Konfrontation, Kohabitation, Koalition
Frankreich nach den Wahlen
Die Parlamentswahlen in Frankreich 2024 haben bisher wenig Konstantes, sondern vor allem Unerwartetes hervorgebracht. Von der Auflösung der Assemblée Nationale und dem erwarteten Sieg des Rassemblement National (RN, früher Front National) zur unerwarteten Neugründung des Linksbündnisses Nouveau Front Populaire (NFP) und dessen Erfolg. Statt politischer Klarheit und der schnellen Ernennung eines Premierministers folgte sodann ein Ringen bei unklaren Mehrheiten, weshalb Frankreich untypisch lange auf eine Regierungsbildung wartet. Und nun? Dieser Artikel versucht, das verfassungsrechtliche und politische Geflecht in einem Vierschritt zu entwirren: von der Konfrontationslage zur Kohabitation (der Begriff beschreibt die Divergenz zwischen der Mehrheitsfaktion in der Assemblée Nationale und der Partei des Präsenten) und Koalitionsbildung sowie zuletzt zu den Konsequenzen für die Europäische Union. Ich argumentiere, dass die französischen Parlamentswahlen das Land in ein verfassungsrechtliches Spannungsfeld geführt haben, das die politischen Akteure zwingt, Koalitionen neu zu erlernen, während dabei die europäische Stabilität durch die innerfranzösischen Machtkämpfe auf die Probe gestellt werden wird.
Konfrontation
Die aktuelle Konfrontation lässt sich anhand des Wortlauts von Artikel 8 der Constitution française du 4 octobre 1958 (im Folgenden: C. F.) nachvollziehen. Dieser lautet: „Der Präsident der Republik ernennt den Premierminister.“ Daraus ergeben sich drei kollidierende verfassungsrechtliche Positionen: Erstens fordert der NFP nunmehr als nomineller Wahlsieger das Amt des Premierministers ein. Das entspräche auch der französischen Verfassungstradition. Seit der ersten Kohabitation 1986 ernennt der Präsident einen Premierminister der Mehrheitspartei.
Eine zweite, dem entgegengesetzte Position folgt aus Artikel 5 C. F. Dort heißt es: „Der Präsident der Republik wacht über die Einhaltung der Verfassung. Er gewährleistet […] die ordnungsgemäße Tätigkeit der öffentlichen Gewalten sowie die Kontinuität des Staates.“ Macron interpretiert dies nun so: Erst wenn ein Premierminister mit einer stabilen Mehrheit vorgeschlagen wird, die ihm auch gesetzgeberische Initiativen erlaubt – oder zumindest vor einem Misstrauensvotum aus Artikel 49 C. F. schützt –, vergibt er das Amt. Dass eine stabile Mehrheit indes keine absolute sein muss, weiß Macron aus eigener Erfahrung seit 2021, als er eine Minderheitsregierung einsetzte.
Eine dritte Position ist der Anspruch von La France Insoumise (LFI), als stärkstem Teil der NFP-Allianz. LFI beansprucht das Amt des Premierministers (jener Anspruch ergibt sich ebenso aus der bisherigen Verfassungstradition, sog. „de facto Begrenzung der präsidialen Entscheidungsfreiheit im Ernennungsprozess“) – auch auf Kosten einer Nichteinigung mit den anderen Parteien der NFP. Entsprechend hatte LFI zwischenzeitlich sogar die Gespräche mit den anderen Parteien der NFP für beendet erklärt. Eine Hypothese dazu lautet, dass die LFI dies tut, um Macron politisch zu blockieren und damit eventuell sogar einen Rücktritt Macrons, der sich nach Artikel 7 C. F. richtet, zu provozieren und somit vorzeitige Präsidentschaftswahlen folgen zu lassen; Letzteres regelt ebenso Artikel 7 C. F.
Kohabitation als politische Konsequenz
Da das französische Verfassungsrecht stark politisch geprägt ist (z. B. ist der Präsident in Frankreich „Hüter der Verfassung“), soll die Konfrontationslage aus Artikel 8 (Ernennung des Premierministers), 5 (Pflichten des Präsidenten) und 7 (Rücktritt des Präsidenten) C. F. anhand dreier politischer Fragen kurz kontextualisiert werden: Wer hat die Wahlen nun gewonnen, wer hat sie verloren und welcher Wählerwille kann dem Ergebnis entnommen werden?
Wenn der Sieg an den meisten Sitzen im Parlament gemessen wird, dann hat der NFP mit 14 Sitzen Vorsprung gewonnen. Dennoch ist das Bündnis nicht der politische Gewinner der Wahlen im engeren Sinne. Da der NFP nicht eine positiven Allianz für Wandel, sondern ein Zweckbündnis zur Abwehr des RN (sog. „barrage“) ist, reflektiert das Ergebnis in erster Linie die Ablehnung dieser Partei, aber auch der Partei des Präsidenten, des Ensemble pour la République (ENS).
Und wer hat die Wahlen nun verloren? Überwiegend wohl das ENS, und zwar mit einem Verlust von 87 Sitzen in der Assemblée Nationale. Zwar hat der RN vom ersten zum zweiten Wahlgang auch Stimmen verloren, aber immerhin mit 10,6 Millionen Wählern die meisten Stimmen auf sich vereinigt – und historisch viele Sitze im Parlament erlangt.
Die Franzosen haben mit ihrer Wahl zumindest faktisch den Auftrag zur Bildung einer Kohabitation erteilt. In der Vergangenheit wählten die Franzosen im Falle der Abwahl der Partei des Präsidenten stets mit absoluter Mehrheit eine andere Partei. Nun aber erschütterten sie nach 2022 zum zweiten Mal mit ihrer Wahl eine Grundfeste der V. Republik: die vertikalen Machtausübung, also die Machtkonzentration auf eine Partei. Der Wählerauftrag eröffnet so zugleich das gegenwärtige Spannungsfeld, nämlich den Zwang zur Koalitionsbildung.
Koalition
Die Logik der Koalition in Frankreich ist eine der deutschen entgegengesetzte. Die deutsche Logik lautet: erst Wahlen, dann Koalitionsbildung, und zwar aufgrund relativer Mehrheiten. Die französische Logik verhält sich konträr dazu: Erst findet sich eine als solche bezeichnete Koalition bzw. Allianz oder Bewegung, dann folgen Wahlen, und schließlich kann eine dieser Koalitionen aufgrund des französischen Wahlsystems mit absoluter Mehrheit durchregieren. Wegen der nun fehlenden absoluten Mehrheit nähert sich das französische System zwangsweise dem deutschen an. Als Folge dieser Systemverschiebung lässt sich eine allgemeine politische Nervosität beobachten, die sich in unkonstruktiven und konfrontativen Handlungen äußert: Die Koalitionsverhandlungen verlaufen unstrukturiert, beinahe täglich werden widersprüchliche Vorschläge für Premierminister der NFP gemacht, und auch der abgelehnte Rücktritt des aktuell geschäftsführenden Premierministers Attal ist ein Symptom jener Nervosität. Sind Regierungsfindungen nach Wahlen in Frankreich typischerweise schnell, sorgt der unkonforme Wählerauftrag, welcher einen für Frankreich untypischen Wunsch nach „pluralistischerer Repräsentation“ vermittelt, nun für mühsame und möglicherweise lang andauernde Verhandlungen. Darauf wirkt Frankreich nicht vorbereitet.
Doch warum möchten die Parteien auch jetzt noch keine Koalition bilden? Der Grund liegt in dem Mehrheitswahlsystem mit zwei Wahlgängen, welches die starken Parteien stärkt und die Schwachen schwächt. Dieses System führt typischerweise zur absoluten Mehrheit einer Partei, sodass es keiner Koalitionsverhandlungen bedarf. Eine absolute Mehrheit ist nach den letzten Wahlen aber nur in zwei Varianten – jeweils unter Beteiligung der stärksten Fraktion NFP – denkbar. Die erste Variante wäre eine „halbe Kohabitation“ in Form eines Bündnisses aus NFP und ENS, die zweite Variante ein Bündnis aus NFP und RN. Beide Varianten sind indes politisch gegenwärtig unwahrscheinlich, da sich der NFP ein Distanzgebot zu diesen Fraktionen auferlegt hat. Daraus folgt, dass potenzielle Bündnisse, obgleich z. B. der NFP und der RN zentrale Positionen teilen, nicht möglich sind.
Dennoch sind Koalitionen den Franzosen nicht völlig fremd. Auch die Verfassung von 1946 (IV. Republik), welche eine parlamentarische Republik als Staatsform vorsah, kannte diese. Daher ist die Koalitionsbildung im deutschen Sinne kein politisches Neuland, sondern ein Prozess des Wiedererlernens. Doch kann dies nun gelingen? Es bestehen insbesondere drei verfassungsrechtliche Herausforderungen: Erstens referenziert die aktuelle französische Verfassung Koalitionen nur noch indirekt, und zwar im Demokratieprinzip (Artikel 1 C. F.) und in der Vereinigungsfreiheit (Präambel der Verfassung von 1946; Artikel 34 C. F.; Artikel 11 EMRK). Dass Koalitionen nicht ausdrücklich angedacht sind, führt zu einer zweiten, entgegengesetzten Herausforderung: Eine Regierung muss nicht auf einer funktionierenden Koalition beruhen, sondern nur so stark sein, dass gegen sie keine sogenannte „motion de censure“ – das Misstrauensvotum aus Artikel 49 C. F. – ergeht. Doch ohnehin wäre ein Misstrauensvotum wohl aktuell eine Sackgasse. Zwar kann in Frankreich eine Regierung mit absoluter Mehrheit gestürzt werden, jedoch wird nicht zugleich eine neue Regierung gewählt (sog. destruktives Misstrauensvotum). Letztere kann nur der Präsident ernennen. Doch da dieser nur einmal im Jahr die Nationalversammlung auflösen kann (vgl. Artikel 12 C. F.), hat eine nach einem Sturz ernannte, neue Regierung, die nicht ebenfalls sofort abgewählt werden möchte, ebenso im Rahmen des unkonformen Wählerauftrags zu handeln. Diese Sackgasse führt zu einer dritten Herausforderung: Nämlich zu einer in einem solchem Fall wahrscheinlichen Ernennung einer technokratischen Regierung mit einem Premierminister, der womöglich ein Konsenskandidat der NFP ist, aber z. B. aus keinem politischen Lager stammt, wie etwa Laurence Tubiana, Ex-Präsidentin der „Convention citoyenne pour le climat“, die aber aufgrund des LFI-Widerstands ihre Kandidatur zurückzog; oder Lucie Castets, deren Kandidatur aber Macron bisher ablehnte. Eine solche Regierung führt gleichwohl ohne parlamentarische Mehrheiten. Mit anderen Worten: Das Parlament bleibt geteilt. Als Folge daraus verbleibt anstelle diverser Willensbildungen im französischen Verfassungssystem von Parlament über Regierung bis hin zum Präsidenten nur noch eine Willensrichtung – der Willen eines diskret handelnden Präsidenten Macron, wie er sich schon beim NATO-Gipfel ausdrückte. Dieser schwelende Zustand dürfte die V. Republik bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren innen- und außenpolitisch lähmen – auch auf europäischer Ebene.
Konsequenz für Europa
So könnte es auf europäischer Ebene in Zukunft nicht nur das sogenannte „German Vote“ (die Blockade von EU-Gesetzesakten durch die Regierungsfraktionen der Ampel), sondern auch das „Vote Français“ geben. Denn erstens dürfte jede künftige Regierung der Mehrheitsparteien für eine Abkehr von den Ideen des Europäers und Reformers Macron stehen – zumindest nach dem Wählerauftrag. Dafür spricht auch, dass weder der europäische Binnenmarkt noch die wirtschaftliche Prosperität Frankreichs den Wahlkampf dominiert haben: Sowohl das im europäischen Rahmen erwirkte Rekordvolumen an ausländischen Investitionen (15 Milliarden EUR) unter Macron als auch die historisch geringe Arbeitslosenzahl scheinen weitgehend ohne Auswirkung auf den Wählerwillen geblieben zu sein. Davon geht zweitens umso mehr eine Gefahr für Europa aus: Obwohl die französische Verfassung die Verantwortung für die europäische Politik auf den Präsidenten konzentriert, war Frankreich schon bei vergangenen Kohabitationen in Europa in seiner Handlungsfähigkeit erheblich beschränkt. Eine Studie zeigt, dass eine Kohabitation zu mehr französischen Vetos im Europäischen Rat führt. Dazu kommt drittens, dass bei Reformen mit Passerelle-Klauseln (vgl. u. a. Artikel 48 Abs. 7 EUV), bei der Bestimmung von EU-Eigenmittel oder den EU-Anleihen stets nationale Parlamente zustimmen müssen. Bisher konnte der französische Präsident auf die eigene Mehrheitsverhältnisse zählen, um solche Vorhaben auf EU-Ebene zu ratifizieren. Künftig ist Macron hingegen auf die