Krieg, wie er auch hieße
Wie das russische Recht das Sprechen und das Schweigen formt
Warum sollte sich irgendjemand für russisches Recht interessieren? Nur wenige Forschungsgebiete scheinen so nutzlos wie das russische Verfassungsrecht. Wenn es einen Beweis dafür bräuchte, dass Russland von der Laune einer einzigen Person regiert wird, reicht schon ein Blick auf die im Fernsehen übertragene Sitzung des russischen Sicherheitsrats in den verhängnisvollen Tagen des Februar 2022. Hinter dem kläglichen Zittern und Nuscheln der Spitzenbeamten offenbarte sich, dass Russland jeden Anschein einer verfassungsmäßigen Ordnung verloren hat. Jede Behauptung, dass das russische Recht der Forschung wert ist, erscheint lächerlich.
Und doch möchte ich behaupten, dass es das ist. Das formelle Recht ist ein Schlüsselelement des Regimes. Es zu erforschen, kann uns daher helfen, sein Wesen besser zu verstehen. Dazu gehört auch, der Versuchung zu widerstehen, Putins Regime in die Welt der Vergangenheit zu versetzen. Timothy Snyder hat eindringlich argumentiert, dass das heutige Russland ein faschistischer Staat ist. Und in der Tat gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen den rechtsautoritären Regimen der Vergangenheit und demjenigen Putins. Allerdings zeichnet sich Putins Regime durch bestimmte Merkmale aus, die ein Produkt der heutigen Zeit sind. Es sind gerade diese Merkmale, die besonders gefährlich sind, da sie sich für viele Populisten und Möchtegern-Autoritäre als verlockend erweisen könnten. Eine besondere Eigenschaft, auf die ich in diesem Editorial eingehen möchte, ist der Einsatz des Rechts, um Regimekritiker zu verunglimpfen und Angst zu schüren. Im Vergleich zur Erforschung der russischen Propaganda scheint dieser Aspekt vergleichsweise vernachlässigt zu sein. Ich glaube, er ist jedoch keineswegs weniger wichtig für das Funktionieren des Regimes.
Verunglimpfung per Gesetz
Die Sprache des heutigen Russlands wirkt wie eine Spielart des Orwellschen Neusprechs. Selbst in alltäglichen Gesprächen ziehen es die meisten Menschen vor, den Krieg nicht beim Namen zu nennen, sondern stattdessen den Kunstbegriff der “militärische Sonderoperation” zu verwenden. Dieser Zustand wurde jedoch nicht dadurch erreicht, dass ein für alle verbindliches Narrativ geschaffen und mit Gewalt durchgesetzt wurde. Der Ansatz der Regierung war viel einfacher: Anstatt alle Medien in Propagandamaschinen zu verwandeln, diskriminierte oder kriminalisierte der Staat einfach diejenigen, die von der Regierungsposition abwichen. Dies führte dazu, dass die (verbleibenden) nicht-staatlichen Medien und die Öffentlichkeit sich proaktiv selbst zensierten.
Die erste diskriminierende Maßnahme gegen die Narrative der Opposition wurde im Jahr 2007 ergriffen. Die Medien wurden verpflichtet, bei jeder Erwähnung einer bestimmten Organisation darauf hinzuweisen, dass diese als “terroristisch” oder “extremistisch” eingestuft wurde. Im Laufe der Zeit wuchs die Liste der “terroristischen” und “extremistischen” Organisationen auf über 100 Namen an, darunter die Zeugen Jehovas und Unterstützer von Alexej Nawalny. Im Jahr 2012 verpflichtete der russische Gesetzgeber Nichtregierungsorganisationen, die Finanzmittel aus dem Ausland erhalten (sofern sie nicht zu einer ausgenommenen Kategorie gehören), sich als “ausländische Agenten” zu bezeichnen. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats stellte in ihrer Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass diese Maßnahme dazu beitrug, “eine Atmosphäre des Misstrauens, der Angst und der Feindseligkeit” zu schaffen. Mit der Zeit begannen die Behörden selbst, Organisationen und Einzelpersonen als “ausländische Agenten” zu bezeichnen. Derzeit enthalten die Listen mehrere hundert Namen. Während nur russische Organisationen oder Privatpersonen als „ausländischer Agent“ bezeichnet werden können, werden ausländische Organisationen als “unerwünscht” eingestuft. Seit 2015 haben die Behörden 55 “Unerwünschte” benannt. Seit Ende 2020 sind die Medien verpflichtet, “ausländische Agenten” oder “Unerwünschte” als solche zu benennen.
Medien, die sich an diesen staatlich sanktionierten Beschimpfungen nicht beteiligen, müssen mit hohen Kosten rechnen. Zwei Verstöße innerhalb eines Jahres können zum Entzug der Lizenz führen. Ausgewiesene Personen und Organisationen müssen ebenfalls überall (auch in Beiträgen und Kommentaren in sozialen Medien) als “ausländischer Agent” gekennzeichnet werden, da sie sonst mit einer Geldstrafe und einer möglichen Strafverfolgung rechnen müssen. Die von den Gesetzen geschaffene Atmosphäre ist pervers. Eine Atmosphäre, in der sogar die der Opposition nahestehenden Medien sich selbst oder die Protagonisten ihrer Berichte mit verunglimpfenden Etiketten versehen müssen.
Der Hauptzweck jener gesetzlich verordneter Beschimpfungen besteht darin, ausgewiesene Zielpersonen zu verunglimpfen und sie als fremdes Element in der Gesellschaft zu markieren. Der Aufwand, mit dem dieser Zweck erreicht werden kann, ist gering. Anstatt die der Opposition nahestehenden Medien vollständig auszulöschen, sorgt der Staat einfach dafür, dass der Mediensektor eine einheitliche Sprache spricht. Teils gehört zu diesen Praktiken auch das Verbot von “LGBT-Propaganda” gegenüber Kindern und das Verbot, die Sowjetunion mit Nazideutschland zu vergleichen.
Vom Beschimpfen zum mundtot machen
Nachdem die Regierung im Zuge des Ukraine-Kriegs die Willfährigkeit im Land drastisch steigern musste, hatte sie die Möglichkeit, eine Vorzensur einzuführen und die Medienlandschaft auf einige wenige staatlich kontrollierte Kanäle zu beschränken. Auch wenn solche Schritte mit dem Kriegsrecht vereinbar gewesen wären, wurde dieser Weg nicht eingeschlagen. Mehrere große, der Opposition nahestehende Medien wurden vom Netz genommen. Andere (meist aus dem Ausland) wurden blockiert. Normale Russen mit Internetzugang (den die überwiegende Mehrheit hat) können jedoch problemlos alle Arten von Informationen über Youtube oder den Messenger Telegram abrufen. Eine andere Geschichte ist jedoch die Weitergabe von Informationen. Denn die Menschen haben Grund zur Annahme, dass sie sich dadurch in Gefahr bringen. Und genau das ist jener abschreckende Effekt, den die meisten Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu erreichen versuchen.
Anfang März wurde dann eine Reihe repressiver Gesetze verabschiedet, mit denen die Sicherstellung von Sprachkonformität massiv erhöht wurde. Die Gesetze richten sich nicht nur gegen Medien oder ausgewählte Personen, sondern gegen jeden, der sich im russischen Hoheitsgebiet aufhält. Jeder kann nun für “Verunglimpfung der Streitkräfte” oder für die “Verbreitung von Fehlinformationen über den Einsatz der Streitkräfte im Ausland” belangt werden. Die möglichen Rechtsfolgen reichen von hohen Geldstrafen bis hin zu langen Gefängnisstrafen. Seit ihrer Verabschiedung werden die neuen Gesetze von den Strafverfolgungsbehörden täglich angewendet. Ob jene Verfolgungspraxis jedoch allein ausgereicht hätte, um die Einhaltung der Vorschriften zu gewährleisten, ist zweifelhaft. Die Abschreckung ist vielmehr durch den früheren Erfolg der gesetzlich verordneten Verunglimpfungen erreicht worden. Auf diesem Wege waren die Medien bereits darauf vorbereitet, auf ihre Sprache zu achten. Mit dem Aufkommen der neuen repressiven Gesetzgebung haben sie “kontroverse” Themen nun entweder von vornherein vermieden oder lediglich die Positionen der Regierung dazu wiedergegeben. Auch Privatpersonen folgten diesem Beispiel und zensierten sich bewusst selbst.
Die Konformität in Putins Russland unterscheidet sich somit von derjenigen in den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts. Statt aktiv staatliche Narrative zu reproduzieren und sich an staatlich sanktionierten Praktiken zu beteiligen, wird vom Einzelnen erwartet, dass er nichts tut. Der Musterbürger ist kein Sturmtruppler, sondern ein zynischer Stubenhocker, der alles vermeidet, was auch nur annähernd politisch ist.
Heute könnte dieses Modell der Konformität gefährlicher sein als eine Wiederauferstehung des Faschismus. Denn es könnte sowohl leichter zu errichten als auch auf Dauer zu stabilisieren sein. Totalitäre Strukturen aufzubauen und aufrecht zu erhalten ist schließlich ein kostspieliges Unterfangen. Es erfordert einen erheblichen organisatorischen Aufwand und administratives Geschick. Es ist kein Zufall, dass nur sehr wenige totalitäre Regime über ihre Blütezeit Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus überlebt haben. Im Gegensatz dazu kann die Kombination aus Propaganda und formalen Vorschriften, die auf Oppositionsnarrative abzielen, mit den bestehenden Mitteln des Staatsapparats erreicht werden. Daher ist jene Kombination für die vielen autoritären Regime der Welt relativ billig und praktikabel.
Welche Lektion können wir also aus der jüngsten Geschichte Russlands lernen? Die Lektion ist so einfach wie die Strategie der russischen Repressionen selbst: Wenn Regierungen anfangen, die Sprache zu überwachen, ist es Zeit für höchste Alarmbereitschaft – denn es könnte ein Schritt in Richtung von etwas sehr viel Schlimmerem sein.
Dmitry Kurnosov, Universität von Helsinki
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Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat zu einer Vielzahl von Entwicklungen im internationalen Strafrecht geführt. In der vergangenen Woche, am 26. Juni 2022, wurden diese durch eine Erklärung der ukrainischen Regierung noch verstärkt. Darin rief sie dazu auf, Führungskräfte und Vorstandsvorsitzende großer internationaler Banken für Kriegsverbrechen anzuklagen. RAPHAEL OIDTMANN kommentiert die ukrainische Erklärung, die Strategie des “lawfare” der internationalen Justiz und die strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen.
Spätestens mit der Einführung einer Gas-Umlage können Gasimporteur*innen die gesteigerten Energiepreise ab Oktober an die Verbraucher*innen weitergegeben. Weder vorbeugende Maßnahmen von Vermieter*innen noch eigenverantwortliches Sparen werden dann dazu ausreichen, bezahlbare Energiepreise herzustellen. Um soziale Härten abzufedern, muss der Gesetzgeber zwingend vorbeugend tätig werden, fordert PIA LANGE.
Das Vorhaben der Ampel-Regierung, mit dem Bürgergeld „Hartz IV“ abzulösen und die Debatten um soziale Entlastungsmaßnahmen bestätigen, dass Armut in Deutschland ein Maß erreicht hat, das strukturelle sozialstaatliche Korrekturen erfordert. Um Armut effektiv zu begegnen, bedarf es jedoch auch eines Umdenkens auf Verfassungsebene. NAZLI AGHAZADEH-WEGENER schlägt eine Zusammenschau des Sozialstaatsprinzips und der Gleichheitsgarantien als Schutz vor klassistisch-intersektionaler Diskriminierung vor.
Die im ersten Entwurf des neuen Infektionsschutzgesetzes ausdrücklich vorgesehene Zulässigkeit der ex-post-Triage ist – nach zum Teil heftiger Kritik – aus dem aktuellen Entwurf gestrichen worden. TIM REIß antwortet auf den jüngsten Vorstoß in der FAZ, in dem sich vier Straf- und Verfassungsrechtler*innen für die Zulassung einer ex-post-Triage im Infektionsschutzgesetz aussprechen, und plädiert für Offenheit und Transparenz in der Debatte.
Der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist eine der schärfsten Ausdrucksformen der Rechtsstaatlichkeitskrise in Polen. Vier Jahre sind vergangen, seit der Europäische Gerichtshof einen zweistufigen Test entwickelt hat, um über die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen zu entscheiden, die von einem Mitgliedstaat ausgestellt wurden, dem es an richterlicher Unabhängigkeit mangelt. LEANDRO MANCANO schreibt über die jüngsten Urteile des Gerichtshofs, mit denen er die Kriterien und Faktoren, auf die sich die Vollstreckungsgerichte stützen können, erheblich erweitert hat.
Die Europäische Zentralbank hat ein neues, mächtiges Werkzeug zur Hand: das “Transmission Protection Instrument“, mit dem die Zinsen, die Eurostaaten auf ihre Anleihen zahlen müssen, unter bestimmten Umständen gesenkt werden sollen. Vor allem deutsche Stimmen sehen darin einen Verstoß gegen Marktprinzipien, Grundgesetz und Europarecht. PHILIPP ORPHAL hält dagegen: Marktlogik ist kein Rechtsgebot – weder der Wirtschafts- und Währungsunion noch des grundgesetzlichen Demokratieprinzips.
Diesen Dezember jährt sich die Gründung des Europäischen Gerichtshofes zum 70. Mal. Der EuGH zelebriert das bereits mit dem Hashtag #CJEUin70days auf dem sozialen Netzwerk Twitter. Für TRISTAN RADTKE konterkariert der EuGH allerdings sowohl mit dieser Kampagne als auch mit seiner sonstigen Öffentlichkeitsarbeit seine eigene Datenschutz-Rechtsprechung.
Das überraschende Angebot des Tech-Milliardärs Elon Musk, Twitter zu kaufen, stellt die Weisheit der derzeitigen EU-Bemühungen zur Bekämpfung der Verbreitung von Desinformationen in Frage, die sich weitgehend auf die freiwillige Kooperation der Plattformen stützen. Ob erfolgreich oder nicht, wirft es ernste Fragen zur Abhängigkeit der EU-Desinformationspolitik von den Selbst- und Koregulierungsmaßnahmen der Plattformen auf. RONAN FAHY, NAOMI APPELMAN & NATALI HELBERGER über die Konsequenzen, die drohen, wenn eine Plattform beschließt, nicht gegen Desinformation einzuschreiten.
Der europäische Online-Raum war in den letzten Jahren Gegenstand intensiver rechtlicher Reformen. Die politischen und regulatorischen Debatten über die Rolle und die Verpflichtungen von Technologieunternehmen in Europa sind noch lange nicht beendet. Mit dem neuen Connectivity Infrastructure Act riskiert die Europäische Kommission, die Büchse der Pandora der Netzneutralität zu öffnen, und gefährdet möglicherweise die demokratischen Grundsätze der Meinungsfreiheit und des Pluralismus. JOAN BARATA gibt einen Überblick über die rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit den Debatten über die Netzneutralität.
Unfälle mit Teslas “Autopilot” häufen sich. Es drängt sich der Verdacht auf, autonome Fahrzeuge seien überhaupt nicht so sicher, wie oft behauptet. Tatsächlich aber sind sie sicherer, als wenn Menschen fahren. Allerdings machen sie Fehler, die menschliche Fahrer*innen mühelos vermieden hätten. Um diese Fehler in Zukunft zu vermeiden, sollen statt der Fahrer*innen die Hersteller*innen für ihre Assistenzprogramme in Haftung genommen werden, meint GERHARD WAGNER.
Die indischen Verfahren zur Online-Zensur sind völlig undurchsichtig und haben die indische Regierung folglich vor der Rechenschaftspflicht bewahrt. TANMAY SINGH & AMALA DASARATHI berichten, wie eine Klage von Twitter vor einem indischen Hohen Gericht dies zu ändern hofft. Je nachdem, wie das Gericht entscheidet, werden die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung, ein ordnungsgemäßes Verfahren und der Zugang zum Internet für Millionen von Inder*innen am Ende dieses Falles entschieden werden.
Im Mai 2022 hat der Oberste Gerichtshof Pakistans mit einem Urteil, das den Abgeordneten die Möglichkeit nimmt, in Vertrauensfragen gegen die Parteilinie zu stimmen, das politische System Pakistans drastisch umgestaltet. Am 22. Juli trat die Provinzregierung des Punjab zusammen, um einen neuen Chief Minister zu wählen, was aufgrund dieses parteizentrierten Parlamentarismus zu politischen Turbulenzen führte. ANDRAS CSONTOS sieht darin eine Gefahr für die demokratische Konsolidierung und die Notwendigkeit, dass der Rechnungshof seine Position überdenkt.
Dear Sir, Madam,
in the first place I would like to congratulate Dr Kurnosov on his excellent article about the present situation in Russia.
I would be interested to know why it is legally forbidden to call the “special military operation” a war. Had the president doubts about obtaining the necessary approval by the constitutionally competent authorities? Or did he try to avoid frightening the public by declaring war to the “brother country” Ukraine?
In short, is it a legal or rather a political reason?
With my best wishes
Reinhart Pabst