Nation ist auch im Wahlrecht kein Muss
Über die jüngst verabschiedete Reform des Wahlrechts für den Bundestag wurde bereits viel Tinte vergossen. Einer jahrelangen Blockade, die ganz offensichtlich auf sturem parteipolitischem Kalkül fußte, folgt nun die heiß ersehnte Bundestagsverkleinerung, jedoch auf eine Art gestaltet, nach der zwei Oppositionsparteien bei der nächsten Wahl aus dem Bundestag fliegen könnten. Mancher sagt, wer Schlechtes denkt, der sündigt, aber errät oft das Richtige. Alles in allem kein schöner Zug.
Die Abschaffung der Grundmandatsklausel ließ und lässt auch in der Wissenschaft entsprechend viele Argumente hervorkommen, manche verfassungspolitische, manche verfassungsrechtliche. Ein Argument aber, das sowohl in der Bundestagsdebatte als auch in der Öffentlichkeit oft wiederholt wurde und wohl den in den novellierten Gesetzesvorschriften zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des Gesetzgebers ergibt, darf nicht unkommentiert bleiben: Das Argument, dass die nationale Dimension allein aussagekräftig für den politischen Wettbewerb sei und deswegen auch territorial konzentrierte Parteien mit nationalem Messstab zu messen seien.
Dieses Argument steht in einem Spannungsverhältnis mit der Freiheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 S. 1 und 2 GG). Diese schließt natürlich auch die Freiheit mit ein, dass Parteien ausschließlich oder überwiegend in einem oder mehreren Territorien tätig sind und nicht notwendigerweise national organisiert, auftreten oder erfolgreich sein müssen. Die These sei auf angelsächsische Weise vornweg gesagt: Obwohl die Grundmandatsklausel in der bisher geltenden Gestaltung nicht geboten ist, ist eine Form der Berücksichtigung territorialer Parteien verfassungsrechtlich unumgänglich. Dem Gesetzgeber steht wohl das Wie, nicht aber das Ob einer auch wahlrechtlichen Würdigung territorialer Parteien frei. So „sollten regional gebundene Parteien, die auch in einer gesamtdeutschen Nationalversammlung ihren gebührenden Platz beanspruchen dürfen, und nationale Minderheiten nicht ausgeschaltet werden“ (BVerfGE 1, 208/251, unter Berufung auf die Arbeiten des „Königsteiner Kreises“). Und dies hat aufgrund der Chancengleichheit auch Folgen für diejenigen nationalen Parteien, die territoriale Stärke vorweisen können. Aber der Reihe nach.
1. Die Würdigung territorialer Parteien ist verfassungsrechtlich geboten
Parteien sind frei in ihrer Gründung (Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG) und folglich in ihrer Organisation. Die Entscheidung, wie breit das Tätigungsgebiet einer Partei sein soll, ist Sache der Partei selbst. So ist eine Partei bei ihrer Gründung und späterer Organisationsgestaltung unbenommen, ob sie bundeseinheitlich, also national agieren und auftreten möchte, oder nur in Teilen des Bundesgebiets. Diese Entscheidung ist vor allem eine politische, und sie kann sehr wohl mit genuin politischen Vorstellungen zusammenhängen, zum Beispiel mit der parteipolitischen Haltung zum Nationenbegriff oder zum Föderalismus. So gebietet richtigerweise § 7 PartG eine örtliche Gliederung „nach unten“ der Parteien, um deren interne Demokratie zu gewährleisten, schreibt jedoch nicht vor, wie breit sich Parteien „nach oben“ betätigen müssen. Denn Nation ist kein Muss.
Dies soll der Wahlrechtsgesetzgeber auch achten. Da die grundgesetzlich festgelegte Zielsetzung einer Partei die Mitwirkung in Parlamenten ist, muss der Wahlgesetzgeber dem tatsächlichen, frei gewählten Tätigungsgebiet der Parteien Rechnung tragen. Und sowohl aufgrund der „vorgefundenen Wettbewerbslage der Parteien“, die „die öffentliche Gewalt nicht ignorieren oder gar konterkarieren“ darf (BVerfGE 140, 1/24; 69, 92/109), als auch wegen der Freiheit der Parteien, die wohl national aktiv sein können, aber es keineswegs müssen. Entscheidet sich eine Partei in ihrer Gründungs- und Organisationsfreiheit für ein territorial konzentriertes Auftreten, so ist diese territoriale Dimension allein diejenige, an der Stärke und Relevanz dieser Partei gemessen werden dürfen. Oder anders formuliert: Die Relevanz einer Partei, die territorial konzentriert ist, kann wahlrechtlich nicht an ihrem Ergebnis in Landesteilen gemessen werden, in denen sie aufgrund ihrer verfassungsrechtlich freien Organisation nicht aktiv sein will.
Der umgekehrte Fall zeigt es deutlich: Eine Partei existiert nur in einem Bundesland, für die Messung ihrer Relevanz werden jedoch auch die Ergebnisse von Landesteilen einbezogen, in denen sie in Folge ihrer freien Gründung überhaupt nicht existiert und keine Ergebnisse erzielt. Diese Partei hat dann also zwei Wege, um am politischen Wettbewerb weiter teilnehmen zu können: Entweder ihr Tätigungsgebiet auszuweiten oder sich mit einer anderen Partei zusammenzuschließen. Nicht zufällig waren diese beiden Wege als mehr oder weniger nett gemeinte Empfehlungen unter der Kuppel des Bundestages zu hören. Problematisch ist jedoch – und das ist entscheidend – dass beide Wege die freie Gründung und Organisation einer Partei erheblich einschränken, weil sie in die freie Wahl des Tätigungsgebiets oder gar in die selbständige Existenz einer oder mehrerer Parteien direkt eingreifen. Solche Eingriffe in die Parteienfreiheit bedürften einer Rechtfertigung, die es aber nicht gibt. Während der Schutz der innerparteilichen Demokratie den gesetzgeberischen Eingriff in die Organisationsfreiheit „nach unten“ rechtfertigt, ist die nationale Dimension kein Wert, der die Parteienfreiheit einzuschränken vermag.
In diesem Lichte erhält die zum Teil ältere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine neue Aktualität. Karlsruhe thematisierte nämlich bereits in seinem Urteil zum Südschleswigschen Wählerverband von 1952 die Pflicht des Wahlgesetzgebers, territoriale Parteien nicht mit „Splitterparteien“ zu verwechseln, denn allein „zahlenmäßig […] ist das Wesen der Splitterparteien noch nicht erschöpft, [sodass] eine Partei, die in einem lokal abgegrenzten Wahlgebiet stark vertreten ist, repräsentationswürdiger ist als eine Partei, die ihre verstreuten Stimmen aus dem ganzen Lande zusammentragen muss“ (BVerfGE 1, 208/252). Dieser Gedanke stellt nicht bloß eine Nachwirkung „aus der vorhergehenden Epoche des Mehrheitswahlrechts“ dar, sondern ist vielmehr Folge des verfassungsrechtlich notwendigen Respekts für die Freiheit, Parteien nicht national bilden zu müssen. Dies galt zu Weimarer Zeit trotz der Festlegung auf die Verhältniswahl, die gar Verfassungsrang hatte (Art. 22 WRV), und verliert nicht an Gültigkeit, wenn der jetzige Gesetzgeber durch Abschied von der Personenwahl die Verhältniswahl als zentrales Kriterium identifiziert (§ 1 Abs. 2 S. 1 sowie § 4 Abs. 1 S. 1 BWahlG-E; Näheres schrieben Michl/Mittrop hier und hier).
Entscheidet sich der Gesetzgeber für eine Verteilung der Sitze in Bezug auf das ganze Bundesgebiet, muss er Wege finden, um die Parteien adäquat zu berücksichtigen, die aus Ausdruck ihrer Freiheit nicht national sind. Das nicht nur, weil historisch „Parteien mit örtlichen Schwerpunkten […] als bedeutsamer eingestuft“ wurden als homogen kleine Parteien (BVerfGE 95, 408/423), sondern auch weil die Relevanz einer Partei nur dort gemessen werden kann, wo diese in ihrer Freiheit aktiv sein will. Diese Relevanz dort zu messen, wo die Partei nicht existiert, verletzt ihre Freiheit und bringt eine nationale Denkweise zum Ausdruck, die freilich politisch strittig und kein brauchbares juristisches Argument ist. Nicht also ein gutsherrenartiger „Schutz regionaler Parteien“ ist verfassungsrechtlich geboten, sondern Respekt für die Freiheit der Parteien, dort aktiv zu sein, wo sie es wollen, und sich nicht in eine herausgehobene Dimension der Nation einordnen zu müssen.
Das bisherige Wahlrecht gewährleistete diesen Respekt durch die Grundmandatsklausel, die Bezug auf das Personenwahlelement des Systems nahm. Diese war verfassungsrechtlich zulässig, nicht aber in der Form geboten (BVerfGE 9, 408 ff.). Geboten ist jedoch eine adäquate Würdigung der Parteienfreiheit auch in ihrer geografischen Dimension, sie darf nicht „ignoriert oder konterkariert“ werden. Der gegenwärtige Gesetzgeber knüpft an die Länder als eine in mehrfacher Hinsicht entscheidende Dimension des Wahlsystems (Listenaufstellung, Sitzverteilung) an, was mit Blick auf die tragende Bedeutung des Bundesstaatsprinzips richtig erscheint. So kann er sinnvollerweise als Alternative zur abgeschafften Grundmandatsklausel die Relevanz territorialer Parteien auf Ebene der Länder messen. Dies wäre systemisch kohärent und würde auch die Gefahr einer exzessiven Zerkleinerung bannen, denn auch eine territorial konzentrierte Kraft braucht eine angemessene Mindestverbreitung, um politische Relevanz behaupten zu können. Auch in seiner Entscheidung zum SSW 1952 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass „naturgegebene Wahlbereiche“ in der Frage nach „Bedeutsamkeit“ einer Partei relevant sind (BVerfGE 1, 208/254). Solche „Bereiche“ können im föderalen Staat gut mit den Ländern konkretisiert werden. Erhalten territorial gerichtete Parteien einen signifikanten Zuspruch auf die Bundesländer gemessen, wo sie agieren, so ist ihre Ausnahme von einer national tarierten Sperrklausel nicht systemwidrig, sondern systemisch notwendig. Das Wie, nicht das Ob dieser Notwendigkeit steht der einfachgesetzlichen Konkretisierung frei.
2. Notwendige Gleichbehandlung von territorialen Parteien und territorial starken Bundesparteien
Wenn also eine adäquate Würdigung territorialer Parteien notwendig ist, stellt sich die Frage nach der Behandlung derjenigen nationalen Parteien, die territorial unterschiedliche Stärke vorweisen. Denn so wenig der Gesetzgeber den Parteien eine nationale Dimension aufoktroyieren darf, so sehr gebietet staatliche Neutralität eine Gleichbehandlung aller Parteien. Dies soll in der geografischen Dimension bedeuten, dass die Ausnahmen von einer nationalen Sperrklausel, die gemessen an einem Territorium (z.B. ein Bundesland) für territoriale Parteien gelten müssen, auch für national agierende Parteien zu gelten haben, wenn diese im selben Territorium über einen ähnlichen Zuspruch verfügen. Ansonsten würde der Gesetzgeber erneut eine unzulässige Differenzierung anhand der Organisationsform der Parteien vornehmen, nur diesmal zulasten national organisierter Kräfte. Eine solche Ungleichbehandlung stünde ihm aber ebenfalls nicht zu. Macht er eine in der Parteienfreiheit begründeten, territorial konkretisierte Ausnahme von einer nationalen Sperrklausel, soll diese auch aufgrund der Chancengleichheit auch für diejenigen Parteien gelten, die zwar national organisiert, aber nur territorial stark sind.
So zeigt sich auch, wieso die bisherige Grundmandatsklausel eigentlich übers Ziel hinausschoss. Denn sie garantierte, um das gute Beispiel von Thorsten Kingreen zu nehmen, dass „südbadische Linke nur deshalb in den Bundestag einziehen, weil im fernen Berlin ein Parteikollege seinen Kiez erfolgreich bespielt hatte“. Nicht aber der Erhalt dieser Regelung in der bisherigen Form ist verfassungsrechtlich geboten, sondern bei der Systemwahl für eine Verhältniswahl mit national tarierter Sperrklausel eine möglichst klare territorial konkretisierte Ausnahmeklausel, die nicht-nationale Parteien als Solche berücksichtigt und territorial starke Bundesparteien mit diesen gleichbehandelt.
3. Ein Blick nach vorne
Das neue Wahlrecht hätte die Gelegenheit sein können, das vielerorts gewünschte Ziel einer Bundestagsverkleinerung mit fairen Teilnahmebedingungen für alle Parteien zu vereinen. Dies ist nun gescheitert. Problematisch an neuem Recht ist nicht die grundsätzliche Entscheidung für eine Verhältniswahl, sondern das Festhalten an einem diskussionswürdigen Bild der Nation als alleinig aussagekräftige Dimension des politischen Wettbewerbs, unter parteienfreiheitswidriger Nichtberücksichtigung territorialer Parteien und chancengleichheitswidrigem Ausschluss derjenigen nationalen Parteien, die einen vergleichbaren territorial konzentrierten Zuspruch haben. Die bundesweite 5 %-Hürde trifft besonders territoriale Parteien als im Gegensatz zu Splitterparteien verfassungsrechtlich anerkannte Kategorie. Damit verändert der Gesetzgeber die „vorgefundene Wettbewerbslage“ gewaltig. Grund genug, nun schnell an einer Reform der Reform zu arbeiten.
Parteien haben sicherlich die Freiheit, ihre Aktivität auf bestimmte Regionen zu beschränken (oder zu konzentrieren). Das wirkt sich aber natürlicherweise – schon ohne Prozenthürde – nachteilig auf die Erfolgschancen bei Wahlen in einem größerem Maßstab aus. Ebenso gehört es zur Freiheit der Parteien, ihre angesprochene Zielgruppe in anderer Weise zu beschränken. Einen zwingenden Grund, die Regionalpartei gegenüber der Splitterpartei zu privilegieren, sehe ich daher nicht.
Das ist keine besonders “nationale Denkweise”, sondern eine bundesweite Verhältniswahl, mag sie auch über Wahlkreise und Landeslisten organisiert sein, hat inhärent nationalen Charakter. (Auf dieser Basis passt die Verhältniswahl dann aus meiner Sicht auch am besten zum Grundsatz der Gesamtrepräsentation, dass jedes Parlamentsmitglied das gesamte Wahlvolk zu vertreten legitimiert ist.)
Wenn eine besondere Berücksichtigung territorialer Parteien gleichwohl erforderlich sein sollte, erscheinen mir die Bundesländer als Anknüpfungspunkt aufgrund ihrer Heterogenität ziemlich schlecht geeignet: Dass eine nur in Bremen oder im Saarland starke Partei besser gestellt würde als Parteien, die sich auf Köln oder München konzentrieren, wäre schwerlich zu rechtfertigen. Die Wahlkreise erlauben demgegenüber eine gleichmäßigere Berücksichtigung der Territorialität, wobei zur Verringerung der Manipulationsanfälligkeit allerdings eher die Zweitstimmen relevant sein sollten.
Die folgende kreative Idee beispielsweise schließt an die gewohnte 5%-Hürde an und deckt mehrer Größenordnungen bis zum Bereich der alten Grundmandatsklausel ab: Anstelle von 5% der Zweitstimmen im Durchschnitt über sämtliche knapp 300 Wahlkreise könnten auch 15% im Durchschnitt über die besten mindestens 30 Wahlkreise oder 45% über die besten mindestens drei Wahlkreise genügen – nötig wäre natürlich eine feinere Staffelung oder einfach eine kontinuierliche Formel. Dabei könnte man dem territorialen Prinzip entsprechend und zur weiteren Verringerung der Manipulationsmöglichkeiten festlegen, dass nur die Zweitstimmen aus der (größten) Menge von Wahlkreisen, die diese Bedingung erfüllt, für die Sitzzuteilung berücksichtigt werden.