Pandemiepolitik On Fire?
Anmerkungen zu Franz Mayer
Franz Mayer hat auf diesem Blog das erste Gesetzgebungsprojekt der bislang nur verlobten Ampel-Parteien durchaus rustikal kritisiert. Mit dem Rückbau von Maßnahmen im Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes werfe die Feuerwehr „mitten im Einsatz Teile ihrer Ausrüstung ins Feuer“. Wer sich, wie ich, im Kreis von Franz Mayer wissenschaftlich meist gut aufgehoben fühlt, ihn aus vollem Herzen zum Kreis der Lieblingskollegen zählt und zudem an effektiver Brandbekämpfung interessiert ist, muss zunächst beeindruckt sein, zumal es die schnittige Analogie „eines Verfassungsrechtlers“ (Ingo Zamperoni) sogar bis in die Anmoderation eines Interviews mit Christian Lindner in den freitäglichen Tagesthemen geschafft hat. Scheint also alles zu passen. Dennoch würde ich der rot-grün-gelben Feuerwache, lieber Franz, gerne einen gemeinsamen Kurzbesuch abstatten. Dort würden wir gemeinsam nicht nur neue, bessere Ausrüstung vorfinden, die aufgrund der Erfahrungen mit der Brandbekämpfung in der Vergangenheit angeschafft worden ist, sondern auch die alte Ausrüstung, die mitnichten verbrannt wurde, sondern griffbereit in den Feuerwehrfahrzeugen liegt:
1.
Die Lagebeschreibung ist ja zutreffend: Es brennt, wir haben mittlerweile wieder eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“, wie sie § 5 Abs. 1 S. 6 IfSG definiert. Der Bundestag muss die „Lage“ alle drei Monate feststellen, sonst gilt sie als aufgehoben (§ 5 Abs. 1 S. 3 IfSG). Er muss also regelmäßig prüfen, ob die öffentliche Gesundheit gefährdet ist. Das war sie weder am 4. 6. 2021 noch am 25. 8. 2021; der Bundestag hätte die Feststellung der Lage daher an diesen Tagen nicht nur nicht verlängern dürfen, sondern er hätte sie nach § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG sogar aufheben müssen. Hat er aber nicht: Die Feststellung wurde schon deshalb verlängert, weil man sonst noch nicht einmal mehr eine Maskenpflicht hätte anordnen können (vgl. § 28a Abs. 1 Nr. 2 IfSG). Während man die „epidemische Lage“ also seinerzeit kontrafaktisch feststellen musste, wird sie nun kontrafaktisch nicht mehr verlängert. Wenn sich der Bundestag konsequent an den Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 S. 6 IfSG orientieren würde, müsste es also zu einem Ping-Pong von winterlichen Feststellungs- und sommerlichen Aufhebungsbeschlüssen kommen. Das zeigt aber doch nur, dass die ganze Konstruktion absurd und es auch politisch kaum kommunizierbar ist, dass es einen Unterschied zwischen der Epidemie im epidemiologischen Sinne und der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ im Rechtssinne gibt. Seit wann muss der Bundestag feststellen, dass von ihm beschlossene Gesetze auch wirklich angewendet werden? Warum braucht man parlamentarische Feststellungsbeschlüsse zur exekutiven Gefahrenabwehr? Vermutlich wollte man durch den regelmäßig zu aktualisierenden Feststellungsbeschluss die unzureichende parlamentsgesetzliche Regelungsdichte für die Lockdown-Maßnahmen kompensieren – was aber nicht funktionieren kann, weil auch der Bundestag nicht über verfassungsrechtliche Bindungen disponieren darf. Wer zudem an effektiver Gefahrenabwehr interessiert ist, kann Schutzmaßnahmen nicht davon abhängig machen, dass erst ein formeller Beschluss darüber gefasst werden, dass eine Gefahr vorliegt, bevor sie bekämpft werden kann. Um also im Bild von Franz Mayer zu bleiben: Schon der Schlüssel zum Feuerwehrhaus, in dem sich die Ausrüstung befindet, klemmt. Es ist daher schon aus Gründen der effektiven Gefahrenabwehr nachvollziehbar, die sinnfreie Konstruktion der „epidemischen Lage“ kaltzustellen und einfach effektive Gefahrenabwehr zu betreiben.
2.
Es gibt aber auch einen verfassungsrechtlichen Grund dafür, nicht mehr mit dem Konstrukt der „epidemischen Lage“ zu arbeiten. Ihre Ausrufung löst nämlich auch die im rechtswissenschaftlichen Schrifttum vielfach kritisierte Befugnis des Bundesministeriums für Gesundheit aus, Rechtsverordnungen „in Abweichung von bestehenden gesetzlichen Vorgaben“ (§ 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 IfSG) zu erlassen. Wenn die „Lage“ jetzt ausläuft, wird auch dieser fragwürdigen und in der Sache übrigens vollkommen unnötigen Gewaltenverschiebung ein Ende gesetzt. Die Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen auf die Exekutive schwächte vor allem die Opposition im Bundestag, die im ministeriellen Entscheidungsverfahren anders als im Bundestag keine Teilhaberechte hat. Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass die alte Opposition als neue Mehrheit mit dem Auslaufenlassen der Lage ein Zeichen setzt, die neue Opposition stärker parlamentarisch zu beteiligen, als die alte Mehrheit das mit ihr in der vergangenen Legislaturperiode getan hat? Wer sich demgegenüber an „intransparenten Geheimverhandlungen in einem Parteien-Arkanum“ (Franz Mayer) stößt, sollte wenigstens erklären, ob er denn die arkanen und erratischen Bund-Länder-Runden, in denen (u. a. von einem Candy Crush spielenden Ministerpräsidenten) die Lockdown-Maßnahmen beschlossen wurden, für ein Hochamt der Demokratie hält. Kommunikation und Teilhabe sind keine schlechten Voraussetzungen dafür, dass die Menschen auf die immanente Vernunft politischer Entscheidungen vertrauen.
3.
Selbst wenn man nun aber trotzdem aus irgendwelchen fragwürdigen politisch-symbolischen Erwägungen meint, einen Alarmtopos wie die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ zu benötigen, stimmt die „Ausrüstung-ins-Feuer“-These dennoch nicht. Franz Mayer schreibt, es gebe „keinen rechtlichen Grund, mitten in der sich wieder dramatisch verschärfenden epidemischen Lage Ermächtigungsgrundlagen für Maßnahmen zu streichen“ und warnt: „Dass man übereilt Maßnahmen im Gesetz streicht, könnte man zu einem späteren Zeitpunkt bitter bereuen, ein erneutes Gesetzgebungsverfahren braucht nun einmal Zeit.“
Bezogen auf das Auslaufenlassen der „epidemischen Lage“ trifft das rechtlich nicht zu. § 28a Abs. 1 IfSG wird ja nicht gestrichen. Um seinen Maßnahmenkatalog wieder freizuschalten, muss der Bundestag lediglich die „epidemische Lage“ feststellen, und das dauert nicht länger als der Erlass eines automatisierten Verwaltungsakts. Ein neuerliches Gesetzgebungsverfahren ist nicht erforderlich, die alte Ausrüstung ist noch da.
Das Wehklagen, der Bund nehme den Ländern durch die Streichung von § 28a Abs. 7 IfSG die notwendigen Instrumente zur Pandemiebekämpfung aus der Hand, verkennt hingegen die politischen Gegebenheiten. Auf der Konferenz der Ministerpräsident:innen am 22.10.2021 haben diese nämlich unisono beschlossen, keinen Gebrauch von der Möglichkeit zu machen, den Maßnahmenkatalog des § 28a Abs. 1 IfSG nach Auslaufen der „epidemischen Lage“ in eigener Verantwortung zur Anwendung zu bringen. Gewünscht wurde, obwohl das Ansinnen der Ampel, die „epidemische Lage“ auslaufen zu lassen, bereits bekannt war, eine bundeseinheitliche Ermächtigungsgrundlage. Das war auch durchaus nachvollziehbar, denn der bisherige § 28a Abs. 7 IfSG fordert eine Entscheidung des jeweiligen Landesparlaments, und die war ausgerechnet in den mittlerweile pink eingefärbten Ländern mit geringen Impfquoten durchaus unsicher. Also prügelt man politisch lieber auf den Bund ein als sich, wie in Bayern, mit einem schwierigen Koalitionspartner auf Landesebene herumzuschlagen. Hier werden also einige Krokodilstränen vergossen, mit denen man einen Brand sicher nicht löschen kann.
4.
Nun zur Ausrüstung der Feuerwehr: Der Gesetzentwurf schafft – endlich! – eine solide parlamentsgesetzliche Rechtsgrundlage für flächendeckende 2G-Regelungen (unter Einschluss von 2G plus!) durch die Länder. Diese gab es bislang nicht, weil die Frage der von Ungeimpften ausgehenden Gefahren in eine toxische Diskriminierungsdebatte abgeglitten war und die alte Parlamentsmehrheit daher nicht den Mumm hatte, schon im Sommer eine entsprechende Rechtsgrundlage zu schaffen. So sind viele Monate ohne eine wirklich zielgenaue Gefahrenabwehr vergangen, die obligatorische 2G-Regelungen ermöglicht hätten. Es gibt also nun eine bessere und zielgenauere Ausrüstung für die Pandemiebekämpfung.
Richtig ist, dass bestimmte in § 28a Abs. 1 IfSG geregelte Instrumente kaltgestellt sind, solange die „epidemische Lage“ nicht wieder festgestellt wird. Aber weder Franz Mayer noch irgendjemand sagt, welches von diesen Instrumenten denn nun jetzt unbedingt zum Einsatz kommen muss, um den Brand zu löschen. Derzeit grassiert wieder die ebenfalls inzidenzabhängige „Tut-doch-irgendwas“-Stimmung, die keine einzige Infektion verhindert und keinen einzigen Impfunwilligen zum Nachdenken bringt. Die jetzt ausgeschlossenen Ausgangsbeschränkungen sind jedenfalls unverhältnismäßig, wenn Kontaktbeschränkungen als milderes Mittel in Betracht kommen; das folgt aus den Randnummern 77ff. des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, die Franz Mayer nicht gewürdigt hat.
Selbstverständlich muss im Gesetzgebungsverfahren in der kommenden Woche geprüft werden, wo konkret der Katalog des § 28a Abs. 7 IfSG noch erweitert werden kann. Sinnvoll wäre etwa eine Regelung zu (derzeit etwa in Baden-Württemberg vorgesehenen) Kontaktbeschränkungen jedenfalls für Ungeimpfte. Eine solche Regelung könnte das für den öffentlichen Raum geltende 2G-Modell im privaten Umfeld sinnvoll ergänzen, wenn es auch nicht ganz einfach sein dürfte, sie zu kontrollieren.
Aber was fehlt sonst noch? In der Tat: Schulen und Universitäten können nach der Gesetzesänderung nicht mehr flächendeckend geschlossen werden. Aber wären solche und ähnliche Lockdown-Maßnahmen – abgesehen von den desolaten Folgen – wirklich noch verhältnismäßig, wenn 2G-Regelungen zur Verfügung stehen, wie sie jetzt durch die FAU Erlangen angekündigt worden sind? Will man wieder Millionen geimpfte Schüler:innen und Studierende nach Hause schicken, nur weil einige impfunwillige Mitbürger:innen im Biologieunterricht nicht richtig aufgepasst haben?
Man wünscht sich, der Autor hätte seine viro-epidemiologischen Hausaufgaben gemacht, anstatt Spekulationen über das schulische Betragen seiner Mitbürger anzustellen – ich zog das Schwätzen dem Schlafen immer vor.
Derweil besteht längst Einvernehmen zwischen Studienlage, Expertenmeinung und Realität, dass eine 2G-Regelung schlechthin ungeeignet ist, da:
1. substanzielle Zahlen Impfdurchbrüche trotz der mangelnden Testung der Geimpften die politische Worthülse einer “Pandemie der Ungeimpften” als eine Solche entlarven.
2. von diesen Impfdurchbrüchen Sekundärinfektionen ausgehen, da der Übertragungsschutz, den der Entwickler noch dieses Frühjahr in der Bildzeitung verlautbarte wohl mehr als löchrig ist und derzeitgen Erkenntnissen zufolge nach wenigen Monaten sistiert.
3. auch der Schutz vor den vielbemühten schweren Verläufen sich als weit geringer darstellt, wie ursprünglich angepriesen wurde, womit das Belastungsproblem des Gesundheitswesens nicht gelöst wurde und auch ein Solidaritätsgedanke hinsichtlich der “Schonung der Krankenhäuser” sich nur eingeschränkt entfaltet.*
In der Zusammenschau fragt man sich, warum der Autor die 2G-Regelung mit einem solchen Überschwang begrüßt und findet die Antwort in einem Selbstzitat, dass sich wesentlich auf eine Äußerung des Robert-Koch-Instituts stützt, die inzwischen zurückgenommen und durch ausweichende Angaben ersetzt wurde, die bei bereits minimal kritischer Lesart das Gegenteil konzedieren. Am Ende der Lektüre wird man dann fündig – die Ungeimpften seien wohl ungebildet, faul und dumm. Es ist eben tatsächlich eine toxische Debatte, getragen von Realitätsverleugnung und dem moralischen Überlegenheitsgefühl der Geimpften.
Man kann dann am Ende der Lektüre nur feststellen: dass die Pandemie kriegt jeden klein – die einen im Herzen, die anderen im Geiste und manche in Beidem.
* Der Vollständigkeit halber sei hier noch erwähnt, dass die begonnenen Boosterimpfungen dies nicht notwendigerweise ändern werden – hierzu existieren mal wieder keine vernünftigen klinischen Daten.
Und was folgt dann aus Ihrer Auffassung, dass Impfen letztlich nichts bringt, sehr geehrter Herr Michaelis?
Es mag durchaus sein, dass sich derzeit eine geringe Reduktion der Last auf die Krankenversorgung durch die Impfung ergibt. Sie ist nur, und das ist eine Konstante der Medizingeschichte der vergangenen vier Jahrzehnte, eben nicht so beeindruckend groß wie zuerst gedacht.
Derzeit gibt es ein erhebliches Defizit bzgl. der Erhebung der Impfquote auf Intensiv- und Normalstation, insofern sind hier leider wieder Mal keine verlässlichen Daten als Einschätzungsgrundlage vorhanden.
Es zeigt aber den systematischen Fehler der Pandemiepolitik: mangelnde Risikobereitschaft der Bevölkerung sowie ein positiv missverstandenes, verabsolutiertes Recht auf Leben soll nun durch eine technische Lösung kompensie