09 December 2022

Nikolaus 2.0

Zum NGEU-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2022

Am Nikolaustag 2017 schnürte die Europäische Kommission ein Nikolauspaket. Im Stiefel waren eine Reihe von Vorschlägen zur Reform der Wirtschafts- und Währungsunion. Vorausgegangen war der Weißbuch-Prozess im Anschluss an den Brexit: Im Weißbuch zur Zukunft Europas lotete die Kommission 2017 verschiedene Szenarien aus, wie sich die EU nach dem Brexit weiterentwickeln könnte. In fünf sektorbezogenen Reflexionspapieren legte sie sodann die mögliche weitere Entwicklung dar. Das hier einschlägige Reflexionspapier zur Wirtschafts- und Währungsunion, verantwortet vom französischen Sozialisten Pierre Moscovici, blieb ausgesprochen schwammig. In der zweiten Jahreshälfte 2017 wurde die Kommission konkreter und schwenkte auf eine bestimmte wirtschaftspolitische Richtung ein (möglicherweise auch, weil mittlerweile Emmanuel Macron zum französischen Präsidenten gewählt worden war und auch in Deutschland eine Bundestagswahl stattgefunden hatte, so dass die Hoffnung bestand, dass sich die neue Bundesregierung mit Macrons Reformansätzen auseinandersetzen würde). Zu den konkreten Nikolaus-Vorschlägen der Kommission gehörte dann u.a. ein Europäischer Finanzminister, die Reform des ESM, die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts – und vor allem ein Budget für die Eurozone.

Den Bogen zum Urteil am Nikolaustag fünf Jahre später schlägt einmal mehr die Covid-19-Pandemie. Der Kommissionvorschlag, ein schuldenfinanziertes Eurozonenbudget zu schaffen, hatte durchaus Vorläufer und Anhänger. Im Europäischen Rat war er aber chancenlos. Nicht zuletzt die Bundesregierung war dagegen, so dass die Behandlung des Vorschlags von einer Sitzung des Europäischen Rates zur anderen vertagt wurde. Das änderte sich 2020: Der Schock der „größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Angela Merkel) ist nicht nur uns allen noch sehr gegenwärtig, sondern er beeinflusste natürlich auch die europäische Politik. Die Fernsehbilder aus Bergamo gehören zum Schlimmsten, an das wir uns aus der „Corona-Zeit“ erinnern (ob sie abgeschlossen ist, gehört hier nicht zum Thema). Ökonomische Folgen der Krise waren offensichtlich. Die Beihilfenkontrolle sowie der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurden rasch ausgesetzt; der ESM stellte sehr rasch das verbleibende Garantievolumen von € 440 Mrd. unter der einzigen (wohl nicht recht vertragskonformen) Bedingung zur Verfügung, dass die Mittel im Kontext der Bekämpfung von Pandemiefolgen ausgereicht würden. Aber all dies war nicht genug: Wochenlang wurden „Eurobonds“ zur Unterstützung der besonders betroffenen Mitgliedstaaten gefordert. Beim deutsch-französischen Gipfel im Mai 2020 platzte der Knoten, der Rest steht im Sachbericht des BVerfG-Urteils. Fast drei Jahre nach dem Kommissionvorschlag bekam nun die EU – nicht nur die Eurozone – das von vielen ersehnte Krisenbudget mit einem Volumen von € 750 Mrd. im Programm NextGenerationEU.

Unter der Überschrift „Corona“ wurde also letztlich lange Geplantes politisch durchgesetzt – ohne Vertragsänderung. Insofern ist es kein Wunder, dass die Frage nach der Primärrechtskonformität von NextGenerationEU aufgeworfen wurde. Ebensowenig ist die Befassung des BVerfG erstaunlich, denn der Rechtsweg zum EuGH ist schwierig, wenn die Beteiligten einig sind, ein Programm ins Werk zu setzen, auch dann, wenn die Einigung kompromisshafte Züge hat. Die Nichtigkeitsklage eines Mitgliedstaats oder gar eines EU-Organs zum EuGH scheidet dann aus.

Nur dieses eine Mal, versprochen…!

Materiell-europarechtlich sind die aufgeworfenen Fragen nach Mittelbeschaffung und Mittelverwendung zu unterteilen. Die Mittel für NextGenerationEU stammen aus Krediten. Der angegriffene Eigenmittelbeschluss ermächtigt die Kommission zur Kreditaufnahme an den Kapitalmärkten mit der Besonderheit, daß für den Zuschussteil von NextGenerationEU (€ 390 Mrd. von € 750 Mrd.) die EU selbst Schuldner bleibt (borrowing for spending). In früheren Konstellationen (Neues Gemeinschaftsinstrument, EFSM, SURE) wurden lediglich die günstigen Finanzierungskonditionen der EU genutzt, der Kredit aber an den jeweiligen Mitgliedstaat weitergereicht (back-to-back lending).

Dies hebt auch das BVerfG hervor, außerdem, dass die Kredite bislang im Umfang deutlich stärker begrenzt waren (Rn. 156). Entscheidend ist nun, dass das BVerfG für die Kreditaufnahme eine Ermächtigungsnorm im Sinne des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EUV) fordert. „Eine solche Ermächtigung existiert nicht.“ (Rn. 158). Angesichts der vom BVerfG breit referierten Literaturlage ist das eine bemerkenswerte Feststellung. Im Eilbeschluss hatte das Gericht verneint, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten i.S.v. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG vorliegt. Daher hätte man auch eine Argumentation erwarten können, die die kompetenzielle Relevanz der Kreditaufnahme verneint, z.B. durch die Überlegung, dass sich die EU bei der Kreditaufnahme letztlich nicht anders verhält als ein gewöhnlicher privater Schuldner. Vielleicht gab es hierfür auch Stimmen im 2. Senat, denn es tauchen Argumente für die Verschuldungskompetenz auf, die letztlich nicht hinreichend problematisiert werden. Soll allen Ernstes aus der Vorschrift über die Rechnungslegungspflicht, Art. 318 Abs. 1 AEUV, auf eine Verschuldungskompetenz der EU geschlossen werden, weil dort von Schulden die Rede ist? Die englische Fassung spricht von liabilities, die französische sehr illustrativ von le passif, und nicht alle Verbindlichkeiten sind zwingend (Kredit-)Schulden. Auch der Satz „Der Haushaltsplan ist in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen.“ (Art. 314 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV) muss vielleicht im Unionsrecht anders gelesen werden als in Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG, denn anders als beim Bundeshaushalt hat die EU die Tilgung nicht allein in der Hand, sondern ist auf Zuflüsse aus den Mitgliedstaaten angewiesen, sofern nicht gewichtige neue Einnahmequellen der EU (mit entsprechenden Kompetenzproblemen) geschaffen werden. Aber letztendlich bleibt die wichtige Feststellung, daß die Kreditaufnahme einer vertraglichen Ermächtigung bedarf. Da es diese nicht gibt – anders übrigens früher Art. 49 EGKSV und heute noch Art. 172 Abs. 4 Euratom-Vertrag (sowie, ebenfalls primärrechtlich, Art. 20 Abs. 1 EIB-Satzung), kann der allgemeine Unionshaushalt auf der Grundlage des geltenden Rechts nicht aus Schulden finanziert werden (Rn. 150 ff. und 158 ff.). An dieser Auffassung, die im Verfahren auch von der Europäischen Kommission vertreten wurde, scheitert die häufig geforderte Verstetigung der Kreditfinanzierung, sofern das Primärrecht nicht geändert wird (Rn. 152). Daß der heutige Bundeskanzler mit einer gegenteiligen Auffassung zitiert wird (Rn. 177) ist ebenso bemerkenswert wie der Umstand, daß sich ein Staatssekretär in der mündlichen Verhandlung davon distanziert hat (Sondervotum Rn. 36). NextGenerationEU war vielleicht der „Ur-Wumms“.

„Es ist jedoch nicht offensichtlich ausgeschlossen, dass Art. 5 Eigenmittelbeschluss 2020 die Anforderungen an die Ermächtigung der Europäischen Union zur Aufnahme von Krediten an den Kapitalmärkten als sonstige Mittel im Sinne von Art. 311 Abs. 2 AEUV wahrt und die haushaltsverfassungsrechtlichen Grundsätze des Primärrechts beachtet.“ (Rn. 162). Das BVerfG entwickelt hier eine bemerkenswerte Ausnahme – und vermeidet so die verfassungsrechtliche Infragestellung von NextGenerationEU. Allerdings formuliert es auch ein Mißbrauchsverbot: „Insbesondere darf die Finanzierung durch Eigenmittel nicht durch die Erzielung sonstiger Einnahmen umgangen werden.“ (Rn. 162). Dies wird durch vier Kriterien konkretisiert: Der Eigenmittelbeschluß selbst muß dazu ermächtigen – was das Recht der Mitgliedstaaten sichert, über die Finanzausstattung der EU zu entscheiden (und das Haushaltsrecht als „Königsrecht“ für das Europäische Parlament in noch weitere Ferne rücken läßt). Die Ermächtigung muß über eine Aufgabe aus Art. 122 AEUV zweckgebunden sein (dazu sogleich). Die Ermächtigung muß ferner befristet und der Höhe nach begrenzt sein und Schließlich dürfen die sonstigen Einnahmen in der Summe die sonstigen Mittel nicht übersteigen – das käme einer Änderung der unionalen Finanzverfassung „durch die Hintertür“ gleich. Dieses Kriterium entwickelt das BVerfG nicht bezogen auf das Jährlichkeitsprinzip, sondern den mehrjährigen Finanzrahmen, denn in diesem siebenjährigen Rahmen ist zwar das Volumen von NextGenerationEU in den Haushaltsjahren 2021 und 2022 etwa doppelt so hoch wie der reguläre Haushalt, 2023 beträgt es immerhin noch rund zwei Drittel, aber ab 2024 werden keine Mittel mehr abgerufen. Durch diesen Kniff – es sei „zumindest nicht offensichtlich unzutreffend“, so zu verfahren – erhält die Konstruktion über die „sonstigen Einnahmen“ das Placet des BVerfG. Es mag – so das Sondervotum des Richters Müller, „dafür sehr gute politische Gründe geben.“ Aber es wird ein Weg aufgezeigt für ein „dauerhaftes, nahezu paritätisches Nebeneinander von Eigenmitteln und Kreditaufnahmen…“ (Sondervotum, Rn. 29 und 30). Auf Anlässe muss (leider) nicht gewartet werden; der Kommissionsvorschlag, NextGenerationEU auf das Problem der kriegsbedingten Energieknappheit auszudehnen, liegt schon auf dem Tisch.

Kennt Not (einmal wieder) kein Gebot?

Die Verfassungsbeschwerden richten sich nur gegen das Zustimmungsgesetz zum Eigenmittelbeschluß und damit gegen die Finanzierungsseite von NextGenerationEU. Das BVerfG prüft indes auch die Ausgabeseite und erreicht dies durch die Verknüpfung, die der Eigenmittelbeschluss selbst in seinem Art. 5 Abs. 1 vornimmt, indem er auf die EURI-Verordnung (European Union Recovery Instrument) verweist, die wiederum auf Art. 122 AEUV gestützt ist und die das Aufbauinstrument begründet, dem die Mittel für NextGenerationEU entnommen werden (Rn. 119). Es geht also um das bereits erwähnte Kriterium der Zweckbindung über Art. 122 AEUV.

Die Argumente gegen eine Anwendung dieser Vorschrift sind erdrückend, und das BVerfG listet sie auf: Noch überwindbar ist die Formulierung, dass Art. 122 Abs. 2 AEUV nur bei Maßnahmen greift, „die sich der Kontrolle eines Mitgliedstaats entziehen“ – von parallelen Unterstützungsmaßnahmen für jeden Mitgliedstaat zu einem allgemeinen Rahmen ist der Weg letztlich nicht so weit. Aber natürlich fordert Art. 122 Abs. 2 AEUV einen Konnex zwischen dem schadensstiftenden Ereignis, hier der Pandemie, damit die Vorschrift nicht von einer eng zu interpretierenden Ausnahmenorm zu einer grenzenlosen Generalklausel mutiert. Das gern gebrauchte Argument – wenn schon viel Geld ausgeben, um der geschwächten Wirtschaft wieder auf die Füße zu helfen, dann wenigstens für die gute Sache (Klimaschutz, Digitalisierung) – repräsentiert keine überzeugende Auslegung von Art. 122 Abs. 2 AEUV, und deswegen wendet der Juristische Dienst des Rates ja auch Abs. 1 an. Die weiteren Argumente zum zeitlichen Zusammenhang mit den Pandemiefolgen und zur Verwendung für bereits laufende Programme unterstreichen diesen Befund.

Die Argumente, warum das BVerfG den Rückgriff auf Art. 122 AEUV dennoch akzeptiert, sind deutlich schwächer. Jedenfalls sei eine offensichtliche Fehlauslegung von Art. 122 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV nicht zu besorgen. Der Verweis auf Versorgungsschwierigkeiten (die es in der Pandemie auch gab) ist in der Tat ein Regelbeispiel – es muss nicht nur um Waren- oder Energiemangel gehen. Aber die Verschleifung der beiden Absätze, der „Rückgriff auf die Wertungen des Art. 122 Abs. 2 AEUV“ zur Verhinderung einer „vollständigen Entgrenzung von Art. 122 Abs. 1 AEUV“ (Rn. 185) ist nun tatsächlich schwer vertretbar. Erst werden die Grenzen von Art. 122 Abs. 2 AEUV überschritten, dann wechselt man – so wohl auch der Kommissionsvertreter (Rn. 184), während sich die Kommission selbst öffentlich nicht festgelegt hat – zu Art. 122 Abs. 1 AEUV, um dann den Rückbezug auf Abs. 2 zuzulassen (aber eben nur schwach). Das ist kreatives legal engineering at its best! Schon der unterschiedliche historische Hintergrund von Abs. 1 und Abs. 2, die sich auf unterschiedliche Artikel im EWGV zurückführen lassen, zeigt indes, dass das nicht geht. Das Sondervotum wird hier zu Recht deutlich (Rn. 16).

Ferner liefen: Art. 125 AEUV und haushaltspolitische Gesamtverantwortung

Sehr kurz ist der Blick auf Art. 125 AEUV, das Bail-out-Verbot. In der Tat ist das Spannungsverhältnis zwischen Art. 125 Abs. 1 AEUV und einem auf Art. 122 AEUV gestützten Ausgabeprogramm unübersehbar, aber wenn man Art. 122 AEUV so weit aufmacht, wird es schwer, den Verstoß gegen Art. 125 AEUV zu begründen (Rn. 206 ff.). Auch die Verletzung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung als Element der Verfassungsidentität liegt bei ein- und zweistelligen Milliardenbeträgen fern (Rn. 221), und für das Risiko der übermäßigen Belastung bei einer mitgliedstaatlichen Nachschussverpflichtung stützt sich das BVerfG auf wirtschaftswissenschaftliche Expertise. Das lässt sich hören. Es hat sich für den Unionsgesetzgeber gelohnt, die im Entwurf enthaltene gesamtschuldnerische Haftung der Mitgliedstaaten aus dem Eigenmittelbeschluß herauszuhalten. Es bleibt eine Beobachtungspflicht des Deutschen Bundestages, und sie folgt dem Prinzip der kommunizierenden Röhren (Christian Calliess): Je schwächer die Legitimation durch das Europäische Parlament, um so stärker die Anforderung an die Beteiligung der mitgliedstaatlichen Parlamente.

Wie verlässlich ist das Europarecht?

Das Urteil vom 6. Dezember 2022 ist nur durch eine geradezu fühlbare Lockerung des Prüfungsmaßstabs zu erklären. Peter Müller ist enttäuscht: Die ultra-vires-Kontrolle habe ausgedient (Rn. 43). Natürlich gehört die europarechtsfreundliche Handhabung der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle seit langem zum Kontrollmaßstab. Es bedarf einer hinreichend qualifizierten Kompetenzüberschreitung. Aber während im Maßstabsteil (Rn. 131) noch die Formeln wiederholt werden, wonach eine solchermaßen qualifizierte Kompetenzüberschreitung auch vorliegen kann, wenn es Stimmen für unionsrechtliche Unbedenklichkeit gibt und daß eine Kompetenzüberschreitung durch sorgfältige und detailliert begründete Auslegung festgestellt werden kann (Rn. 131), begnügt sich des BVerfG im Subsumtionsteil mit viel weniger. Es reicht aus, wenn die Organpraxis nicht völlig unvertretbar ist, und lassen sich noch so gute Gründe für eine Unionsrechtswidrigkeit aufzählen. Sogar für einen Vorlagebeschluss reicht es nicht: Der EuGH würde ja Art. 122 und 311 AEUV eher noch weiter auslegen (Rn. 236).

Über die Gründe für diese Großzügigkeit wird spekuliert und weiter spekuliert werden. Liegt es an der Schelte, die der 2. Senat nach dem PSPP-Urteil einstecken musste – bis zum Vertragsverletzungsverfahren? An Wechseln auf der Richterbank? Dies muss hier offen bleiben. Verständnis für die Zurückhaltung kann man aufbringen, wenn man sich die Frage stellt, ob die genuin europarechtlichen Fragen tatsächlich vom BVerfG aufzuarbeiten sind – das Grundgesetz liefert ja nur den Einstieg in den Fall. Auch ist eine gewisse Scheu vorstellbar, eine Konstruktion zu kippen, die von allen Staats- und Regierungschefs in einer historischen Sitzung erarbeitet wurde und anschließend die mitgliedstaatlichen Ratifikationsverfahren durchlaufen haben. Soll ein mitgliedstaatliches Verfassungsgericht dann die Kontrollinstanz sein? Damit legt der Fall einmal mehr offen, wo das Problem eigentlich liegt. Der EuGH wird sich vermutlich nicht zu NextGenerationEU äußern können, wenn es nicht noch von woanders zu einer überraschenden Vorlage kommt. Wenn er es täte, spricht wenig dafür, dass es zu einer kritischen Würdigung käme – der Gerichtspräsident hat sich bereits öffentlich positioniert. Für große konstitutionelle Reife der Europäischen Union spricht das nicht. Wenn im großen Konsens die Regeln über Bord geworfen werden können – und bei Art. 122 AEUV und Art. 311 Abs. 2 AEUV wäre man jedenfalls vorher nicht darauf gekommen, dass das so gehen soll –, ist eine solide wissenschaftliche Deutung (und Lehre!) des Europarechts kaum zu leisten. Die einzigen Stiefel, die am Nikolaustag 2022 leer bleiben, sind dann die der Europarechtswissenschaft. Sie muss sie selbst befüllen.


SUGGESTED CITATION  Ruffert, Matthias: Nikolaus 2.0: Zum NGEU-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2022, VerfBlog, 2022/12/09, https://verfassungsblog.de/nikolaus-2-0/, DOI: 10.17176/20221209-121632-0.

3 Comments

  1. Thomas Groß Fri 9 Dec 2022 at 18:11 - Reply

    Zuzugeben ist, dass das Urteil nicht ganz konsistent ist, wenn zunächst festgestellt wird, dass keine Kompetenz im Sinne des Grundprinzips der begrenzten Einzelermächtigung vorhanden ist, diese dann aber doch in Art. 311 und 122 AEUV gefunden wird. Überzeugender wäre es gewesen, das Recht zur Verschuldung nicht als Kompetenz in diesem Sinn zu betrachten, weil eine begrenzte Schuldenaufnahme durch die Union die entsprechenden Kompetenzen der Mitgliedstaaten in keiner Weise schmälert.
    Zu begrüßen ist aber auf jeden Fall die zurückhaltende Prüfung, gerade wenn es um hochpolitische Fragen der Krisenintervention geht. Es ist wohl eher ein Problem von Teilen der deutschen Europarechtswissenschaft, wenn sie davon ausgeht, dass man eine Norm wie Art. 122 AEUV in ähnlicher Weise wie z.B. § 34 BauGB auslegen könne. Wenn der zweite Senat aus der Diskussion über den PSPP-Beschluss gelernt hat, dass er mit einer solchen Herangehensweise kaum Gefolgschaft findet (außer in integrationsfeindlichen Kreisen), dann ist das eine gute Nachricht für die Zukunft Europas, das heute mehr denn je auf Zusammenhalt angewiesen ist.

    • Kommentator Sat 10 Dec 2022 at 11:50 - Reply

      Dem kann ich nur beipflichten. Die Idee, das Primärrecht nach Maßgabe des deutschen juristischen Handwerkszeugs auszulegen, ist von vorneherein verfehlt und in einer Union mit 26 anderen Staaten zum Scheitern verurteilt.

      Im Übrigen wirkt etwas unstimmig, wenn sich das Gericht erst über Art. 38 GG eine Prüfungsbefungnis für die methodengerechte Awendung des Unionsrechts herleitet, um dann auf Ebene des Primärrechts Wortklauberei zu betreiben.

      Dass Maßstabs- und Subsumtionsteil im Ergebnis nicht zusammenpassen, haben die Richter sich selbst zuzuschreiben, wenn sie die Maßstäbe ihrer Vorgänger nicht aufgeben, ihre Folgen aber zugleich nicht wahrhaben wollen.

  2. Martin Höpner Sun 11 Dec 2022 at 16:04 - Reply

    Ein sehr klarer, sehr überzeugender Artikel – vielen Dank!!

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