10 November 2022

Mut zur Selbstkorrektur in Straßburg

Der EGMR ändert seine Linie zu Auslieferung bei drohender lebenslanger Haftstrafe

Alles begann im Jahr 1989 mit dem EGMR-Urteil im Fall des deutschen Diplomatensohnes Jens Söring, den der Straßburger Gerichtshof aus irgendwelchen Gründen mit „oe“ schrieb und der daher als der „Fall Soering“ in die Geschichte eingegangen ist. Eine Auslieferung an die USA bei drohender Todesstrafe, so der EGMR damals, verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention – und zwar nicht gegen das Recht auf Leben, denn Art. 2 Abs. 1 Satz 2 EMRK sieht für die „Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist“, sogar ausdrücklich eine Ausnahme vor (an das 6. Zusatzprotokoll über das Verbot der Todesstrafe in Friedenszeiten war das Vereinigte Königreich seinerzeit noch nicht gebunden). Nein, die drohende Auslieferung von Söring, so der EGMR, verstieß gegen Art. 3 EMRK, der Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung verbietet, indem auch das  sog. Todeszellensyndrom („death row phenomenon“) – d.h. die psychischen Schäden, die ein jahrelanges Warten im Todestrakt bei jederzeit möglicher Vollstreckung des Todesurteils mit sich bringt, – vom Gerichtshof hierunter subsumiert wurde. Der Grundgedanke des Soering-Urteils hat später als Art. 19 Abs. 2 GRC Eingang sogar in die Grundrechtecharta gefunden. Söring wurde schlussendlich doch ausgeliefert, nachdem die US-Behörden entsprechende Zusagen gegeben hatten; nach 33 Jahren Haft in den USA gelangte er Ende 2019 nach Deutschland, seine Geschichte ist mittlerweile verfilmt worden („Das Versprechen“, 2016).

Im Jahr 2013 entschied der EGMR dann im Fall Vinter u.a., dass eine Verurteilung zu lebenslanger Haft ohne eine Aussicht auf Entlassung und ohne eine von Beginn an klare und rechtlich festgelegte Möglichkeit der Überprüfung gegen Art. 3 EMRK verstößt. Aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts leuchtet das ohne weiteres ein (hier). Die Aussage des EGMR fiel aber – und das ist wichtig – in einem rein innerstaatlichen Kontext, d.h. anders als Soering betraf Vinter nicht die Auslieferungsperspektive, vielmehr handelte es sich um einen rein britischen Fall. Die Übertragung auf den Auslieferungskontext erfolgte erst ein Jahr später in dem belgischen Fall Trabelsi. Die Argumentation lautete in etwa wie folgt: Art. 3 EMRK ist ein ganz besonderes Recht, denn anders als die meisten anderen Konventionsrechte ist die Bestimmung absolut garantiert. Daraus leitet sich ab, dass Art. 3 EMRK nicht nur in rein innerstaatlichen Fällen zum Zuge kommt, sondern selbst in solchen Auslieferungsfällen, in denen der Zielstaat – wie etwa die USA – nicht an die EMRK gebunden ist. Wenn nun laut dem Urteil Vinter eine Verurteilung zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit einer nachträglichen Reduzierung der Strafe de jure oder de facto in rein innerstaatlichen Konstellationen zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führt, muss Gleiches auch in Auslieferungsfällen gelten.

Urteil im Fall Sanchez-Sanchez

Von diesen Grundsätzen ist die Große Kammer des EGMR in dem am 3. November verkündeten Urteil im Fall Sanchez-Sanchez nunmehr abgerückt. Der Fall betraf – abermals – eine bevorstehende Auslieferung aus dem Vereinigten Königreich in die USA, in diesem Fall wegen eines Drogendeals großen Ausmaßes (u.a. 2613 kg Marihuana, 14 kg Heroin). Der EGMR betont jetzt den Unterschied zwischen rein innerstaatlichen Sachverhalten und Auslieferungsfällen: Während in rein innerstaatlichen Fällen die Verurteilung zu einer lebenslangen Haftstrafe bereits feststehe, handele es sich im Auslieferungskontext um eine bloße Prognose, ob diese Strafe im Zielstaat tatsächlich auch verhängt wird (ein Argument, das die Kammer im Fall Trabelsi noch verworfen hatte). Die im Fall Vinter entwickelten prozeduralen Garantien passten besser zum rein innerstaatlichen Kontext als zum Auslieferungsverkehr: So könne der Staat in einem rein innerstaatlichen Szenario auf einen festgestellten Verstoß gegen Art. 3 EMRK reagieren, indem er ein den Konventionsgarantien entsprechendes Überprüfungsverfahren vorsehe. Die Reduzierung der lebenslangen Freiheitsstrafe stehe damit keineswegs von vornherein fest, sondern sei nur eines von mehreren möglichen Ergebnissen des Überprüfungsverfahrens.

-Mit anderen Worten ist es aus Sicht des EGMR durchaus vorstellbar, dass am Ende eines solchen, den prozeduralen Garantien des Art. 3 EMRK entsprechenden Verfahrens die Entscheidung steht, die lebenslange Freiheitsstrafe werde aufrecht erhalten. Im Unterschied hierzu habe es der um Auslieferung ersuchte Staat nicht in der Hand, das Verfahrensrecht im Zielstaat zu ändern. Bei einer 1:1-Übertragung der Vinter-Kriterien auf den Auslieferungsverkehr bliebe daher dem Aufenthaltsstaat nichts anderes übrig, als einen wegen erheblicher Straftaten Verdächtigen laufen zu lassen, solange nicht der Zielstaat entsprechende Zusagen der Strafreduzierung gebe. Das, so die Große Kammer, sei mit dem legitimen Interesse der Gesellschaft an einer wirksamen Strafverfolgung nicht zu vereinbaren („Allowing such a person to escape with impunity is an outcome which would be difficult to reconcile with society’s general interest in ensuring that justice is done in criminal cases“, Rn. 94).

Die Entscheidung der 17er-Kammer ist einstimmig ergangen. Das ist durchaus bemerkenswert, wenn man sich vergegenwärtigt, wie divers die Zusammensetzung der Richterschaft am EGMR ist. In der Sache handelt es sich um eine Frage, über die man durchaus geteilter Meinung sein kann: Darf der Menschenrechtsstandard aus Art. 3 EMRK im Hinblick auf die bloße Weigerung des Zielstaates, einen höheren Schutz zu gewährleisten, im Vergleich zu rein nationalen Fällen „abgesenkt“ werden? Die Große Kammer beeilt sich denn auch zu versichern, dass das Urteil keine unterschiedliche Behandlung zwischen innerstaatlichen und Auslieferungsfällen im Hinblick auf das Mindestmaß an Schwere bewirke, welches erforderlich sei, um den Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu eröffnen. Auch betont der EGMR das Festhalten an der Soering-Rechtsprechung. Hinter diese affirmativen Aussagen kann man getrost ein gewisses Fragezeichen setzen, denn natürlich bewirkt Sanchez-Sanchez, dass die Betroffenen in Auslieferungsfällen schlechter stehen als in rein innerstaatlichen Sachverhalten. Dass es für die unterschiedliche Behandlung gute Gründe geben mag, steht auf einem anderen Blatt.

Auffällig ist weiterhin, dass die Große Kammer in Sanchez-Sanchez eine ausdrückliche Abkehr von Trabelsi ausspricht („the Court considers that Trabelsi should be overruled“, Rn. 98). In diesem Punkt unterscheidet sich der EGMR durchaus wohltuend von der Spruchpraxis seines Schwestergerichts, des EuGH. Im Gegensatz zu diesem ist der EGMR nämlich durchaus bereit, Kurskorrekturen offen zu benennen, statt sie hinter dem Deckmantel eines „Das haben wir doch schon immer so entschieden“ zu  verschleiern. Der Begründungsstil des EGMR ist insoweit offener und diskursiver als derjenige des Luxemburger Gerichtshofs. Eingebunden in diesen Diskurs waren dabei auch die nationalen Gerichte (dazu sogleich). Der Fall Sanchez-Sanchez ist daher neben der rein inhaltlichen Frage noch im Hinblick auf das interinstitutionelle Verhältnis von EGMR und nationaler Gerichtsbarkeit von Interesse.

Der interinstitutionelle Aspekt

Nach Trabelsi stellte sich für die Gerichte im Vereinigten Königreich die Frage, wie mit dieser EGMR-Rechtsprechung umzugehen sei. Die Gerichte bemühten sich dabei zu begründen, dass Trabelsi offenbar nicht so gemeint sei, wie es auf den ersten Blick erscheine. Der EGMR habe ja in Trabelsi lediglich formuliert, eine nicht reduzierbare lebenslange Freiheitsstrafe könne die Frage der Vereinbarkeit mit Art. 3 EMRK aufwerfen („may raise an issue under Article 3“, Rn. 112). Auch sei die frühere Rechtsprechung im Fall Kafkaris nicht revidiert worden, und dort habe der EGMR immerhin die lebenslange Freiheitsstrafe für prinzipiell mit Art. 3 EMRK vereinbar gehalten. Mit anderen Worten vermieden es die englischen Gerichte, dem EGMR offen die Gefolgschaft zu verweigern, sondern beschränkten sich auf das, was Ed Bates so schön mit den Worten „Please think again“ zum Ausdruck gebracht hat. Darin unterscheidet sich die Reaktion der englischen Gerichte signifikant von der Reaktionsweise insbesondere des polnischen Verfassungsgerichts, das auf die Straßburger Kritik an dem viel zu weitgehenden Justizumbau in Polen gleich mit der Ultra-vires-Keule meinte antworten zu müssen (hier, hier, hier sowie in Heft 3 der ZaöRV 2022).

Der Umgang der englischen Justiz ist zugleich ein Beleg dafür, dass es eine rechtliche Bindungswirkung von EGMR-Urteilen über den entschiedenen Fall hinaus im Grundsatz nicht geben kann. Gem. Art. 46 Abs. 1 EMRK bindet ein Urteil die an dem Verfahren Beteiligten, d.h. den jeweiligen Beschwerdeführer und den betroffenen Staat – nicht aber die anderen Konventionsstaaten. Ein Teil der Literatur (z.B. hier) spricht sich freilich für eine Erga-omnes-Wirkung von EGMR-Urteilen in dem Sinne aus, dass nicht nur der unterlegene Staat, sondern alle Konventionsstaaten an die Rechtsausführungen eines Urteils gebunden seien. Wäre man davon im Fall Trabelsi ausgegangen, so hätte dies zur Konsequenz gehabt, dass die englischen Gerichte nur um den Preis eines offenen Verstoßes gegen die völkerrechtliche Bindungswirkung von dem (Kammer-)Urteil Trabelsi hätten abweichen können. Hätten sie umgekehrt dem Urteil Trabelsi Folge geleistet, wäre der Fall Sanchez-Sanchez mangels Beschwer des Betroffenen nie vor den EGMR gelangt, und dieser hätte keine Gelegenheit erhalten, seine eigene Rechtsprechung zu überdenken. Der EGMR-Rechtsprechung drohte auf diese Weise eine nicht unerhebliche Verkrustung.

Diesen Nachteil vermeidet diejenige Auffassung, die zwischen der echten Bindungswirkung („res judicata“) und einer darüber hinausgehenden „weichen“ Bindungswirkung („res interpretata“) unterscheidet. Das Bundesverfassungsgericht hat dafür den Begriff der „Orientierungswirkung“ geprägt (hier, hier). Bei einer solchen weichen Bindungswirkung sind die Gerichte in einem anderen als dem entschiedenen Fall berechtigt, eine vom EGMR abweichende Rechtsposition einzunehmen. Sie tun dies gewissermaßen auf eigenes Risiko, denn selbstverständlich besteht eine gewisse Vermutung dafür, dass der EGMR an einer einmal eingenommenen Rechtsposition auch später festhält. In Stein gemeißelt ist das aber nicht, und so gibt es auch andere Fälle, in denen die Große Kammer des EGMR auf die Kritik seitens der nationalen Justiz bereit war, eine zunächst eingeschlagene Rechtsprechung noch einmal zu überdenken und stärker auszudifferenzieren (zu denken ist hier insbesondere an die berühmte „Al-Khawaja/Horncastle-Saga“). Wichtig erscheint jedenfalls, dass der Dialog zwischen dem EGMR und den nationalen Gerichten nicht abreißt, und so betonte der scheidende EGMR-Präsident Spano im Gespräch mit Mikael Rask Madsen erst kürzlich die Wichtigkeit des Superior Courts Network, das in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat (bei 2‘15‘‘).

Das vorstehend skizzierte Szenario könnte zugleich eine Blaupause für die Lösung des deutschen Beamtenstreikfalles sein. Dieser Fall ist derzeit vor der Großen Kammer anhängig. Hintergrund sind zwei türkische Fälle (hier und hier), aus denen sich – möglicherweise wiederum überschießend – herauslesen lässt, dass ein Streikverbot für Beamte generell unverhältnismäßig sei. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinem Urteil aus dem Jahr 2018 bemüht, durch eine umfassende Analyse der EGMR-Rechtsprechung die zwei isolierten Entscheidungen stärker zu kontextualisieren und dadurch zu begründen, dass das Straßburger System flexibel genug für das deutsche Beamtenstreikverbot sei. Das Ringen des Bundesverfassungsgerichts ähnelt insofern dem Bemühen der englischen Gerichte, mit dem Urteil im Fall Trabelsi angemessen umzugehen. Dass sich die Große Kammer im Falle Deutschlands davon überzeugend lässt, ist damit freilich noch nicht ausgemacht. Das wird davon abhängen, ob es der deutschen Regierung gelingen wird, die Straßburger Richter von der inhaltlichen Tragfähigkeit des deutschen (Sonder-)Wegs zu überzeugen. Die Grundvoraussetzungen hierfür stehen aber, das zeigt der Fall Sanchez-Sanchez, insgesamt nicht schlecht.