Maßstabssetzung durch Subsumtion
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Äußerungsbefugnissen der Bundeskanzlerin
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts können aus unterschiedlichen Gründen von Interesse für die breite Öffentlichkeit, den politischen Diskurs und die Verfassungsrechtswissenschaft sein. Auf besonderes Interesse trifft eine Entscheidung regelmäßig, wenn sie sich auf einen politisch brisanten Sachverhalt bezieht. Dann wird die Feststellung der Verfassungswidrigkeit vielfach als politisches Scheitern insbesondere der Regierung bzw. der die Regierung tragenden Parteien verstanden, und der Vorwurf des Verfassungsverstoßes lässt sich parteipolitisch ausschlachten. Die Verfassungsrechtswissenschaft schaut demgegenüber regelmäßig zielgerichtet auf die Aussagen, die das Gericht im Maßstabsteil „C.I.“ trifft, mit Blick darauf, ob verfassungsrechtliche Auslegungsfragen erstmals grundlegend geklärt oder verfassungsrechtliche Maßstäbe konkretisiert oder modifiziert werden.
Wenig Neues aus Karlsruhe?
Gemessen an diesem Erwartungshorizont ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Juni 2022, nach der Äußerungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020 wegen Verletzung des Rechts auf Chancengleichheit der Parteien verfassungswidrig waren, eigentlich eher uninteressant. Sicher, der Aufschrei darüber, dass ein Kandidat der FDP im dritten Wahlgang mit den Stimmen der CDU und der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, war groß. Aber dass nun mehr als zwei Jahre später festgestellt wurde, dass die Bundeskanzlerin gegen das Grundgesetz verstoßen hat, als sie auf einer Pressekonferenz in Südafrika das Zusammenwirken der thüringischen CDU mit der AfD kritisiert und dazu aufgerufen hat, das Ergebnis rückgängig zu machen, wird wohl kaum spürbare Konsequenzen nach sich ziehen. Nicht nur, dass die Bundeskanzlerin ihrer Amtsbezeichnung mittlerweile ein „a.D.“ hinzufügen muss, auch das politische Kapital, das die AfD oder irgendwer sonst aus dieser höchstrichterlichen Feststellung des Verfassungsverstoßes ziehen kann, dürfte überschaubar sein. Und nicht einmal die Erstattung ihrer notwendigen Auslagen hat der Senat der Antragstellerin zugesprochen.
Auf den ersten Blick stellt das Urteil auch keine Grundsatzentscheidung dar, die grundlegende Verfassungsfragen klärt oder modifiziert. Und das ist auch wenig verwunderlich, hat das Bundesverfassungsgericht die Maßstäbe für die Zulässigkeit politischer Äußerungen von Regierungsmitgliedern doch erst in den Jahren 2014, 2018 und 2020 in den Fällen Schwesig, Wanka und Seehofer entwickelt, bekräftigt und geschärft. Schon die Seehofer-Entscheidung brachte eigentlich nur noch wenig Neues. Dementsprechend beschränken sich weite Teile der Entscheidungsbegründung im Maßstabsteil „C.I.“ auf die Übernahme wesentlicher Begründungsbestandteile der drei vorangegangenen Entscheidungen (wesentliche Stichworte zur Erinnerung: offener Prozess der politischen Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen, Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe der Parteien am politischen Wettbewerb, Neutralitätspflicht von Staatsorganen und Verbot der Parteinahme während und außerhalb des Wahlkampfes, Doppelrolle als Regierungsmitglied und Parteipolitiker, Verbot des Rückgriffs auf Autorität oder Ressourcen des Regierungsamts). Bereits etabliert ist auch die Betonung, dass sich die Bestimmung, ob die Äußerung eines Regierungsmitglieds unter Inanspruchnahme von Autorität oder Ressourcen des Regierungsamtes erfolgt, nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls richtet.
Neu ist hingegen erstens die unter Berufung auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz von 2014 erfolgende explizite Betonung, dass bei dieser Bestimmung die Perspektive eines mündigen, verständigen Bürgers zugrunde zu legen ist. Die Bezugnahme auf diese Figur ist dabei nicht unproblematisch, weil sie die notwendigerweise subjektiv geprägte Einschätzung der Richterinnen und Richter, wie sich etwas aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger darstellt, mit dem Anschein der Objektivität überzieht. Doch auch jenseits dieser Kritik scheint mit der Bezugnahme auf diese Figur in der Sache kein Unterschied zur bisherigen Rechtsprechung verbunden zu sein, da nicht ersichtlich ist, welche Perspektive der Senat zuvor vor Augen hatte, wenn er auf die Sicht der Bürgerinnen und Bürger abgestellt hat, um zu entscheiden, ob eine Äußerung in Wahrnehmung des Amtes stattgefunden hat. Das Gericht rekurriert dann auch im vorliegenden Urteil in der Sache im Wesentlichen auf die Maßstäbe, die es in den vorherigen Entscheidungen zur Abgrenzung aufgestellt hat.
Neu ist zweitens die explizite Anerkennung, dass die Neutralitätspflicht auch für die Bundeskanzlerin (und damit nun auch den Bundeskanzler) gilt. Da die Rechtsprechung immer schon auf Regierungsmitglieder allgemein bezogen war, stand allerdings ohnehin nicht zu vermuten, dass das Bundesverfassungsgericht gänzlich andere Maßstäbe an Äußerungen der Bundeskanzlerin anlegen würde als an Ministerinnen und Minister.
Und neu bzw. maßgeblich gegenüber früheren Entscheidungen erweitert ist drittens die Möglichkeit der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Chancengleichheit der Parteien aus Gründen von besonderem Gewicht (dazu auch Bent Stohlmann). Mit dem Schutz der Handlungsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung und dem Ansehen und Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik in der Staatengemeinschaft entfaltet der Senat dabei zwei eher hoch aufgehängte mögliche Rechtfertigungsansätze, die im vorliegenden Fall nach Auffassung des Gerichts auch keine Rechtfertigung zu begründen vermochten (zu Recht kritisch im Hinblick auf den politischen Einschätzungsspielraum der Regierung Fabian Michl). Und auch den dritten, schon in früheren Entscheidungen dem Grunde nach anerkannten möglichen Rechtfertigungsgrund, das Recht der Bundesregierung, im Rahmen der Informations- und Öffentlichkeitsarbeit für Grundsätze und Wertentscheidungen der Verfassung einzustehen und sich daher mit verfassungsfeindlichen Parteien zu befassen, schränkt das Gericht umgehend wieder ein, wenn es betont, dass die Regierung dabei nicht zielgerichtet in den Wettbewerb der politischen Parteien eingreifen darf. Eine erhebliche Erweiterung des Handlungsspielraums der Regierung ist mit der Anerkennung dieser drei möglichen Rechtfertigungsgründe daher kaum verbunden, wenngleich der Senat im Rahmen der Ausführungen zum dritten Rechtfertigungsgrund anerkennt, dass Äußerungen zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen zulässig sein können. Was genau diese Ausnahme umfasst, bleibt einstweilen offen.
Eine abweichende Meinung, drei Gegenstimmen: Ankündigung eines Kurswechsels?
Im Übrigen stand freilich nicht zu vermuten, dass der Senat in grundlegender Weise mit seiner noch jungen Rechtsprechung brechen würde. Neben den angesprochenen zum Teil eher klarstellenden, zum Teil noch wenig konturierten Neuheiten ist daher im Zusammenhang mit den verfassungsgerichtlichen Maßstäben das Sondervotum der Richterin Wallrabenstein von größtem Interesse. Waren die Entscheidungen von 2014, 2018 und 2020 noch einstimmig bzw. ohne Mitteilung des Stimmverhältnisses ergangen, so wendet sich das dienstjüngste, an den damaligen Entscheidungen noch nicht beteiligte Senatsmitglied nun grundlegend und mit durchaus scharfem Ton gegen die verfassungsgerichtliche Statuierung einer Neutralitätspflicht für Regierungsmitglieder. In der Sache bringt Richterin Wallrabenstein die im Schrifttum vorgebrachten Einwände (unter anderem hier, hier, hier und hier) gegen die Begründung und die Konturen der Neutralitätsrechtsprechung konzise auf den Punkt. Damit hat diese Kritik nun Eingang in die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung gefunden, wenngleich – zumindest vorerst – nur in Form eines Sondervotums.
Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die Entscheidung mit 5:3 Stimmen ergangen ist. Angesichts der Tatsache, dass im Fall von Stimmengleichheit ein Verstoß gegen das Grundgesetz nicht festgestellt werden kann (§ 15 Abs. 4 Satz 3 BVerfGG), hätte also eine einzige weitere Gegenstimme zu einem anderen Ergebnis geführt. Das ist insoweit durchaus bemerkenswert, als vor der Verkündung des Urteils im verfassungsrechtlichen Diskurs – zumindest meiner Wahrnehmung nach – die Einschätzung vorherrschte, dass die Äußerung der Bundeskanzlerin im Lichte der verfassungsgerichtlichen Maßstäbe recht klar verfassungswidrig gewesen sei.
Läutet das knappe Abstimmungsergebnis nun eine Kehrtwende der verfassungsgerichtlichen Neutralitätsrechtsprechung ein, insbesondere vor dem Hintergrund der zeitnah anstehenden Neubesetzungen im Zweiten Senat? Das ist nicht mit Gewissheit zu prognostizieren, nicht nur weil wir nicht wissen, welche weiteren Senatsmitglieder gegen die Entscheidung gestimmt haben, sondern auch und insbesondere, weil nicht mitgeteilt wird, warum sie der Senatsmehrheit nicht zugestimmt haben. Die negative Stimmabgabe kann sich theoretisch sowohl auf die Zulässigkeit als auch auf die verfassungsrechtlichen Maßstäbe – und hier wiederum in grundsätzlicher Weise oder mit Blick auf einzelne Konkretisierungen wie etwa die Anwendung auf die Bundeskanzlerin – als auch auf die Subsumtion beziehen. Da die Zulässigkeit wenig problematisch erscheint und die beiden nicht identifizierten und begründungslos abweichenden Senatsmitglieder jedenfalls an der Seehofer-Entscheidung, vielleicht sogar an allen drei Vorentscheidungen beteiligt gewesen waren, ist allerdings wenig wahrscheinlich, dass ihre Entscheidung Ausdruck grundlegender Missbilligung der verfassungsgerichtlichen Maßstäbe war. Ansonsten hätten sie sich dem Sondervotum Wallrabenstein wohl anschließen können. Wenig naheliegend erscheint auch, dass sich die Gegenstimmen auf die Erstreckung der Neutralitätsrechtsprechung auf die Bundeskanzlerin beziehen.
Die Subsumtion als eigentlich maßstabsbildender Beitrag der Entscheidung
Am wahrscheinlichsten erscheint mir daher, dass der Widerspruch der zwei weiteren Senatsmitglieder sich nicht auf die vom Verfassungsgericht entwickelten Maßstäbe, sondern auf die Subsumtion des Falles unter diese Maßstäbe bezieht. Und auch ungeachtet dieser Spekulation erweisen sich bei näherer Betrachtung die Ausführungen zur Subsumtion („C.II.“) als eigentlich interessanter Teil der Entscheidungsbegründung. Denn entgegen der Teilung in „C.I.“ und „C.II.“ zeigen erst die Ausführungen im Rahmen der Subsumtion, welche Maßstäbe das Bundesverfassungsgericht konkret an die Entscheidung anlegt, ob eine Äußerung in Wahrnehmung des Amtes erfolgt und welches Maß an Zurückhaltung dann erforderlich ist.
Im Fall Schwesig war das Bundesverfassungsgericht davon ausgegangen, dass ein Wahlaufruf gegen die NPD, den die damalige Bundesfamilienministerin im Rahmen eines Interviews getätigt hatte, nicht unter Nutzung der staatlichen Autorität oder Ressourcen ihres Amtes erfolgt war. In den Fällen Wanka und Seehofer hingegen wertete das Gericht auf der Homepage des jeweiligen Ministeriums veröffentlichte Pressemitteilungen bzw. Interviews als spezifischen Rückgriff auf die Ressourcen des Amtes und damit als Verstoß gegen die Neutralitätspflicht. Die Ausführungen im vorliegenden Fall zeigen noch deutlicher, welch hohe Anforderungen der Senat an die Annahme knüpft, dass ein Regierungsmitglied sich nicht in amtlicher Funktion, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson äußert. Das Gericht stellt maßgeblich auf die Umstände der Äußerung ab: den ausschließlich amtsbezogenen Rahmen einer Regierungspressekonferenz im Rahmen eines Staatsbesuchs in Südafrika, vor den Flaggen der Bundesrepublik Deutschland und Südafrikas und unter Anrede als (wie auch sonst?) „Kanzlerin“ durch den Präsidenten Südafrikas. Vor diesem Hintergrund sieht das Gericht nicht, dass die Bundeskanzlerin sich im Rahmen ihrer Äußerungen so klar von ihrem Amt distanziert habe, dass diese als „nicht-amtlich“ und parteipolitisch qualifiziert werden könnten. Das ist insofern bemerkenswert, als die Bundeskanzlerin in den vier im Tenor der Entscheidung zitierten, streitgegenständlichen Sätzen dreimal die CDU erwähnt, von der Grundüberzeugung der Partei spricht und sich konkret auf das von ihr erwartete Verhalten der CDU bezieht. Auch die Tatsache, dass die Frage der Regierungsbildung in Thüringen sich der konkreten Regelungszuständigkeit der Bundeskanzlerin entzieht, steht dem Bundesverfassungsgericht zufolge der Annahme amtlicher Tätigkeit nicht entgegen. Daran ist sicherlich richtig, dass sich die Regierungstätigkeit und ihre politische Bedeutung nicht auf die Ausübung der Bundesregierung grundgesetzlich zugewiesener Organkompetenzen im Rahmen der Verbandskompetenzen des Bundes beschränken. Es zeigt aber die problematische Reichweite der Neutralitätsrechtsprechung auf, die eigentlich jegliche politische Äußerung der Bundeskanzlerin zu einer Äußerung in amtlicher Tätigkeit macht. Sofern nicht eine hinreichende Distanzierung ausnahmsweise den amtlichen Charakter der Äußerung entfallen lässt.
Damit weist die Entscheidung im Subsumtionsteil auf ein Kernproblem der verfassungsrechtlichen Neutralitätsmaßstäbe hin, nämlich die Vorstellung der Möglichkeit einer weitgehend eindeutigen Zuordnung sowie sauberen Trennbarkeit von Äußerungen in den Funktionen Regierungsamt, Parteipolitikerin und Privatperson. Denn das Bundesverfassungsgericht will zu Recht weder der Bundeskanzlerin noch anderen Regierungsmitgliedern die Befugnis absprechen, sich in parteipolitischer oder privater Funktion zu äußern. Die Anforderungen daran, dass keine amtliche Äußerung vorliegt, sind allerdings denkbar hoch, insbesondere vor dem Hintergrund des vom Bundesverfassungsgericht zugrunde gelegten weiten Verständnisses von Regierungstätigkeit.
Der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, es sei der Bundeskanzlerin „unbenommen gewesen, mit hinreichender Klarheit darauf hinzuweisen, dass sie sich zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen nicht in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson äußern werde“, wirft dann die Frage auf, wie klar ein solcher Rollenwechsel zum Ausdruck gebracht werden muss. Offensichtlich reichte die eindeutige Kennzeichnung der Äußerung als Vorbemerkung zur Pressekonferenz ebenso wenig aus wie der klare parteipolitische Bezug. So hätte die Bundeskanzlerin wohl explizit sagen müssen, dass sie sich nun nicht in ihrer Funktion als Bundeskanzlerin, sondern als Parteipolitikern äußert. Ob ein solcher formaler Disclaimer wirklich dazu geeignet wäre, den Bezug einer Äußerung zur amtlichen Autorität zu kappen, darf bezweifelt werden. Der Senat bezieht sich in diesem Zusammenhang mehrfach auf die „Sicht eines verständigen Bürgers“, und hier wirkt sich die Problematik dieser Rechtsfigur am deutlichsten aus: Der Senat kann nur postulieren, nicht aber begründen oder intersubjektiv vermitteln, dass aus der Sicht dieses (Ideal-?)Bürgers oder Bürgerin ein explizit gemachter Rollenwechsel notwendig ist, um eine Äußerung der Parteipolitikerin und nicht der Bundeskanzlerin Merkel zuzuordnen. Genauso plausibel erscheint mir, dass das Aussprechen des Rollenwechsels die Adressatinnen und Adressaten einer Äußerung erst recht darauf aufmerksam macht, dass hier die Bundeskanzlerin spricht. Besser begründen als der Senat kann ich das aber auch nicht. Ich weiß schlicht nicht, ob und wie verständige Bürgerinnen und Bürger zwischen einer Bundeskanzlerin als Bundeskanzlerin und einer Bundeskanzlerin als Parteipolitikerin unterscheiden können oder tatsächlich unterscheiden. Anhaltspunkte dafür, dass die Senatsmitglieder insofern über überlegenes Wissen verfügen, sind aber auch nicht wirklich ersichtlich. Jedenfalls finden sie keinen Niederschlag in der Begründung, was wohl auch schwierig wäre.
Die Problematik der Maßstäbe zeigt sich auch an den Ausführungen des Senats dazu, dass die in amtlicher Funktion getätigte Äußerung der Bundeskanzlerin eine negative Qualifizierung der Antragstellerin und damit eine einseitige Einwirkung auf den Parteienwettbewerb dargestellt habe. So sollte die Bundeskanzlerin als Parteipolitikerin wohl durchaus die Kooperation mit der AfD ausdrücklich ausschließen und auf die mit dieser Partei und einer Kooperation mit ihr verbundenen Gefahren für die Demokratie hinweisen dürfen. In ihrer Rolle als Bundeskanzlerin durfte sie das aber nicht. Erscheint es realistisch, dass verständige und mündige Bürgerinnen und Bürger diese Differenzierung gedanklich mitgehen? Dass sie, wenn sie am Dienstag Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, sehen, vergessen haben oder bewusst ausblenden, dass Angela Merkel, das Mitglied des Präsidiums und Bundesvorstands der CDU, sich am Montag kritisch über die AfD geäußert hat? Das scheint mir nicht nur die kognitiven Fähigkeiten mündiger und verständiger Bürgerinnen und Bürger nicht richtig abzubilden, sondern darin kommt auch ein wenig überzeugendes Verständnis der Autorität des Regierungsamtes zum Ausdruck. Dieser soll man sich nicht nur für bestimmte Zeitabschnitte entledigen können – am besten durch explizite Kundgabe, dass man das tut –, sondern sie soll auch völlig unbefleckt davon bestehen, wie sich die Inhaberin des Regierungsamtes in parteipolitischer oder privater Hinsicht positioniert.
Kritik der Maßstäbe im Lichte der Subsumtion
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seinem jüngsten Urteil die Maßstäbe der Neutralitätsrechtsprechung nicht entschieden weiterentwickelt oder modifiziert, so lassen die Ausführungen im Subsumtionsteil doch noch klarer erkennen, wie der Senat – oder zumindest eine Mehrheit von fünf Senatsmitgliedern – diese Maßstäbe versteht: Die Anforderungen daran, dass eine Äußerung einer Amtsträgerin nicht in amtlicher Funktion erfolgt, sind hoch. Und die Qualifizierung einer Äußerung als amtlich zieht weitreichende und strenge Neutralitätsanforderungen nach sich. Neben dem Ertrag für das Verständnis der Maßstäbe bestätigen die Ausführungen im Rahmen der Subsumtion meines Erachtens die grundsätzliche Kritik an dieser Rechtsprechung, wie sie im Schrifttum hervorgebracht wird und nun im Sondervotum Wallrabenstein zum Ausdruck gelangt. Diese richtet sich unter anderem gegen die Vorstellung einer möglichen Trennung von Amtsträgerin und Parteipolitikerin, auch und gerade in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger, sowie gegen ein mechanistisches Verständnis amtlicher Autorität, die man je nach Zusammenhang in Anspruch nehmen oder – durch bloßen Hinweis – ablegen kann. Eine stärkere Anerkennung des in der Parteiendemokratie bestehenden engen Zusammenhangs zwischen der Wahrnehmung des Regierungsamts und der parteipolitischen Positionierung und ein stärkeres Vertrauen in die verständigen und mündigen Bürgerinnen und Bürger, dass sie sich dieses Zusammenhangs bewusst sind, führte zu einer Abkehr von der Neutralitätsrechtsprechung. Was bliebe, wäre die Beschränkung dieser Rechtsprechung auf den missbräuchlichen Zugriff auf die mit dem Amt zur Verfügung stehenden Ressourcen, der aber – anders als das Bundesverfassungsgericht meint – über die bloße Nutzung der behördlichen Internetpräsenz hinausgehen muss.
Vielleicht können das Sondervotum, das Stimmverhältnis und das zweifelhafte Subsumtionsergebnis daher doch als Auftakt zu einem Rechtsprechungswandel angesehen werden. Für den politischen Diskurs in der Bundesrepublik wäre das meines Erachtens ein Gewinn, ebenso wie für die Möglichkeit einer deutlichen und unbefangenen Positionierung aller demokratischen Kräfte gegenüber autoritären Bestrebungen zur Verwirklichung des vom Bundesverfassungsgericht nicht nur erlaubten, sondern geforderten Eintretens für die Grundsätze und Werte der Verfassung. Hierfür hat der Senat mit der Anerkennung möglicher Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in die Chancengleichheit der Parteien zwar die Tür geöffnet, bislang allerdings nur einen sehr schmalen Spalt breit. Die Anerkennung, dass Neutralitätsforderungen Äußerungen zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen nicht entgegenstehen, bietet allerdings weiteres Potential. Wenn daher auch kurzfristig keine grundlegende Abkehr von der Neutralitätsrechtsprechung zu erwarten ist, so besteht zumindest ein Anknüpfungspunkt für eine Fortentwicklung der Rechtsprechung, die der Politik größere Handlungsräume eröffnet.