Kommunale Spiel(räum)e gegen die Menschenwürde
Die Verwaltung hat gegenüber Asylbewerber*innen in Deutschland im Wesentlichen zwei Gesichter: Zuerst zeigt sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das die Asylbegehren prüft. In der Zeit, die dafür oft ins Land streicht, treffen sie zweitens in vielen aufenthalts- und sozialrechtlichen Belangen auf kommunale Behörden. Insbesondere sind sie im existenziellen Sinne auf das Asylbewerberleistungsrecht angewiesen, das die Sozialbehörden der Landratsämter umsetzen. Was passiert, wenn autoritäre Populist*innen, die einer rassistischen Ideologie verhaftet sind, diese Behörden steuern? Wenn diese die rechtlich-administrative Spielräume offensiv ausnutzen oder im Sinne der autoritär-populistischen Strategie (vgl. hier und hier) gar überschreiten? Anhand von Szenarien im Leistungsbezug zeichnet dieser Beitrag nach, wie die restriktive Ausrichtung des Asylbewerberleistungsrechts den autoritär-populistischen Amtsspitzen, denen an Instrumentalisierung gelegen ist, ein gefährliches Spiel mit der Menschenwürde ermöglicht.
Zwischen Existenzminimum und Sonderrecht
Das Asylbewerberleistungsrecht ist als Sonderrecht neben Bürgergeld (SGB II) und Sozialhilfe (SGB XII) das dritte Rechtsregime der Grundsicherung. Es regelt unter anderem den Bezug von Lebensmitteln, Kleidung oder die Gesundheitsversorgung. Dahinter steht der (Leistungs-)Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz, den das Bundesverfassungsgericht umfassend und einheitlich definiert. Gewährleistet werden muss „sowohl die physische Existenz des Menschen […], als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben […], denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen“.
Der Gesetzgeber darf Asylbewerber*innen jedoch anders behandeln als andere Gruppen von Sozialhilfeempfänger*innen. Der (potenziell) kürzere Aufenthalt im Land kann zu einer anderen Bedarfsbemessung als bei Leistungsempfänger*innen mit Daueraufenthaltsrecht führen, solange sich dies in einem transparenten Verfahren empirisch begründen lässt. Der gesetzgeberische Auftrag, dieses Spannungsverhältnis zwischen Existenzminimum und Sonderbedarfssituation nach sozialpolitischem Ermessen auszutarieren, zieht sich wie ein roter Faden durch die rechtspolitische Entwicklung des Asylbewerberleistungsrechts. Die öffentliche Migrationsdebatte – nicht erst seit dem Attentat in Solingen durch Rassismus und Abschottungsfantasien geprägt – hat erreicht, dass der Gesetzgeber diese Spannung tendenziell zulasten der Leistungsberechtigten auflöst. Im Ergebnis besitzt das Asylbewerberleistungsrecht einen restriktiven Fluchtpunkt, bei dem regelungstechnisch aus den Vollen geschöpft wird. So ist die Leistungshöhe für bestimmte Bedarfsgruppen um bis zu 20% abgesenkt und auch die Zahlungsmodalität spätestens seit der Bezahlkarte flächendeckend eng geführt, wo immer dies praktisch umsetzbar ist. Umso wichtiger werden auf dem Papier Ermessensspielräume der Behörden, um menschenwürdegerechte Flexibilität immer dann zu gewährleisten, wenn die Umstände des Einzelfalls dies erfordern. Dieser Zweck wird allerdings auf den Kopf gestellt, wenn autoritär-populistische Amtsspitzen diese Flexibilität mit rassistischen Kalküls missbrauchen sollten.
Die Musik spielt im Landratsamt
Wie können autoritäre Populist*innen hier Einfluss nehmen? Ausgeführt wird das Asylbewerberleistungsgesetz von den Ländern (Art. 84 GG, § 10 AsylbLG). In Thüringen wird dabei nach Einrichtungsstatus differenziert. Für die Erstaufnahmeeinrichtungen ist das Landesverwaltungsamt zuständig; für alle anderen Unterkünfte die Landkreise und kreisfreien Städte. Innerhalb des Landratsamts liegt das Asylbewerberleistungsrecht üblicherweise beim Sozialamt, die aufenthaltsrechtlichen Aspekte des Asylrechts hingegen bei der Ausländerbehörde.
Zwar liegt es fern, dass die Mitarbeitenden des Sozialamtes durch den autoritären Wechsel an der Amtsspitze ihre rechtsstaatliche Bindung außer Acht lassen. Doch ein Landratsamt ist ein streng hierarchisches Gebilde. Und eine Behördenleitung hat weitreichende rechtliche und faktische Möglichkeiten, sich behördenintern durchzusetzen. Bereits die oben beschriebene Binnenorganisation ist nicht zwingend, und entsprechend personalpolitischen Kalküls umbaufähig (§ 35 Abs. 2 BeamtStG). Letztlich kann die Behördenleitung, wie jüngst der AfD Landrat Robert Sesselmann in Sonneberg im Falle der Ausländerbehörde, einen bestimmten Bereich jederzeit zur „Chefsache“ erklären. Der „oberste Dienstherr“ ist inhaltlich umfassend weisungsbefugt, und die Amtswalter*innen haben die entsprechende Folgepflicht (§ 35 Abs. 1 BeamtStG). Das gilt sowohl im Einzelfall als auch bei allgemeinen Weisungen hinsichtlich gleichgelagerter Fälle. Um obstruktiv-autoritäre Ziele zu erreichen, sind auch indirekte und informelle Hebel effektiv. Denn wer in die Rolle der Bedenkenträger*in gerät oder gar den offenen Widerspruch gegenüber der tonangebenden Behördenleitung wagt, kann selbst schnell zur Zielscheibe werden. Letztlich ist die Gemengelage für Behördenmitarbeitende so trotz der Möglichkeit zur Remonstration weit komplizierter. Dass autoritäre Populist*innen „top-down“ in der Lage wären, in dem sensiblen sozial-kulturellen Gefüge eines Landratsamts einen bestimmten flüchtlingsfeindlichen Kurs durchzudrücken, ist also nicht unrealistisch. Welche materiellen Spielräume im Asylbewerberleistungsrecht für einen solchen Kurs aufgegriffen werden könnten, um über bloße Restriktion hinaus das Existenzminimum zu unterschreiten, veranschaulichen zwei Szenarien aus dem Kontext der Leistungszahlung.
Szenario 1: Leistungen stoppen oder verschleppen
Wie wäre es beispielsweise, wenn ein migrationsfeindlicher Landrat die Weisung erteilt, die Leistungsauszahlung schlicht zu stoppen? Dieses Szenario, also ein offener Rechtsbruch, wäre mit dem menschenwürdegerechten Existenzminimum offensichtlich nicht zu vereinbaren. Sowohl aufsichtsrechtliches Einschreiten als auch (Eil-)Rechtsschutz liegen nahe. Der primäre Zweck liegt aber gar nicht in dem rechtskräftigen Leistungsentzug selbst. Vielmehr geht es um den Aufstand an sich: Man zeigt, dass man sich tatsächlich gegen „die da oben“ (Gerichte, Aufsichtsbehörden, Bundesgesetzgeber) wehrt und dass man endlich Handlungsfähigkeit beweist in der fabrizierten Ohnmacht; und bedient ganz nebenbei die rassistischen Narrative des migrationsrechtlichen Diskurses.
Dass es so offensichtlich abläuft, ist nicht zwingend. Es gibt unzählige behördliche Spielräume, mittels derer sich die rassistische Ideologie ebenfalls umsetzen ließe. Eine solche Strategie, man könnte sie als strategisches Unvermögen beschreiben, verpasst zwar das Aufstandsmoment (die bekannte „dog whistle“ einmal außen vor). Eine rechtsstaatliche Kontrolle ist jedoch ungleich komplizierter. Die restriktiven Anlagen des Asylbewerberleistungsrechts bieten hier sogar ein besonders gefährliches Potenzial.
Beim Leistungsbezug ließen sich beispielsweise Mitwirkungspflichten der Asylbewerber*innen instrumentalisieren, die in vielen Bereichen des Sozialrechts unabdingbar sind. Über § 9 Abs. 3 AsylbLG können die Sozialämter die Leistungsberechtigten u.a. zur Angabe von Tatsachen zur Sachverhaltsermittlung (§ 60 Abs. 1 SGB I) oder dem Persönlichen Erscheinen zur Erörterung des Antrags (§ 61 SGB I) verpflichten. Selbstverständlich hat dies Grenzen (§ 65 SGB I). Ein Leistungsträger kann dennoch gemäß § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I „die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind“ und die Leistung so effektiv verschleppen.
In einem Vakuum ist diese Regelungssystematik sachgerecht, effizient und ermöglicht damit „gute Verwaltung“. Allerdings birgt sie ein Potenzial für böswillige Leistungsträger, die Asylbewerber*innen gezielt drangsalieren wollen. Wenn eine autoritär-populistische Behördenleitung es darauf anlegt, könnte sie den Leistungsberechtigten hier viele Steine in den Weg legen, die angesichts des hohen Komplexitätsgrades der verwaltungsrechtlichen Vorgänge und der Sprachbarriere nur mit flächendeckender Rechtsberatung ausgeräumt werden könnten.
Szenario 2: Leistungshöhe unter das Existenzminimum senken
Weiteren materiellen Spielraum bietet das Einfallstor zur Senkung der Leistungshöhe in Sammelunterkünften. Der Gesetzgeber hatte in § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG die Regelbedarfsstufe 2 – und damit eine nochmalige Absenkung um 10% – immer dann vorgesehen, wenn Asylbewerber*innen in Sammelunterkünften leben. Es „sei davon auszugehen, dass eine Gemeinschaftsunterbringung Einspareffekte zur Folge habe, die denen in Paarhaushalten im Ergebnis vergleichbar seien (BTDrucks 19/10052, S. 23). Diese Einschätzung ist jedoch laut BVerfG empirisch nicht haltbar, Sozialleistungen müssen „fortlaufend realitätsgerecht bemessen sein“ (Rn. 69). Der behauptetet Einspareffekt sei schlicht nicht nachgewiesen und die Regelung damit verfassungswidrig. Diese Argumentation müsste auch für den Bereich der Grundleistungen gem. § 3a Abs. 1 Nr. 2b), Abs. 2 Nr. 2b) AsylbLG gelten, die nicht Gegenstand des Verfahrens waren. Den Wechsel von Grund- zu Analogleistungen rechtfertigt die bessere Bleibeperspektive. Die Pauschalsenkung hingegen knüpft ausschließlich an den Unterkunftstyp als den „Modus des Zusammenlebens“ an. Wenn es bei den Grundleistungen gem. § 3a Abs. 1 Nr. 2b), Abs. 2 Nr. 2b) AsylbLG aber um dieselbe Unterkunftslage wie beim verfassungswidrigen § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG geht (Gemeinschafts- und Sammelunterkünften), müssen auch diese Regelungen verfassungswidrig sein.
Aus diesem Grund hätte der Gesetzgeber hier im Nachgang des Urteils vom Oktober 2022 nachschärfen müssen. Da dies bis heute versäumt wurde, könnten Behörden wieder anfangen, die Pauschalsenkung durchzuführen – schließlich steht sie im Gesetz. Für obstruktiv agierende Behörden mit autoritärem Kurs liegt es nahe, genau solche Unklarheiten in Gesetzessystematik und Rechtsprechung auszunutzen, um Leistungsberechtigte zu schikanieren.
Die Menschenwürde „auf Kante nähen“?
Im Asylbewerberleistungsrecht soll Bundes- und Landesrecht auf kommunaler Ebene durch untere Verwaltungsbehörden lediglich vollzogen werden, und das voll überprüfbar. Mittels des aufgezeigten Bündels behördlich-obstruktiver Strategien lässt sich diesem Bereich jedoch ein rassistischer und menschenfeindlicher Stempel aufdrücken. Das gilt nicht nur beim Leistungsbezug: Auch die zweckentfremdete Debatte um eine Arbeitspflicht könnten autoritäre Populist*innen über die aktuell unsichere Rechtslage ohne Weiteres instrumentalisieren. Und selbst die Einrichtung eines Ausländerbeauftragten auf Kommunalebene ist nicht verpflichtend, und lässt sich mit den entsprechenden Mehrheiten, wie nun durch gemeinsamen Beschluss von AfD und CDU in Bautzen, ohne weiteres einstampfen.
Das Dilemma rührt daher, dass kommunale Gremien und Behördenleitungen richtigerweise gewisse Spielräume zustehen, denn als Kommunalpolitiker*innen sollen sie Gemeinde und Kreis aktiv gestalten können. Auf Vollzugsseite gewährleisten Ermessensspielräume dringend notwendige Einzelfallgerechtigkeit und Flexibilität der Behörden. Dass die gewissenhafte Einzelfallprüfung für rechtmäßiges Verwaltungshandeln essenziell ist, wurde von Gerichten zuletzt auch bei pauschalen Obergrenzen des Barbedarfs im Kontext der Bezahlkarte betont (vgl. Beschluss des SG Hamburgs vom 18.07.24 und Beschluss des SG Nürnberg vom 30.07.24). Die Korrektivfunktion der behördlichen Spielräume läuft leer, wenn sie durch Ermessensnichtgebrauch gar nicht zur Anwendung kommen. Und sie verkehrt sich ins Gegenteil, wenn sie qua Regelungszweck nur dazu taugt, die Menschenwürdegarantie weiter auszuhöhlen. Am gefährlichsten ist jedoch, wenn all diese Elemente aufeinandertreffen: weitreichende behördliche Spielräume, autoritäre Populist*innen an der Spitze dieser Behörden, und ein Rechtsgebiet, das mit Blick auf die rote Linie Existenzminimum bereits regelungstechnisch „auf Kante genäht“ ist.
Es wäre naiv, sich in Kenntnis der autoritär-populistischen Strategie darauf zu verlassen, dass diese Naht nicht reißt. Gleiches gilt für einen Vertrauensvorschuss hinsichtlich der Funktionstrennung von „Verwalten“ und „Gestalten“ (in der kommunalen Praxis häufig auch jetzt schon eine Fiktion). Besser wäre es, das Spiel mit den Spielräumen gar nicht erst zuzulassen. Das geht nur, indem Aufsichtsbehörden ein Bewusstsein für die Gefahr der autoritär-populistischen Strategie auf kommunaler Ebene entwickeln. Der Bundesgesetzgeber hingegen sollte den restriktiven Fluchtpunkt des AsylbLG überdenken, wenn das menschenwürdige Existenzminimum im Asylsozialrecht mehr als ein Lippenbekenntnis ist.
Der Autor bedankt sich bei Julian Seidl für wertvolle Hinweise während der Entstehung dieses Textes.