeigen:
Die Ungleichheitslage von Frauen ist nicht nur von dem Faktor tatsächlicher Kindererziehung geprägt, sondern auch von Zuschreibungen einer Erziehungsverantwortung, die bei rassifizierten Frauen umso stärker sein können. Außerdem haben nicht alle Frauen „nur“ das Problem, ihre berufliche Laufbahn unterbrechen zu müssen, sondern zum Teil auch überhaupt eine Tätigkeit ausüben zu können, von der sie ihre Existenz sichern können, geschweige denn vorsorgen können (z.B. Anerkennung von Berufsabschlüssen). Also ist die Ausgleichsregelung insofern nicht ausreichend, als sie undifferenziert ist und die Perspektive relativ privilegierter Frauen zugrunde legt.
Wie das Verfassungsrecht zur Beseitigung der Benachteiligung beitragen könnte
Wie steht das Verfassungsrecht dazu, dass sich die ungleiche Verteilung von Erwerbsrisiken auf dem Arbeitsmarkt bis in die soziale Absicherung als unmittelbarem Verantwortungsbereich des Staates erstreckt?
Zunächst einmal könnte man daran denken, das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) und die Gleichheitsgarantien in Art. 3 GG als verfassungsrechtliches Versprechen sozialer Sicherheit für alle zu deuten. Der genauere Blick zeigt jedoch, dass dem dogmatische Hürden im Wege stehen.
Das Sozialstaatsprinzip ist insgesamt schwach konturiert und scheint vor allem nicht darauf angelegt zu sein, strukturelle Benachteiligung zu erfassen. Vielmehr ist nach herrschender Auffassung im Sozialstaatsprinzip die Grundformel verankert, dass in Abwesenheit formaler Hindernisse grundsätzlich jeder Mensch für sich selbst sorgen kann und muss.2) Strukturelle Ungleichheit werde unter Art. 20 Abs. 1 GG erst dann verfassungsrechtlich relevant, wenn die allgemeine ökonomische Lage Existenzen gefährdet. Zudem verweist die Rechtsprechung regelmäßig auf einen weiten gesetzgeberischen Spielraum.3) Gleichzeitig sprechen etwa einfachgesetzliche Ausgestaltungen wie das Arbeits- und Mieterschutzrecht dafür, dass im Sozialstaatsprinzip ansatzweise dann doch eine Sensibilität für Machtasymmetrien verankert ist, die weitergedacht werden kann. Gleiches gilt für eine grundsätzlich vorhandene Anerkennung von sozioökonomischen Voraussetzungen der Chancengleichheit. Zuschreibungen sind unter dem Sozialstaatsprinzip aber jedenfalls nicht erfasst.
Die Gleichheitsgarantien sind in Bezug auf die Kategorie Geschlecht recht weit entwickelt. Dort werden mit dem Verbot der mittelbaren Diskriminierung (Art. 3 Abs. 3 GG) und dem Gleichstellungsgebot (Art. 3 Abs. 2 GG) auch strukturelle Benachteiligungen erfasst.4) Auch eine Verschränkung mit anderen Kategorien hat das Bundesverfassungsgericht im Kopftuch II-Beschluss (Rn. 143) zumindest angedeutet. Hier sind also schon starke Ansätze eines materialen Gleichheitsverständnisses vorhanden. Andere relevante Kategorien als Geschlecht („Rasse“, Sprache, Herkunft) sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Kommentarliteratur jedoch unterbeleuchtet. Zur Kategorie (soziale) Herkunft ist die letzte eingehendere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zwar schon eine ganze Weile her (1959 – „Armenrecht“-Beschluss). Das Bundesverfassungsgericht versteht diese dort aber eng als „die von den Vorfahren hergeleitete soziale Verwurzelung, nicht die in den eigenen Lebensumständen begründete Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht“. Damit wird deutlich, dass ein Bedingungszusammenhang zwischen gegenwärtiger sozialer Lage und den Ausgangsbedingungen, „in die der Mensch hineingeboren ist“, bestehen muss. Offen bleibt, welcher Grad an Kausalität zwischen der gegenwärtigen sozialen Lage und der Ausgangslage genau bestehen muss. Auch bleibt offen, ob diese „Verwurzelung“ diverse sozioökonomische Aspekte umfasst oder lediglich die formale Zuordnung von Vorfahren zu einer bestimmten Schicht. Klar ist aber, dass Benachteiligungen aufgrund der gegenwärtigen Einkommens- oder Vermögenslage alleine keine Diskriminierung aufgrund der „Herkunft“ begründen können. Es geht um die Sicherung sozialer Mobilität und nicht den Schutz vor Benachteiligungen aufgrund einer bestimmten sozialen Lage. Hier sind eher Bezüge zum historischen Problem einer starren Stände- bzw. Klassengesellschaft erkennbar. Anders als der Herkunftsbegriff im Grundgesetz erfasst zum Beispiel der im Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz von 2020 normierte Begriff „sozialer Status“ auch Zuschreibungen aufgrund der gegenwärtigen sozioökonomischen Lage. Eine im Ergebnis entsprechende Auslegung des Herkunftsbegriffs im Grundgesetz wäre vor dem Hintergrund einer „Vererbung“ von Armutsrisiken denkbar. Aber auch damit wäre die rein materielle Lage nicht erfasst, weil Diskriminierungskategorien keine Verteilungsprobleme lösen können.