26 November 2022

Nicht tragfähig begründbar

Zur Verfassungswidrigkeit der Sonderbedarfsstufe für alleinstehende Erwachsene in Sammelunterkünften

Wenig überraschend hat das Bundesverfassungsgericht die sog. Sonderbedarfsstufe für alleinstehende Erwachsene in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für verfassungswidrig erklärt (Beschl. v. 19.10.2022, Az. 1 BvL 3/21). Es knüpft an seine vor allem seit 2010 entwickelte Rechtsprechungslinie an und lässt die Absenkung von Leistungen wie bei den Sanktionen 2019 an fehlenden Erkenntnissen des Gesetzgebers scheitern.

Rechtslage

Ist eine Person nicht in der Lage, den eigenen Lebensunterhalt zu finanzieren, so erhält sie grundsätzlich staatliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Gesetzliche Grundlage hierfür sind für Arbeitssuchende (und mit ihnen zusammenlebende Personen) die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, für andere Bedürftige Sozialhilfe nach dem SGB XII und für Nichtdeutsche mit einem in § 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) näher bestimmten Aufenthaltsstatus Leistungen nach dem AsylbLG. Letzteres enthält Sonderregelungen, die zum Teil u. a. niedrigere Bedarfe vorsehen, zum Teil aber die entsprechende Anwendung des SGB XII anordnet. Leistungsberechtigten wird nach diesen Systemen unter anderem ein pauschalierter Regelbedarf anerkannt, der die Bedarfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes enthält. Dessen Höhe richtet sich nach der zuerkannten Regelbedarfsstufe, die sich grundsätzlich am Lebensalter, an der Wohnform sowie am persönlichen Näheverhältnis der Zusammenlebenden orientiert.

Bei den Leistungen nach dem AsylbLG unterscheidet das Gesetz zwischen sog. Grundleistungen (§§ 3, 3a AsylbLG) und sog. Analogleistungen (§ 2 AsylbLG). Analogleistungen werden grundsätzlich nach einem tatsächlichen Aufenthalt von 18 Monaten gewährt, sind höher als die Grundleistungen des AsylbLG und orientieren sich an den Leistungen der Sozialhilfe. Sie enthalten für alleinstehende Erwachsene in Sammelunterkünften seit 2019 einen Sonderbedarf in § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG.

Alleinstehende Erwachsene in Aufnahmeeinrichtungen nach § 44 Abs. 1 AsylG und in Gemeinschaftsunterkünften nach § 53 Abs. 1 AsylG, die seit 18 Monaten in Deutschland ihren Aufenthalt haben, erhalten danach einen Bedarf nach Regelbedarfsstufe 2 anerkannt. Dieser wird im Regelfall zusammenlebenden Paaren zuerkannt, da der Gesetzgeber davon ausgeht, dass diese durch gemeinsames Wirtschaften Einsparpotentiale nutzen können. Diese Einsparpotentiale sah der Gesetzgeber auch in Bezug auf alleinstehende Erwachsene, die in Gemeinschaftsunterkünften leben. Die gemeinschaftliche Nutzung von Wohnraum ermögliche „Synergieeffekte, da bestimmte haushaltsbezogene Aufwendungen […] auf die Gemeinschaft der Bewohner aufgeteilt beziehungsweise von ihnen gemeinsam getragen werden“ (BT-Drs. 19/10052, S. 24). Hierzu zählten etwa die gemeinsame Mediennutzung und die gemeinsame Nutzung oder der Austausch bei den Bedarfen an Freizeit, Unterhaltung und Kultur. Aber auch beim notwendigen Bedarf an Nahrung bestünden Einspareffekte, wenn Lebensmittel oder Küchengrundbedarf in größeren Mengen gemeinsam gekauft und genutzt werden (BT-Drs. 19/10052, S. 24). Ein solches Zusammenwirtschaften könne von den Leistungsberechtigten erwartet werden, denn sie befänden sich „ungeachtet ihrer Herkunft in derselben Lebenssituation und bilden der Sache nach eine Schicksalsgemeinschaft“ (BT-Drs. 19/10052, S. 24).

Maßstabsbildung

Das Bundesverfassungsgericht erklärt diese Regelung nach der Vorlage des Sozialgerichts Düsseldorfs für verfassungswidrig. In seinem maßstabsbildenden Teil (Rn. 51 ff.) fasst es dabei die Rechtsprechung seit dem Hartz-IV-Urteil 2010 zusammen.

2010 hatte das Bundesverfassungsgericht aus der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip gem. Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums abgeleitet. Dieses verpflichtet den Staat einerseits, die materiellen Voraussetzungen  für ein menschwürdiges Dasein zu schaffen, und gibt dem Hilfebedürftigen andererseits einen korrespondierenden Leistungsanspruch (BVerfGE 125, 175, 222). Die Höhe der Leistungen ergebe sich allerdings nicht aus dem Grundgesetz, sondern sei durch den Gesetzgeber festzulegen. Dieser habe einen grundsätzlich weiten Gestaltungsspielraum hinsichtlich Art und Höhe der Leistungen. Diesem Gestaltungsspielraum entspricht dann eine zurückhaltende Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 125, 175, 225; BVerfGE 152, 68, 115). Es beschränkt seine Prüfung im Wesentlichen auf zwei Fragen:

1. Sind die Leistungen evident unzureichend? (Rn. 58)

2. Sind die Leistungen „nachvollziehbar und sachlich differenziert insgesamt tragfähig begründbar“? (Rn. 59)

Mit der ersten Frage nimmt es eine Gesamtschau auf die Höhe der Leistungen vor, prüft aber nicht einzelne Berechnungselemente. Es bejaht die Frage nur, „wenn offensichtlich ist, dass [die Leistung] in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist“ (BVerfGE 137, 34, 75; BVerfGE 142, 353, 372; Rn. 65). So hatte das Bundesverfassungsgericht 2012 die Leistungen des AsylbLG für evident unzureichend und damit für verfassungswidrig erklärt, weil diese seit 1993 nicht mehr verändert worden waren (BVerfGE 132, 134).

Mit der zweiten Frage überprüft es das Verfahren zur Ermittlung des Bedarfs. So muss die Höhe der Leistungen anhand verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren aktuell ermittelt werden (BVerfGE 125, 175, 237 f.; BVerfGE 132, 134, 170 f.; BVerfGE 137, 34, 75; Rn. 59). Dabei dürfen auch politische Kompromisse geschlossen werden – wie jüngst beim Bürgergeld – diese müssen aber zu sachlich begründbaren Ergebnissen führen (Rn. 59). Allerdings genügt nicht jeder Grund. Diese betonte das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung zum AsylbLG in einem danach vielfach zitierten Satz: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ (BVerfGE 132, 134, 173). Dies hebt es auch in dieser Entscheidung nahezu wortgleich nochmals hervor (Rn. 56).

Schließlich können die Leistungen der Existenzsicherung an den Nachranggrundsatz und Mitwirkungspflichten der Hilfebedürftigen geknüpft werden. Dies hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner Sanktionsentscheidung 2019 bereits festgestellt und näher ausdifferenziert (BVerfGE 152, 68, 112 ff.). Hierzu gehört zum einen, dass Leistungen nur erhält, wer seine Existenz nicht vorrangig selbst sichern kann. Zum anderen können Mitwirkungspflichten und -obliegenheiten zwar auferlegt werden. Diese sind aber rechtfertigungsbedürftig und müssen ihrerseits verhältnismäßig in Bezug auf das mit ihnen verfolgte Ziel sein (BVerfGE 152, 68, 118; Rn. 62).

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Diese Maßstäbe zugrunde gelegt stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Leistungen für alleinstehende Erwachsene in Sammelunterkünften zwar nicht evident unzureichend sind. Die Höhe der Leistungen ist aber „derzeit nicht tragfähig begründbar“ (Rn. 69). So liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass die Einsparmöglichkeiten tatsächlich bestünden; vielmehr sprächen die Stellungnahmen der Sachverständigen im Gesetzgebungsverfahren eher für das Gegenteil. Auch habe der Gesetzgeber es versäumt, Erkenntnisse über solche Einsparmöglichkeiten im Gesetzgebungsverfahren oder später zu erheben.

Zusätzlich zieht das Bundesverfassungsgericht einen Vergleich zu zusammenlebenden Paaren im Grundsicherungsbezug: Der Gesetzgeber nehme bei diesen zwar grundsätzlich ein gemeinsames Wirtschaften an, dies könne aber nicht in allen Fallkonstellationen „hinreichend fundiert quantifiziert“ werden (Rn. 73). Dementsprechend würde auch Erwachsenen in einer WG, die kein Paar seien, der Regelbedarf für Alleinstehende zuerkannt. Nichts Anderes gelte für alleinstehende Erwachsene in Sammelunterkünften, da auch hier zwischen den Personen kein Näheverhältnis bestehe, sie gerade nicht aufgrund eines eigenen Entschlusses zusammenleben würden.

Verfassungsrechtlich sei es zwar nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber von möglichen und zumutbaren Einsparmöglichkeiten ausgehe. Denn hierin verwirkliche sich der Nachranggrundsatz, der den Leistungsbezug auf diejenigen „Fälle wirklicher Bedürftigkeit“ begrenze (Rn. 77). So werde in Zeiten begrenzter finanzieller Ressourcen auch die staatliche Gestaltungsmacht auch zur Verwirklichung der sozialen Staatsziels gesichert (Rn. 60). Doch diese angenommene Obliegenheit ist nicht verhältnismäßig im engeren Sinne, da sich auch die pauschale Absenkung nicht hinreichend auf tragfähige Erkenntnisse stütze, dass die Betroffenen ihren Bedarf durch ihr Verhalten tatsächlich in diesem Umfang verringern könnten. Die Annahme einer „Schicksalsgemeinschaft“ genüge gerade nicht (Rn. 89).

Schließlich können auch andere als die im Gesetzgebungsverfahren genannten Gründe die Regelung nicht rechtfertigen. So werde etwa in der Literatur angenommen, die Leistungsabsenkung erfolge vor dem Hintergrund, dass bestimmte Bedarfe für Wohnen, Energie und Innenausstattung in Sammelunterkünften generell herausgenommen seien. Dies rechtfertige die Sonderbedarfsstufe jedoch nicht. Denn ein pauschal verringerter Bedarf kann nur dann angenommen werden, wenn die Bedarfe anderweitig verlässlich gedeckt werden und es nicht zu einem doppelten Abzug aus demselben Grund erfolgt. Gerade für letzteres besteht aber die Gefahr, indem einerseits nur die Sonderbedarfsstufe anerkannt wird, andererseits diese gem. § 27a Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB XII konkret reduziert wird, weil Geräte und Einrichtungen in der Sammelunterkunft verfügbar sind (Rn. 93).

Absenkungen nicht ausgeschlossen

Gemessen an der Rechtsprechungsentwicklung ist die Entscheidung zur Sonderbedarfsstufe im Asylbewerberleistungsrecht wenig überraschend. Sie fügt sich in die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Maßstäbe ein, die es nur in wenigen Fällen nicht herangezogen hat (siehe Kanalan/Seidl und Seidl).

Das Bundesverfassungsgericht eröffnet dem Gesetzgeber auch mit dieser Entscheidung einen erheblichen Gestaltungsspielraum. So hat es die Absenkungen maßgeblich deshalb für verfassungswidrig erklärt, weil der Gesetzgeber keine Erkenntnisse über ein tatsächlich mögliches gemeinsames Wirtschaften hatte. Dies erinnert stark an Ausführungen im Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem es bestimmte Sanktionen im SGB II vor allem wegen fehlenden Erkenntnissen zu deren Wirksamkeit für verfassungswidrig erklärt hatte (BVerfGE 152, 68, 120 ff.).

Der Lektüre des Urteils ist aber zu entnehmen, dass es ausgereicht hätte, wenn solche Erkenntnisse zwar nicht ins Gesetzgebungsverfahren vorhanden gewesen, wohl aber nachträglich erhoben worden wären. Hätte der Gesetzgeber also Erkenntnisse, statt nur eine gefühlte, an der Wirklichkeit möglicherweise vorbeigehenden Empirie, so wären Bedarfsabsenkungen verfassungsrechtlich wohl nicht zu beanstanden. Und das Bundesverfassungsgericht eröffnet auch die Möglichkeit, eine etwa den Bedarf senkende Regelung ohne Erkenntnisse zu treffen, wenn diese später eingeholt werden (vgl. Rn. 89).

Aufmerken lassen sollte auch eine weitere Randnummer: Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass die Obliegenheit, durch gemeinsames Wirtschaften in Sammelunterkünften den Bedarf zu senken, „noch geeignet“ ist, auch wenn Zweifel daran bestünden (Rn. 78). Zweifel werden u.a. dadurch genährt, dass es derzeit keine solche normierte Rechtspflicht gebe und dementsprechend auch nicht hierüber aufgeklärt werde oder die Erfüllung dieser Obliegenheit sonst unterstützt werde (Rn. 79). Damit deutet sich an, dass das Obliegenheitspflichten, die mit einem Absenken des Bedarfs verbunden sind, ohne Aufklärung oder eine andere Unterstützungshandlung durch den Leistungsträger ungeeignet und damit unverhältnismäßig, also verfassungswidrig sein könnten.