Kontinuität womit? Alternativlos wozu?
Zur Kritik vermeintlicher Selbstverständlichkeiten in der juristischen NS-Vergangenheitsaufarbeitung. Ein Review Essay
Friedrich Kießling/Christoph Safferling: Staatsschutz im Kalten Krieg: Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF, 2021
Markus Materna: Richter der eigenen Sache: Die “Selbstexkulpation” der Justiz nach 1945, dargestellt am Beispiel der Todesurteile bayerischer Sondergerichte, 2021
Fridolin Schley: Die Verteidigung, 2021
Die Behördenforschung ist etwas in die Jahre gekommen.1) Vielleicht hat sie sogar ihren Zenit überschritten und wir müssen über neue, innovative(re) Formate nachdenken.2) Ist der ersten Untersuchung zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amts3) noch sehr viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden, haben spätere Untersuchungen, auch die zur Rosenburg, dem damaligen Sitz des Bundesjustizministeriums,4) weit weniger Aufmerksamkeit erfahren. Gerade die BMJ-Untersuchung zeigt, dass das Kernproblem solcher Auftragsforschung weniger in der – mitunter kritisierten5) – fehlenden Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Auftragnehmer zu bestehen scheint, als vielmehr in den von den Auftraggebern regelmäßig vorgegebenen knappen Bearbeitungszeiträumen.6) Dies scheint dazu zu führen, dass sich die Forschenden nicht die nötige Zeit nehmen können, um den Forschungsgegenstand gründlich und umfassend zu bearbeiten, und deshalb Forschungsdesiderate in Einzelarbeiten ausgelagert werden müssen. Ein gutes Beispiel ist insoweit der Fall des Juristen und Kriegsverbrechers Max Merten, der laut der BMJ-Untersuchung zwar „exemplarisch für die Versäumnisse des Bundesjustizministeriums bei der Einstellung ehemaliger NS-Juristen“ steht,7) dem die Untersuchung aber nur drei Seiten widmet.8) So ist es einer gerade erschienenen Göttinger Dissertation vorbehalten – gleichsam als „Nachfolgestudie zum Rosenburg-Projekt“9) – die außerordentlich bedeutsame vergangenheitspolitische Dimension des Falles aufzuzeigen, nämlich die Verdrängung und Verleugnung deutscher Kriegsverbrechen während der Adenauer-Ära und das aktive Bemühen staatlicher Behörden, insbesondere der Zentralen Rechtsschutzstelle des Auswärtigen Amts, aber auch des BMJ, deutsche Kriegsverbrecher zu unterstützen und aus der „Kriegsgefangenschaft“ zu befreien.10)
Der enorme Zeitdruck, unter dem solche Auftragsforschung betrieben wird, erklärt vielleicht auch, dass die entsprechenden Untersuchungen mitunter redundante Ausführungen enthalten, die nur entfernt oder indirekt mit dem Untersuchungsgegenstand zu tun haben und kaum weiterführende Erkenntnisse liefern. Dies zeigt sich etwa in der jüngsten Untersuchung zur Generalbundesanwaltschaft von Friedrich Kießling und Christoph Safferling,11) die an dieser Stelle schon umfassend von Gärditz gewürdigt worden ist. Dort finden sich u.a. Ausführungen zur (Nürnberger) Verfolgung von NS-Juristen nach 1945 (S. 85 ff.), zur Verjährungsfrage (S. 436 ff.) (obwohl die Generalbundesanwaltschaft dabei nicht legislativ beteiligt war) und zur Revisionstätigkeit der Generalbundesanwaltschaft (S. 422 ff.), doch erschließt es sich nicht, worin der Erkenntniswert dieser Ausführungen mit Blick auf das Untersuchungsziel – Aufarbeitung der NS-Vergangenheit/Kontinuität der Generalbundesanwaltschaft – liegen soll, jedenfalls wenn man das Untersuchungsziel nicht viel weiter fassen will (und etwa auch die allgemeine Arbeitsweise der Generalbundesanwaltschaft, zu der natürlich die Revisionstätigkeit gehört, schildern will). Auch die antikommunistische Kontinuität der Behörde ist ohne das zwölfjährige NS-Interregnum denkbar, denn sie geht auf die vielfach kolportierte Kommunistenverfolgung der Justiz des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, bei gleichzeitiger Schonung der rechtsnationalistischen Kriminalität,12) zurück13) und entsprach dem antikommunistischen „Grundkonsens“ der Adenauer Ära (ganz treffend insoweit Kießling/Safferling, S. 269 ff., 495 f.).14)
Überhaupt fördert die Untersuchung nicht wirklich bahnbrechende neue Erkenntnisse zu Tage, sondern sie bestätigt nur die – schon auch aus Untersuchungen anderer Behörden und Institutionen bekannte – These personeller und teilweise inhaltlicher Kontinuität und ruft einmal mehr die juristischen NS-Netzwerke in Erinnerung, die eine solche Kontinuität erst möglich gemacht haben. Sie tut dies allerdings in sehr lesenswerter Manier, garniert mit gründlichen Fallstudien, die zumindest bezüglich der untersuchten Personen (etwas des kurzzeitigen Behördenleiters Fränkel und des langjährigen Behördenleiters Martin) neue Erkenntnisse liefern.
Große Fragen bleiben offen
Gleichwohl: Die großen, die Struktur eines Unrechtsstaats und die rechtsstaatliche Transition betreffenden Fragen werden zwar teilweise gestellt, bleiben aber weitgehend unbeantwortet: Wie kann der Neuaufbau überhaupt gelingen, wenn im Wesentlichen das gleiche Personal verwendet werden muss (Kießling/Safferling, S. 20, 200)? Oder hätte es entgegen dem Adenauerschen mauvais mot – “Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat!” (s. z.B. hier) – nicht doch sauberes Wasser, also personelle Alternativen gegeben? Die Untersuchung stellt das in Frage (es stimme „höchstens zum Teil“, Kießling/Safferling, S. 493), geht der Frage jedoch nicht auf den Grund. Gärditz meint: „Es standen keine Kohorten von Dissidenten und Remigranten zur Verfügung, um Ämter zu übernehmen“. „Kohorten“ vielleicht nicht, aber es hätte doch wohl personelle Alternativen gegeben, hätte man genauer danach gesucht, statt sich nur der gewachsenen Netzwerke zu bedienen. So wird dem Bundesverfassungsgericht etwa, ganz im Gegensatz zum Bundesgerichtshof, in personeller Hinsicht „große Distanz zum Nationalsozialismus“ bescheinigt.15) Für Bayern stellt Markus Materna16) in seiner überaus gründlichen Untersuchung zur Renazifizierung der dortigen Justiz mit Mitgliedern der NS-Sondergerichte fest, dass die Quellenlage zeige, „dass unbelastete Juristen … durchaus verfügbar gewesen wären.“ (S. 517). In Bayern habe es sogar ein „erdrückendes Überangebot an Stellenbewerbern“ bei zugleich „massive[r] Reduzierung der Planstellenzahl“ gegeben, weshalb das „althergebrachte Erklärungsparadigma, der Mangel an juristischem Personal hätte eine Wiederindienstnahme belasteter Juristen unumgänglich gemacht, in dieser Pauschalität unzutreffend ist.“ (S. 363 f.). Materna weist im Übrigen auf den damit zusammenhängenden Forschungsbedarf zum justiziellen Wiederaufbau in der Bonner Republik samt der damit einhergehenden personellen Renazifizierung hin (S. 29).17) Für Bayern liegt damit nun eine, allerdings auf die Mitglieder der NS-Sondergerichte beschränkte Untersuchung vor.18)
Weiter: Gab es eine Alternative zur auch inhaltlichen Kontinuität, wenn doch der Nationalsozialismus – im Sinne rückwärtsgewandter Kontinuität – nur die autoritär-obrigkeitsstaatlichen Tendenzen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik perpetuiert und verstärkt hat, mit denen eine in der Tradition der Reichsanwaltschaft stehende Generalbundesanwaltschaft – im Sinne zukunftsorientierter Kontinuität19) – weder radikal brechen konnte noch wollte? Worin bestehen genau die regelmäßig schwer zu identifizierenden spezifisch nationalsozialistischen Kontinuitäten? Kann eine in dieser Tradition stehende Generalbundesanwaltschaft anders als „vom Staat her“ denken,20) also “etatistisch“ (Kießling/Safferling, S. 281) sein? Und was bedeutet dies, wenn überhaupt, für ihre NS-Belastung? Die Antwort bleibt offen, ja muss offen bleiben, denn die Frage ist falsch gestellt: „Etatismus“ im so verstandenen Sinne meint ein staatsorientiertes und autoritäres Selbstverständnis, ganz im Sinne der Klage des ehemaligen Generalbundesanwalts Martin, der den Deutschen ein „gestörte[s] Verhältnis zum Staatsschutz“ bescheinigte (Kießling/Safferling, S. 465).21) Doch das ist, so schon richtig Gärditz, „kein Proprium“ des nationalsozialistischen Rechtsverständnisses, hat dieses sich doch gerade an überstaatlichen Bezugspunkten wie Volksgemeinschaft, Rasse usw. orientiert.22) Schlimmer noch: Das von Kießling/Safferling apostrophierte Denken von der Gesellschaft her (279 ff.) kann, auch wenn man es mit dem heutigen Modewort der „Zivilgesellschaft“ (S. 280) positiv konnotieren will, sich schneller als falscher Freund erweisen als einem lieb ist – wenn nämlich diese Gesellschaft nicht durch einen rechtsstaatlichen Rahmen mit individualrechtlichem Fokus eingehegt ist.
Jedenfalls kann die Bedeutung rückwärtsgewandter Kontinuität nicht genug betont werden, wenn man verstehen will, wie die Justiz zu einem NS-Herrschaftsinstrument degenerieren konnte und dies erst Jahrzehnte später – ab den 1980er Jahren (Materna, S. 30 ff. m.w.N.) – zu einem Gegenstand selbstkritischer Auseinandersetzung und Aufarbeitung wurde. Materna (S. 34 ff., 509 ff.) weist insoweit auf den generationell-biologischen Aspekt eines Juristenstandes hin, der zu Beginn des 20 Jahrhunderts im monarchistisch-obrigkeitsstaatlichen Denken des Kaiserreichs und durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs überwiegend an der „Heimatfront“ sozialisiert wurde und sich als Teil einer gesellschaftlichen Elite mit entsprechendem Standesdünkel und Habitus verstand, gleichsam als nach außen geschütztes und in sich geschlossenes autopoetisches Subsystem mit esprit de corps („Standes- und Habituskitt“, S. 24). Die daraus folgende soziostrukturelle und gesinnungsmäßige Homogenität der Juristenzunft (S. 524), gepaart mit immer größer und stärker werdenden Netzwerken, erklärt den nahtlosen Übergang – im Sinne zukunftsorientierter Kontinuität – in das Justizsystem der Bonner Republik: charakterisiert durch Selbstexkulpation,23) „weitgehend in Eigenregie“24) statt selbstkritischer Auseinandersetzung, Renazifizierung des neuen Justizapparats statt konsequenter Entnazifizierung (S. 174 ff., 515 f.),25) Verklärung der Rolle während der NS-Zeit statt echter Aufklärung (S. 252 ff., 518: zur Spruchkammer-Entnazifizierung) sowie Verdrängung und Verschleierung (S. 328 ff.). Gerade die schon seit der BMJ-Untersuchung bekannte Tatsache, dass auch unbelastete Juristen die Narrative der Selbstexkulpation verbreiteten,