Offener Brief an den Deutschen Bundestag
Der Bundestag hat derzeit 709 Mitglieder, 111 mehr als das Bundeswahlgesetz normalerweise vorsieht. Nach der nächsten Wahl könnten es sogar über 800 Abgeordnete sein. Aufgrund eines Wandels der Parteienlandschaft haben – so wie das Wahlrecht derzeit ausgestaltet ist – Überhangmandate und die 2013 eingeführten entsprechenden Ausgleichsmandate in einer noch nie da gewesenen Größenordnung zugenommen. Zugleich hat das Wahlrecht als wichtigste demokratische Äußerungsform paradoxerweise einen geradezu entdemokratisierenden Effekt: Es ist derart kompliziert geworden, dass kaum noch ein Wähler versteht, was seine beiden Stimmen letztlich bewirken.
Die gewaltige Übergröße des Bundestags beeinträchtigt seine Funktionen und bewirkt unnötige Zusatzkosten von vielen Millionen Euro.
Der Bundestag sollte deshalb das Bundeswahlgesetz unverzüglich vereinfachen und an die neuen Gegebenheiten anpassen, sodass die Zahl der Abgeordneten bei der nächsten Wahl auf die Normalgröße von 598 zurückgeführt wird. Vorschläge für eine solche Reform, die übrigens auch ohne die (aufwändige) Vergrößerung der Wahlkreise möglich ist, liegen auf dem Tisch.
Das verlangt Einschränkungen bei Abgeordneten aller Parlamentsparteien. Im Interesse der Handlungs- und Reformfähigkeit des Bundestags müssen sie aber in Kauf genommen werden.
In Sorge um das Ansehen der Demokratie appellieren wir deshalb an den Deutschen Bundestag, die Reform des Bundeswahlgesetzes alsbald in Angriff zu nehmen. Die Zeit drängt. Auf keinen Fall darf der Eindruck entstehen, viele Abgeordnete würden die dringend nötigen Änderungen verzögern, weil das eigene Hemd ihnen wichtiger sei als der Gemeinwohlrock. Das würde das Vertrauen der Menschen in unsere Demokratie schwer erschüttern.
Ralf Alleweldt (Oranienburg), Hans Herbert von Arnim (Speyer), Ulrich Battis (HU Berlin), Hartmut Bauer (Potsdam), Joachim Becker (HU Berlin), Wilfried Berg (Bayreuth), Herbert Bethge (Passau), Christian Bickenbach (Potsdam), Dieter Birk (Münster), Alexander Blankenagel (HU Berlin), Eberhard Bohne (Speyer), Michael Bothe (Frankfurt a. M.), Peter Friedrich Bultmann (HU Berlin), Claus-Dieter Classen (Greifswald), Christian von Coelln (Köln), Erhard Denninger (Frankfurt a. M.), Lothar Determann (FU Berlin), Steffen Detterbeck (Marburg), Dieter Dörr (Mainz), Dirk Ehlers (Münster), Angela Faber (Münster), Dagmar Felix (Hamburg), Andreas Fischer-Lescano (Bremen), Götz Frank (Oldenburg), Jochen Abr. Frowein (Heidelberg), Hans-Ullrich Gallwas (München), Helmut Goerlich (Leipzig), Ludwig Gramlich (Chemnitz-Zwickau), Kay Hailbronner (Konstanz), Bernd J. Hartmann (Osnabrück), Wolff Heintschel von Heinegg (Frankfurt O.), Reinhard Hendler (Trier), Georg Hermes (Frankfurt a. M.), Rainer Hofmann (Frankfurt a. M.), Ulrich Hufeld (HSU BW Hamburg), Friedhelm Hufen (Mainz), Monika Jachmann-Michel (München), Albert Janssen (Hannover), Ulrich Karpen (Hamburg), Michael Kilian (Halle-Wittenberg), Uwe Kischel (Greifswald), Eckart Klein (Potsdam), Franz-Ludwig Knemeyer (Würzburg), Klaus König (Speyer), Jörg-Detlef Kühne (Hannover), Herbert Küpper (Regensburg), Silke Ruth Laskowski (Kassel), Joachim Lege (Greifswald), Anna Leisner-Egensperger (Jena), Josef Franz Lindner (Augsburg), Otto Luchterhandt (Hamburg), Ute Mager (Heidelberg), Nele Matz-Lück (Kiel), Hartmut Maurer (Konstanz), Detlef Merten (Speyer), Hans Meyer (HU Berlin), Gerd Morgenthaler (Siegen), Stefan Muckel (Köln), Ralf Müller-Terpitz (Mannheim), Dietrich Murswiek (Freiburg), Reinhard Mußgnug (Heidelberg), Volker Neumann (HU Berlin), Janbernd Oebbecke (Münster), Franz-Joseph Peine (Frankfurt O.), Christian Graf von Pestalozza (FU Berlin), Niels Petersen (Münster), Johann-Christian Pielow (Bochum), Bodo Pieroth (Münster), Ulrich K. Preuß (FU Berlin), Ekkehart Reimer (Heidelberg), Georg Ress (Saarbrücken), Eibe Riedel (Mannheim), Alfred Rinken (Bremen), Helge Rossen-Stadtfeld (UBW München), Matthias Rossi (Augsburg), Jochen Rozek (Leipzig), Edin Sarcevic (Leipzig), Karl Albrecht Schachtschneider (Erlangen-Nürnberg), Arno Scherzberg (Erfurt), Eberhard Schmidt-Aßmann (Halle-Wittenberg), Roman Schmidt-Radefeldt (FU Berlin), Burkhard Schöbener (Köln), Christoph Schönberger (Konstanz), Meinhard Schröder (Trier), Roman Seer (Bochum), Hartmut Söhn (Passau), Katrin Stein (HfPV Wiesbaden), Udo Steiner (Regensburg), Rolf Stober (Hamburg), Michael Stolleis (Frankfurt a. M.), Christian Tomuschat (HU Berlin), Emanuel V. Towfigh (EBS Wiesbaden), Christoph Vedder (Augsburg), Ulrich Vosgerau (Köln), Rainer Wahl (Freiburg), Bernhard W. Wegener (Erlangen-Nürnberg), Wolfgang Weiß (Speyer), Mattias Wendel (Bielefeld), Rudolf Wendt (Saarbrücken), Rainer Wernsmann (Passau), Martin Will (EBS Wiesbaden), Gerd Winter (Bremen)
Ob dieser eigenartige Aufruf, der ein vermeintlich neutrales Gemeinwohl gegen eigennützige Parteien in Anschlag bringt, seinerseits “das Vertrauen der Menschen in unsere Demokratie” erhöht?
Selbst wenn die “gewaltige Ãœbergröße” für sich genommen die Funktionsfähigkeit des Parlaments mindern würde, was ja empirisch alles Andere als belegt ist: Die Größe des Bundestags zum wichtigsten oder gar einzigen Kriterium für die anstehende Wahlrechtsreform zu erklären, ist doch arg vereinfachend.
Es gibt für ein verfassungskonformes und zweckmäßiges Wahlrecht viele Gesichtspunkte und Interessen zu berücksichtigen, die Debatte ist kompliziert. Der Aufruf erwähnt immerhin die Verständlichkeit (nebenbei: vor dem Ausgleich der Ãœberhangmandate war es keineswegs einfacher, die Funktion der Erststimme zu erklären…), die meisten relevanten Gesichtspunkte dagegen gar nicht. Stattdessen bemüht man peinlicherweise die “unnötigen Zusatzkosten”, ein völlig unsachliches Lieblingsargument aller Demokratiegegner.
Selbst wenn “die Zeit drängt”: Etwas mehr Komplexität hätte es schon sein dürfen, auch im Interesse des Ansehens der Staatsrechtswissenschaft übrigens.
598 Abgeordnete sind nicht die „Normalgröße“, sondern die Mindestgröße.
Die Frage ist doch, ob nicht in Zeiten digitaler Medien und Kommunikation eine Höchstabgeordnetenzahl von 300-400 Abgeordneten ausreichend ist und in der Verfassung verankert werden sollte. In fast keinem anderen demokratischen Land gibt es derart viele Abgeordnete im nationalen Parlament je Einwohner wie in Deutschland.
“In fast keinem anderen demokratischen Land gibt es derart viele Abgeordnete im nationalen Parlament je Einwohner wie in Deutschland”
598 wären pro Million dann eine Quote von 7.2, der aktuelle Bundestag mit seinen 709 Sitzen entspricht 8.5.
Vergleichen wir doch mal mit anderen EU-Staaten, der Schweiz und dem EWR.
AUT (183 Sitze auf 8.9 Mio EW): 20.6
CH (200/8.5): 23.5
UK (650/66): 9.8
SWE (349/10): 34.2
DEN (179/5.8): 30.8
BEL (150/11.3): 13.3
LUX (60/0.6): 100
ITA (630/60): 10.5
NOR (169/5.3): 31.9
FIN (200/5.5): 36.4
CZ (200/10.6): 18.9
SK (150/5.4): 27.8
SLO (90/2): 45
HUN (199/9.8): 20.3
POL (460/38.4): 11.9
ROM (329/19.5): 16.9
BUL (240/7.1): 33.8
MT (>65/0.4): 163
CRO (151/4.2): 36
FL (25/0.038): 657.9
ISL (63/0.36): 175
GRE (300/10.7): 28
EST (101/1.3): 77.7
LV (100/1.9): 52.6
LT (141/2.8): 50.4
CY (56/0.8): 70
IRL (158/4.8): 32.9
POR (230/10.6): 21.7
Also: In EU + EWR + CH haben nur Spanien (350/4: 7.4) und Frankreich (577/67: 8.6) eine zu Deutschland vergleichbare Rate, und nur die Niederlande mit (75/17.3) 4.3 liegen niedriger. Alle anderen Staaten liegen teils wesentlich höher.
“FL (25/0.038): 657.9”
Der ist gut: Fürstentum Lichtenstein!
Liechtenstein ist auch nicht wirklich weniger demokratisch als UK.
Rechtsvergleichung at its best – eine sehr bunte Schar, die sich zu diesem Aufruf zusammen gefunden hat … !
Eine, als selbstverständlich dargestellte, nicht weiter argumentativ ausgeführte Prämisse des Briefs geht fehl: Das Kostenargument.
Ob “unnötige Zusatzkosten” durch die größere Mitgliederzahl des Bundestags entstehen, ist bisher nicht belegt.
Senkt man die Zahl der Abgeordneten, muss man fast zwangsläufig die Zahl der hochqualifizierten Mitarbeiter erhöhen. Schließich besteht die Aufgabe eines Abgeordneten nicht nur darin, gelegentlich die Hand zu heben. Die vielen Arbeitstexte müssen einerseits von jemandem erstellt werden, und andererseits auch von jemandem gelesen und bearbeitet werden.
Und warum ausgerechnet die Kosten ein tragendes Argument für eine Begrenzung der Mitgliederzahl sein sollen, erläutern die Autoren des Briefs auch nicht. Gemessen am Gesamthaushalt dürfte die Einsparung, falls sie überhaupt erzielt wird, eher homöopathisch sein
“Der Bundestag sollte deshalb das Bundeswahlgesetz unverzüglich vereinfachen und an die neuen Gegebenheiten anpassen, sodass die Zahl der Abgeordneten bei der nächsten Wahl auf die Normalgröße von 598 zurückgeführt wird. Vorschläge für eine solche Reform, die übrigens auch ohne die (aufwändige) Vergrößerung der Wahlkreise möglich ist, liegen auf dem Tisch.”
Der einzige mir bekannte Vorschlag, der eine Fixierung auf eine bestimmte Mitgliederzahl zuverlässig erreicht, ist ein Grabenwahlrecht, also eine partielle (hälftige) Ablösung des Verhältnis- durch ein Mehrheitswahlrecht. Ich persönlich nähme auch noch eine größere Mitgliederzahl gerne in Kauf, wenn das der Preis sein sollte, um eine Mehrheitswahl mit ihren demokratischen Defiziten und Dysfunktionalitäten zu vermeiden, wie wir sie gerade in anderen Ländern hervorragend beobachten können.
Wenn noch ein anderer, mir unbekannter Vorschlag auf dem Tisch liegen sollte, dann fände ich es schön, ihn in dem Aufruf zu benennen.
Sehr geehrter Herr Gosman, den einzigen Vorschlag, der die im Aufruf oben genannten Kriterien erfüllt, hat die AfD-Fraktion in die Parlamentarische Arbeitsgruppe Wahlrechtsreform eingebracht.
Es fragt sich, warum er nicht direkt genannt wird.
Sie finden das Modell hier:
http://www.albrecht-glaser.de/index.php?option=com_content&view=article&id=87:reform-der-wahl-zum-deutschen-bundestag-freie-listenwahl-und-deckelung-der-zahl-der-direktmandate&catid=84&Itemid=487
Die Frage ist, auf welchem Tisch die ganzen Vorschläge liegen, aber es gibt viele Möglichkeiten mit 299 Wahlkreisen. Hier z.B. biproportionale Verteilung auf 2er-Wahlkreise: https://twitter.com/mq86mq/status/1113858025540993030
Das Modell der Streichung der schwächsten Wahlkreissieger, dass die AfD für sich entdeckt hat, sollte man nun wirklich vermeiden. Jeder Wahlkreis ohne Abgeordneten ist einer zu viel.
Graben ist eine Option, aber nicht mehrheitsfähig. Vergrößerung der Wahlkreise und dadurch Senkung der Wahlkreiszahl ist auch eher unschön, da diese jetzt schon sehr groÃ