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02 November 2022

Not Too Late, but Still Too Little

Warum der Bundeswahlausschuss bei der Zulassung von Landeslisten nicht das letzte Wort haben darf

Geht bei der Vorbereitung der Bundestagswahl etwas schief, ist Abhilfe vor der Wahl in der Regel ausgeschlossen. Um die termingerechte Durchführung der Wahl sicherzustellen, ist die Rechtskontrolle grundsätzlich dem Wahlprüfungsverfahren vorbehalten.1) Das findet allerdings nach der Wahl statt und kommt damit zu spät. Das Wahlrecht kennt aber auch Rechtsbehelfe, die vor der Wahl greifen und neben der Wahlprüfung bestehen (§ 49 BWahlG). Zu ihnen gehören insbesondere die Nichtanerkennungsbeschwerde sowie die Beschwerde gegen die Zurückweisung von Wahlvorschlägen. Während die Nichtanerkennungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht rechtzeitigen und effektiven Rechtsschutz gewährleistet (I.), bleibt die Beschwerde gegen die Zurückweisung von Wahlvorschlägen (selbst-)verwaltungsintern2) und unzureichend (II.). Das gilt jedenfalls für die Zurückweisung von Landeslisten. Die massiven Folgen dieser Entscheidung für das aktive und passive Wahlrecht verlangen, dass auch vor der Wahl nicht der Bundeswahlausschuss, sondern das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort hat (III.).

I. Die Nichtanerkennungsbeschwerde

Die Nichtanerkennungsbeschwerde gewährleistet Rechtsschutz insbesondere für den Fall, dass eine Vereinigung, die nicht zum Kreis der „etablierten Parteien“ i.S.v. § 18 Abs. 2 Satz 1 BWahlG3) gehört, vom Bundeswahlausschuss nicht als Partei für die Wahl anerkannt wird. In diesem Fall steht ihr die Nichtanerkennungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht offen (§ 18 Abs. 4a BWahlG i.V.m. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG, §§ 13 Nr. 3a, 96a BVerfGG).

Geschaffen wurde die Nichtanerkennungsbeschwerde 2012 durch das Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen. Anlass war der Bericht der Wahlbewertungskommission der OSZE zur Bundestagswahl 2009. Sie rügte – wie zuvor bereits zahlreiche Stimmen in der Literatur –, dass das deutsche Recht vor der Wahl  keine Möglichkeit vorsah, Entscheidungen der Wahlorgane zu überprüfen; zumindest bestimmte Beschwerden „insbesondere zur Zulassung der Parteien zur Wahl“ sollten vor der Wahl von einem „Rechtsgremium“ gehört werden. Bis zur Rechtsänderung war die Entscheidung des Bundeswahlausschusses über die Wahlvorschlagsberechtigung einer gerichtlichen Kontrolle vor der Wahl gänzlich entzogen.4) Damit entschied er vor der Wahl faktisch letztverbindlich über die Wahlvorschlagsberechtigung zur Bundestagswahl – eine mögliche Entscheidung im Wahlprüfungsverfahren folgte nachgelagert.

Mit der Aufnahme in das Bundeswahlgesetz hat die Nichtanerkennungsbeschwerde Eingang in den „Numerus clausus“ der Wahlkontrollverfahren gefunden. Sie ist binnen vier Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung des Bundeswahlausschusses, die spätestens am 79. Tag vor der Wahl erfolgt, an das Bundesverfassungsgericht zu richten; in diesem Fall ist die Vereinigung bis zum Ablauf des 59. Tages vor der Wahl als wahlvorschlagsberechtigte Partei zu behandeln (§ 18 Abs. 4a BWahlG). Damit stehen dem Bundesverfassungsgericht für seine Entscheidung in der Regel 16 Tage zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht die Nichtanerkennungsbeschwerde als hybrides Verfahren im Sinne eines beschleunigten Hauptsachverfahrens qualifiziert. In diesem ist darüber zu entscheiden, ob eine Vereinigung die Voraussetzungen für die Wahlvorschlagsberechtigung, insbesondere die Anforderungen des Parteibegriffs (§ 2 PartG), erfüllt. Für die Verwerfung der zugrundeliegenden Normen ist wegen der besonderen Eilbedürftigkeit hingegen kein Raum.5) Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass die Nichtanerkennungsbeschwerde den Grundsatz des nachgelagerten Rechtsschutzes in Wahlsachen zwar durchbricht, aber nicht infrage stellt.6)

II. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung von Wahlvorschlägen

Ist eine Vereinigung als wahlvorschlagsberechtigte Partei anerkannt, garantiert dies indes noch nicht, dass sie tatsächlich auf dem Stimmzettel erscheint. Auch die Wahlvorschläge müssen ein Zulassungsverfahren durchlaufen. Über die Zulassung von Kreiswahlvorschlägen, also Direktkandidat*innen in den Wahlkreisen, entscheidet der Kreiswahlausschuss. Gegen seine Entscheidung kann man den Landeswahlausschuss anrufen (§ 26 BWahlG). Die Entscheidung über die Zulassung von Landeslisten trifft der jeweilige Landeswahlausschuss. Gegen dessen Entscheidung ist Beschwerde an den Bundeswahlausschuss möglich (§ 28 BWahlG). Die Beschwerdeentscheidung ist endgültig, ein weiteres Rechtsmittel steht vor der Wahl nicht zur Verfügung.7)

Verpasste Reformchance

Dies hat die OSZE 2009 ebenso deutlich kritisiert wie das Fehlen einer Möglichkeit, sich gegen die Ablehnung der Wahlvorschlagsberechtigung zu wehren. Die OSZE hatte angeregt, dass auch Beschwerden „zur Registrierung der Bewerberinnen und Bewerber [und] der Landeslisten“ vor der Wahl von einem „Rechtsgremium“ gehört werden. Dies hat der Gesetzgeber im Zuge der Rechtsänderung 2012 indes nicht aufgegriffen. Ein Vorschlag der Fraktion DIE LINKE, ein Beschwerdeverfahren an das Bundesverwaltungsgericht zu schaffen, wurde abgelehnt. Der Begründung für den verabschiedeten Gesetzentwurf lässt sich entnehmen, dass der Rechtsbehelf der Beschwerde bei den Wahlorganen nächsthöherer Stufe als ausreichend erachtet wurde – er wird dem Fehlen jeglicher Beschwerdemöglichkeit im Fall der Ablehnung der Wahlvorschlagsberechtigung explizit gegenübergestellt. Eine Auseinandersetzung mit der abweichenden Auffassung der OSZE fehlt; der Bericht der Wahlbewertungskommission wird nur unvollständig zitiert.

Der Gesetzentwurf greift die Ausführungen der OSZE zum Zulassungsverfahren von Wahlvorschlägen aber insoweit auf, als er die Zusammensetzung der Landeswahlausschüsse und des Bundeswahlausschusses um jeweils zwei Berufsrichter*innen ergänzt. Dies soll u.a. dem Charakter der Ausschüsse als Beschwerdeinstanz Rechnung tragen. Die OSZE hatte kritisiert, dass der Bundeswahlausschuss im Wesentlichen aus von den politischen Parteien benannten Personen bestehe und es sich daher um ein „Peer Review“ handele.

Unzureichender Rechtsschutz

Dass die Wahlausschüsse um jeweils zwei Berufsrichter*innen (des Bundesverwaltungsgerichts im Bundeswahlausschuss, des jeweiligen Oberverwaltungsgerichts in den Landeswahlausschüssen, § 9 Abs. 2 BWahlG) ergänzt worden sind,  ändert indes kaum etwas an den strukturellen Problemen des Zulassungsverfahrens.

Das erste – geringere – Problem besteht darin, dass die politischen Parteien nach wie vor eine wesentliche Rolle spielen bei der Auswahl der Wahlberechtigten, die den Wahlausschüssen als Beisitzer*innen angehören – acht im Bundeswahlausschuss, sechs in den übrigen Wahlausschüssen. Sie werden in der Reihenfolge der bei der letzten Bundestagswahl in dem jeweiligen Gebiet errungenen Zahlen der Zweitstimmen berücksichtigt (§ 9 Abs. 2 Satz 4 BWahlG i.V.m. § 4 Abs. 2 BWO). Damit geht die Gefahr einer „Entscheidung in eigener Sache“ insbesondere zulasten kleinerer und neuerer Parteien einher (Florian Meinel spricht insofern von einem „Kooptationsverfahren“ der etablierten Parteien).

Hinzu kommt, dass die Beisitzer*innen vom Bundeswahlleiter berufen werden, der seinerseits vom Bundesinnenministerium ernannt wird (§ 9 Abs. 1 BWahlG). Vor diesem Hintergrund wird immer wieder der Vorwurf der fehlenden Unabhängigkeit des Bundeswahlausschusses laut.8) Das Gesetz schafft aber Vorkehrungen: Zum einen sind die Mitglieder der Wahlausschüsse verpflichtet, ihr Amt unparteiisch wahrzunehmen (§ 10 Abs. 2 BWahlG). Zum anderen – und vor allem – verhandeln, beraten und entscheiden die Wahlausschüsse in öffentlicher Sitzung (§ 10 Abs. 1 BWahlG). Ihre Arbeit vollzieht sich folglich entsprechend dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl vor den Augen der Wähler*innen.

Das zweite – größere – Problem besteht daher darin, dass die Wahlausschüsse kaum über den speziellen Sachverstand verfügen, der erforderlich ist, um den Anforderungen des Zulassungsverfahrens gerecht zu werden. Mit Ausnahme der Wahlberechtigung stellt das Gesetz keine Anforderungen an die Qualifikation der Beisitzer*innen. Zwar gilt für den aktuellen Bundeswahlausschuss, dass die Beisitzer*innen – wie auch der Bundeswahlleiter – überwiegend Jurist*innen sind. Zudem verfügen einige über einschlägige Erfahrung als Mitglieder von Parteischiedskommissionen und somit über Kenntnisse im Parteienrecht einschließlich der Aufstellung von Wahlvorschlägen. Letzteres ist aber die Ausnahme.

Das ist mit Blick auf den Gedanken der Teilhabe des Wahlvolkes an der Organisation der Wahl als dem Grundakt demokratischer Legitimation konsequent. Es übersieht aber, dass die Frage, ob ein Wahlvorschlag die gesetzlichen Anforderungen erfüllt, hochkomplex ist. Dies zeigt sich etwa, wenn das Bundeswahlgesetz verlangt, dass die Bewerber*innen in einer Parteiversammlung in geheimer Wahl gewählt werden, jeder stimmberechtigte Teilnehmer dabei vorschlagsberechtigt sein muss und alle Bewerber*innen die Gelegenheit zur Vorstellung in angemessener Zeit haben müssen (§ 21 Abs. 1 und Abs. 3 i.V.m. § 27 Abs. 5 BWahlG).9) Auch § 21 Abs. 5 BWahlG bestimmt nur scheinbar trivial: „Das Nähere regeln die Parteien durch ihre Satzungen.“ Dahinter verbirgt sich die anspruchsvolle Frage, wie weit diese Freiheit im Einzelnen reicht und wann eine Parteisatzung oder ihre Anwendung den „Kernbestand an Verfahrensgrundsätzen verletzen, ohne den ein Kandidatenvorschlag schlechterdings nicht Grundlage eines demokratischen Wahlvorgangs sein kann“. In ihr scheint zugleich die besondere Stellung der politischen Parteien zwischen Verfassungsrecht, Parteienrecht und allgemeinem Vereinsrecht auf.

Erschwert wird die Aufgabe der Kreis- und Landeswahlausschüsse dadurch, dass sie „am 58. Tag“ vor der Wahl entscheiden (§ 26 Abs. 1, § 28 Abs. 1 BWahlG). Für eine Verschiebung ist ebenso wenig Raum wie für eine Aufteilung auf mehrere Termine. Dies schränkt die Möglichkeit zur Sachverhaltsaufklärung und Rechtsprüfung erheblich ein. In der Folge kommt der Vorprüfung durch den Wahlleiter wesentliche Bedeutung zu (§ 25 i.V.m. § 27 Abs. 5 BWahlG i.V.m. §§ 35, 40 BWO). Sie soll verhindern, dass die Zulassung an behebbaren Mängeln scheitert, und bereitet die Entscheidung der Wahlausschüsse vor. Sie darf ihr aber nicht vorgreifen, zumal sie selbst nicht dem Öffentlichkeitsgrundsatz unterliegt. In der Praxis dürfte die Einschätzung des Wahlleiters den Ausgang des Verfahrens aber entscheidend prägen. Dies gilt auch für die Entscheidung des Landes- oder Bundeswahlausschusses im Beschwerdeverfahren. Diese muss spätestens am 52. Tag vor der Wahl und damit nur sechs Tage nach der angegriffenen Entscheidung getroffen werden (§ 26 Abs. 2 Satz 5, § 28 Abs. 2 Satz 5 BWahlG); in der Regel findet eine einzige Sitzung am letztmöglichen Termin statt.10)

Der enge zeitliche Rahmen erklärt auch, warum die Arbeit der Wahlausschüsse nur zurückhaltend reglementiert ist. So sind sie ohne Rücksicht auf die Zahl der erschienenen Beisitzer*innen beschlussfähig; diese „sollen“ vor der Sitzung Gelegenheit erhalten, die zu beratenden Unterlagen zur Kenntnis zu nehmen. Sofern die erschienenen Beteiligten in der Beschwerdeverhandlung zu hören sind (§ 26 Abs. 2 Satz 4, § 28 Abs. 2 Satz 4 BWahlG; vgl. auch §§ 36 ff. BWO), wirft der Umgang damit in der Praxis zum Teil Zweifel auf, etwa wenn die Beteiligten sich zu den Rechtsfragen erst äußern können, wenn die Meinungsbildung im Ausschuss weitgehend abgeschlossen ist.

Die Beschlussfassung erfolgt mit Stimmenmehrheit; bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag. Dabei zeigt sich ein auffälliger Unterschied zur Entscheidung des Bundeswahlausschusses über die Anerkennung einer Vereinigung als Partei. Für deren Ablehnung ist eine Zweidrittelmehrheit der erschienenen Mitglieder erforderlich (§ 18 Abs. 4 Nr. 4 BWahlG). Hintergrund ist der Gedanke, die Wähler*innen im Zweifel selbst entscheiden zu lassen. Dieser gilt auch für die Zulassung von Wahlvorschlägen; im Zweifel soll eine Entscheidung für den Wahlvorschlagsträger fallen.