09 September 2024

Mit Sicherheit nicht

Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht relativierbar

Wieder einmal wird in der Öffentlichkeit darüber diskutiert, wie die ohnehin durch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) beschnittenen sozialen Rechte geflüchteter Menschen in Deutschland weiter eingeschränkt werden können. Nachdem dieses Jahr bereits Verschärfungen beschlossen und kurz darauf die Bezahlkarte eingeführt worden ist, stehen nun Leistungskürzungen oder sogar der komplette Ausschluss für „Dublin-Fälle“ zur Diskussion.

Die Forderung, Leistungen für sogenannte „Dublin-Fälle“ zu kürzen bzw. ganz auszuschließen, hat nach dem islamistischen Terrorangriff von Solingen Eingang in das „Sicherheitspaket“ der Bundesregierung gefunden. Schutzsuchende, für die laut Dublin-III-Verordnung ein anderer EU-Mitgliedstaat zuständig ist, sollen demnach künftig keine oder gekürzte Sozialleistungen erhalten, wenn der zuständige Mitgliedsstaat der Rückübernahme zugestimmt hat. Unklar ist bislang, ob Leistungskürzungen oder sogar ein Leistungsausschluss für „Dublin-Fälle“ geplant sind. Sicher ist hingegen, dass eine weitere Einschränkung von Sozialleistungen keinen Beitrag zur inneren Sicherheit leistet.

Die aktuelle politische Debatte zeugt in erster Linie von Unkenntnis der aktuellen Rechtslage und der Lebenssituation von Asylsuchenden und geduldeten Menschen in Deutschland. Deren soziale Rechte sind durch das Sondersozialgesetz des AsylbLG bereits jetzt empfindlich beschränkt. Neben der bedenklich eingeschränkten Gesundheitsversorgung nach § 4 Abs. 1 AsylbLG sind Leistungskürzungen, wie sie nun einmal mehr gefordert werden, im Kern bereits gesetzlich normiert und rechtlich seit jeher höchst umstritten. In § 1a Abs. 7 AsylbLG ist dabei schon jetzt die Möglichkeit geregelt, Personen im Dublin-Verfahren lediglich stark eingeschränkte Sozialleistungen zu gewähren. Die Regelung kommt jedoch aus guten Gründen selten zur Anwendung. Wie auch die Vorschläge zum vollständigen Leistungsausschluss, ist sie nämlich nicht mit der sehr klaren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinbar. Zur Erläuterung hilft ein Blick auf die wegweisende Rechtsprechung zur Thematik.

Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum

Aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz, also der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip, hat das Bundesverfassungsgericht einen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums abgeleitet. Dieses Grundrecht wurde vom Bundesverfassungsgerichts 2010 in einer Entscheidung zu den Regelleistungen nach SGB II (bekannt als Hartz IV-Gesetz) entwickelt (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09)Es soll neben der physischen Existenz auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben sichern.

In seinem Urteil 2012 zum AsylbLG (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – BvL 10/10) stellte das Bundesverfassungsgericht dann klar:

„Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum steht als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Der Gesetzgeber darf bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren“ (Rn. 89 f.).

Ausgang waren zwei Verfahren und anschließende Vorlagebeschlüsse, die aus Mitteln des Rechtshilfefonds der Nichtregierungsorganisation PRO ASYL unterstützt wurden. Das zuständige Landessozialgericht setzte beide Verfahren aus und legte sie dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor, da es die streitenscheidenden Normen – insbesondere hinsichtlich der Höhe der Leistungen – für verfassungswidrig hielt. Das Bundesverfassungsgericht hatte also zu entscheiden: Waren die damals geltenden Regelungen des AsylbLG mit dem Grundgesetz vereinbar?

Die Antwort in einem Satz zusammengefasst: Nein das waren sie nicht. Die seit der Einführung im Jahr 1993 nicht angepassten Leistungen im AsylbLG seien unzureichend. Von größerer Bedeutung war jedoch die folgende Klarstellung:

„Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ (Rn. 95).

 Geringere Leistungen können nur im Zuge einer nachvollziehbaren Bedarfsermittlung, welche einen tatsächlich geringeren Bedarf feststellt, gerechtfertigt werden (Rn. 91 ff.). Dies muss insbesondere mit Blick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den damaligen Hartz IV-Sanktionen gelten, in welcher das Gericht die Höhe des Regelsatzes für Leistungen nach SGB II als zur Existenzsicherung notwendiges Minimum beurteilte (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16). Bereits die Regelleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG liegen unter dem Regelsatz des SGB II (früher Hartz 4, heute Bürgergeld).

Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG

Auch zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit von Leistungen nach § 1a AsylbLG hat sich das Bundesverfassungsgericht bereits in der Vergangenheit geäußert.  Es bezog sich dabei auf die alte Fassung der Vorschrift des § 1a Nr. 2 AsylbLG (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2021 – 1 BvR 2682/17, Rn. 1-26) und führte dort aus, dass eine Leistungskürzung in bestimmten Fällen zwar gerechtfertigt sein könne, eine pauschale Leistungskürzung jedoch nicht mit dem Recht auf die Gewähr eines soziokulturellen Existenzminiums vereinbar sei.

Die geltende Fassung des § 1a AsylbLG beschränkt den Leistungsanspruch auf Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft, einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege. Es umfasst damit ausschließlich Leistungen zum physischen Überleben. Leistungen, die soziokulturelle Teilhabe betreffen, sind nicht vorgesehen und auch nicht erreichbar. Denn die Beantragung zusätzlicher Leistungen über die Norm des § 6 AsylbLG ist ausgeschlossen. Damit ist bereits die derzeitige Fassung des § 1a AsylbLG nicht verfassungskonform.

In diesem Lichte stellen sich jegliche derzeit diskutierten Rufe nach Leistungsausschlüssen bzw. -kürzungen als verfassungswidrig dar.

Leistungskürzungen auch in Dublin-Fällen verfassungswidrig

Zusätzlich ist zu beachten, dass es sich bei § 1a AsylbLG dem Grunde nach um eine Sanktionsnorm handelt. Die Kürzung der Leistungen wird – auch im Falle der Personen im Dublin-Verfahren – damit gerechtfertigt, dass ein vom jeweiligen Ausländer zu vertretendes Verhalten allein dafür ursächlich ist, dass eine Ausreise nicht durchgesetzt werden kann und ein Leistungsanspruch nur deshalb weiter fortbesteht.

In den nunmehr diskutierten Dublin-Fällen kann diese Voraussetzung schon nicht erfüllt sein, da das Dublin-Verfahren keine freiwillige Ausreise in den zuständigen Mitgliedstaat vorsieht, sondern viel mehr eine geordnete Rückführung durch den unzuständigen Mitgliedstaat. Die betroffene Person hat in diesen Fällen demnach keine Möglichkeit, den Kürzungsgrund, die Unzuständigkeit der Bunderepublik,  durch eigene Mitwirkungshandlung entfallen zu lassen. Selbst wenn das möglich wäre bzw. die Ausreise als Mitwirkungspflicht gefasst wird: Die per Sanktion geforderte Verhaltensänderung würde darauf abzielen, dass der Anspruch verloren ginge, um den es geht. Unabhängig davon und insbesondere mit Blick auf den diskutieren vollständigen Leistungsausschluss gilt das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums für alle Menschen, solange wie sie sich tatsächlich im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten.

Dem Einwand, dass die betreffenden Personen doch auch in einem anderen Mitgliedstaat der EU Zugang zu Sozialleistungen hätten, ist entgegenzuhalten, dass dieser nicht in allen Mitgliedsstaaten ohne Weiteres gewährt ist. In der Vergangenheit wurde in verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten wiederholt das Vorliegen systemischer Mängel, also von Zuständen die nicht mit Art. 3 EMRK vereinbar sind, festgestellt.  Unter diesen fällt auch der Schutz des menschenwürdigen Existenzminimums. In der Folge wurden Überstellungen in diese Mitgliedstaaten ausgesetzt. Mit Nichten kann also ohne weitere Prüfung davon ausgegangen werden, dass existenzsichernde Leistungen in jedem Mitgliedstaat zur Verfügung stehen. Auch im zuletzt häufig in Rede stehenden Mitgliedsstaat Bulgarien ist ein menschenwürdiges Existenzminimum für geflüchtete Menschen eben nicht garantiert.

An Grundrechten festhalten und Menschenrechte verteidigen

Die Forderungen, Sozialleistungen für geflüchtete Menschen im Dublin-Verfahren noch weiter zu kürzen oder sie sogar davon auszuschließen, sind mit dem Grundgesetz und der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum menschenwürdigen Existenzminimum mit Sicherheit nicht vereinbar. Denn aktuell gilt schlicht: Das Recht auf Gewähr eines menschenwürdigen Existenzminimums gilt für alle Menschen, die sich in Deutschland aufhalten, gleichermaßen. Und das unabhängig davon, welchen Aufenthaltsstatus sie innehaben.

Jenseits der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss in Hinblick auf die aktuellen gesellschaftlichen und medialen Debatten offenbar zudem in Erinnerung gerufen werden, dass es bei der „Migrationsdebatte“ oder „Dublin-Fällen“ in erster Linie um Menschen geht. Sie als solche anzuerkennen ist banal und elementar zugleich. Daran erinnern zu müssen, zeigt bereits, wie sehr extrem rechte Positionen erstarkt sind und sich normalisiert haben. Es bleibt zu hoffen, dass es auch in Zukunft ausreichend Personen und Initiativen geben wird, die dem etwas entgegensetzen und an menschenrechtlich gut begründeten Grundsätzen festhalten.

 


SUGGESTED CITATION  Därr, Leonie; Franke, Hannah: Mit Sicherheit nicht: Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht relativierbar, VerfBlog, 2024/9/09, https://verfassungsblog.de/leistungskurzungen-dublin/, DOI: 10.59704/b2de951a146300f6.

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